Lacans Schemata
Die Spaltung von Auge und Blick am Beispiel des Films Standard Operating Procedure
Der „Taxifahrer“, Foto von Sabrina Harman, Abu Ghraib 2003
Errol Morris untersucht in seinem Dokumentarfilm Standard Operating Procedure (2008) die Funktion der Fotografien im Abu-Ghraib-Folterskandal.
Lacan hat in Seminar 11 von 1964, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, eine psychoanalytische Konzeption des Sehens vorgestellt und durch Diagramme illustriert: das Schema des Auges, das Schema des Blicks und das Schema der Verschränkung von Auge und Blick (vgl. diesen Blogbeitrag).
Was sieht man, wenn man den Film und die Fotos durch die Lacan-Brille betrachtet, wenn man sie mithilfe seiner Schemata beobachtet?1
Hintergrund
Der Skandal
Der Abu-Ghraib-Folterskandal begann im April 2004 in den USA mit einer CBS-Nachrichtensendung und mit einem Artikel von Seymour Hersh in der Zeitschrift The New Yorker. Die Beiträge stützten sich auf den Taguba Report, einen internen Bericht der US-Armee, erstellt unter der Leitung von Generalmajor Antonio Taguba. Im Mittelpunkt standen Fotos, die die Misshandlung und die Folter von Gefangenen zeigen und die außerdem den Tod eines Häftlings dokumentieren. Die Fotos waren Ende 2003 im Gefängniskomplex von Abu Ghraib im Irak aufgenommen worden, von Militärpolizisten, die dort beschäftigt waren.
Abu Ghraib war 2003 das Vernehmungszentrum der USA im Irak. Die Vernehmungen wurden vom Militärischen Geheimdienst (MI), vom CIA und von weiteren nicht-militärischen Regierungsstellen durchgeführt, außerdem von Privatfirmen im Regierungsauftrag. Bei diesen Verhören wurde gefoltert. Von den Vernehmungen sind keine Fotos oder Filme bekanntgeworden; das Zentrum der Folterpraxis im Irak wurde nie zum Skandal.
Die Fotografien, die den Skandal auslösten, beschränken sich auf die Aktivitäten von Militärpolizisten. Im Irak stellte die Militärpolizei die Vollzugsbeamten für die Gefängnisse der USA. In Abu Ghraib bestand die Aufgabe der Militärpolizisten auch darin, die Häftlinge dazu zu bringen, bei den Vernehmungen „zu kooperieren“, wie es genannt wurde. Die Vorbereitung auf die Vernehmungen wurde von den Soldaten als softening up bezeichnet, als „Aufweichen“ oder „Weichklopfen“. Dabei war ihnen alles erlaubt, mit Ausnahme des Tötens.
Der Film
Standard Operating Procedure zeigt vor allem Interviews mit Militärpolizisten, die an den Vorgängen in Abu Ghraib beteiligt waren, dazu weitere Interviews: mit einem militärischen und mit einem zivilen Vernehmer, mit einem Polizisten der Militärischen Kriminalpolizei, der die Fotos untersucht hatte, und mit der damaligen Leiterin der Gefängnisse im Irak.
Im Film sieht man zahlreiche Fotos, die von Militärpolizisten in Abu Ghraib aufgenommen wurden, außerdem Ausschnitte aus Briefen, die eine Militärpolizistin zum Zeitpunkt der Aufnahmen an ihre Ehefrau schrieb, dazu einige Schnipsel aus den Wachbüchern des Gefängnisses. Neben diesen dokumentarischen Elementen enthält der Film nachgestellte Spielszenen. Der Titel, Standard Operating Procedure, bezieht sich auf den binären Code des Rechts, auf den Gegensatz recht/unrecht; er meint „das übliche Verfahren“ im Gegensatz zur „kriminellen Handlung“.2
*
Die im Folgenden wiedergegebenen Fotos wurden zwischen Oktober und Dezember 2003 von Militärpolizisten in Abu Ghraib mit Digitalkameras aufgenommen, vor allem von Ivan Frederick, Charles Graner und Sabrina Harman. Ich habe sie als Screenshots aus dem Film übernommen.
Die eingerückten Zitate stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus den Interviews und Briefstellen im Film. Die Übersetzung ist von mir.
Das Auge
Das Schema der Struktur des Auges
Unter der Funktion des Auges versteht Lacan das normale bewusste Sehen.
Er veranschaulicht die Struktur dieses Sehens durch das folgende Diagramm:
Man liest die Zeichnung am besten von rechts nach links. Die rechte Seite steht für das sehende Subjekt, die linke für das, was von ihm gesehen wird.Der Geometralpunkt ist der Standort des Sehenden. Der Ausdruck „geometral“ deutet an, dass diese Form des Sehens sich auf Abstände im Raum bezieht; Lacan bezeichnet die Funktion des Auges deshalb auch als „geometrales Sehen“. Der Geometralpunkt heißt bei ihm auch „Subjekt der Vorstellung“ (sujet de la représentation), im Sinne von: das Subjekt, das die Vorstellungen hat, die Repräsentationen, die Bilder.
Das Bild (image) ist ein perspektivisches Bild, das auf den Geometralpunkt hin orientiert ist. Das kann das Bild auf der Netzhaut sein, aber auch ein gemaltes oder fotografiertes Bild, das perspektivischen Charakter hat. Der Zusatz image hält fest, dass mit „Bild“ nicht das Wort tableau übersetzt wird, das man im zweiten Schema findet, dem des Blicks.
Das Objekt ist der dreidimensionale Gegenstand, der vom zweidimensionalen Bild (image) repräsentiert wird.
Sehen im Gefängnis
In einem Gefängnis hat das Wachpersonal unter anderem die Aufgabe, die Gefangenen zu beobachten, sie zu beaufsichtigen, sie im Auge zu behalten; der Freiheitsentzug vollzieht sich auch in der Dimension des Sehens. Die Möglichkeit, unbeobachtet zu sein, wird für die Insassen stark eingeschränkt. Die Machtverhältnisse im Gefängnis haben nicht zuletzt die Funktion, die Beobachtbarkeit der Häftlinge zu erhöhen.
Die Möglichkeit, die Gefangenen zu beobachten, wird durch die Architektur unterstützt. Die Zellen sind meist so gebaut, dass die Häftlinge von außen jederzeit betrachtet werden können, durch Gucklöcher („Spione“), durch Türfenster oder durch Gitter. Die Beleuchtung wird vom Wachpersonal kontrolliert. In der Regel sind die Zellen um ein System von Sichtachsen herum angeordnet. Die Gänge vor den Zellen können häufig von Balustraden aus eingesehen werden oder von einem zentralen Treppenhaus. Man könnte von einer geometralen Architektur sprechen, einer Bauweise, die Aufgabe hat, die Beobachtbarkeit der Gefangenen, ihrer Bewegungen im Raum, zu maximieren, etwa durch lange Flure; vgl. das folgende Foto aus Abu Ghraib (Bilder zum Vergrößern anklicken).
Auf der Grundlage ihrer Machtposition und des architektonischen Settings sieht der Wächter die Gefangenen. Er beobachtet sie in ihrer räumlichen Umgebung, in den Zellen, Fluren und Werkstätten, in den Duschräumen und auf dem Hof. Der Wächter sieht nicht nur die Gefangenen, sondern auch das übrige Wachpersonal, wie es mit den Häftlingen umgeht. Das, was er sieht, ist, in der Terminologie von Lacans Schema, das Bild (image); auch das Foto, das er aufnimmt, ist ein Bild.
Das wahrgenommene oder fotografierte Bild soll dem Wachpersonal einen Zugang zur Realität ermöglichen, zum wirklichen Gefangenen in seinem räumlichen Umfeld, in der Terminologie des Schemas: zum „Objekt“. Zwischen dem Objekt und dem Bild gibt es Entsprechungen: das Bild repräsentiert das Objekt. Zwischen dem Objekt und dem Bild liegt zugleich eine Kluft. Das Bild zeigt nur die Oberfläche des Objekts und diese nur vom Geometralpunkt aus. Derjenige Aspekt des Objekts, der im Bild erfasst wird, kann trügerisch sein. Ein Wächter kann nicht sehen, was die Häftlinge aktuell unter ihrer Kleidung verbergen, er kann nicht wahrnehmen, was sie tun, wenn er ihnen den Rücken zukehrt. Die Zweideutigkeit des fotografischen Bildes – dass es zugleich zeigt und verbirgt – steht im Mittelpunkt des Films von Errol Morris.
Die gesehenen oder fotografierten Bilder sind perspektivisch auf den Beobachter ausgerichtet, auf das Auge des Wächters oder auf seine Kamera, in Lacans Begrifflichkeit: auf den Geometralpunkt. Die Beziehungen zwischen dem Objekt, dem Bild und Standpunkt des Sehenden – dem Geometralpunkt – haben räumlichen Charakter. Wenn der Beobachter seine Position wechselt, verändert sich seine Beziehung zum Objekt und dadurch bekommt er ein anderes Bild. Der Geometralpunkt ist in Abu Ghraib kein fester Ort, von dem aus alles gesehen werden könnte; Benthams Projekt eines Panopticon ist nur selten realisiert worden. In Abu Ghraib können die Gefangenen, wie in den meisten Gefängnissen, von vielen Positionen aus betrachtet werden, und die Bewacher bewegen sich im Raum. Die Beobachtung erfolgt auf der Grundlage eines Systems von verstreuten und beweglichen Geometralpunkten.
Die Fotos
Sabrina Harman ist eine der Militärpolizistinnen, die in Abu Ghraib arbeiteten; ihr Dienstgrad ist Specialist, das ist, von unten gerechnet, die vierte Rangstufe. Sie schaut in eine Zelle und erblickt einen Gefangenen. Das, was sie sieht, ist in der Terminologie des Schemas ein image, ein Bild; umgangssprachlich: „das Bild, das sich ihr bietet“. Der Anblick überrascht sie. Sie holt ihre Kamera und macht die folgende Aufnahme:
Das Foto zeigt annäherungsweise das Bild, das sich zu diesem Zeitpunkt ihrem Auge bietet. Es zeigt einen räumlichen und zeitlichen Ausschnitt davon, mit geringerem Kontrastumfang und mit weniger Farben; vertikale Parallelen sind im Foto stärker perspektivisch verzerrt als sie dem Auge erscheinen, wie der Verlauf der Gitterstäbe zeigt.
Das Gesicht des Gefangenen ist für die Militärpolizistin nicht zu erkennen; durch die Unterhose wird es verdeckt. Aufgrund dieser Abdeckung gehört das Gesicht des Häftlings, in Lacans Terminologie, zum Objekt, aber nicht zum Bild.
Im gewöhnlichen Sprechen werden Bild und Objekt meist nicht unterschieden. Wenn ich sage: „Ich sah den Gefangenen“, meine ich zugleich den realen Gefangenen, das „Objekt“, und das, was ich von ihm sehe, das „Bild“. Bisweilen wird im Sprechen jedoch der Akzent auf den Sehvorgang gelegt und damit die Seite hervorgehoben, die Lacan als Bild bezeichnet.
Am Tag dieser Aufnahme schreibt Harman an ihre Ehefrau:
„20. Oktober 2003. Ich kann es nicht aus meinem Kopf kriegen. Ich geh runter und seh den ‚Taxifahrer‘ mit angelegten Handschellen auf dem Rücken, nackt, mit seiner Unterhose über dem Kopf und über dem Gesicht. Er sah aus wie Jesus Christus. Zuerst musste ich lachen, also ging ich los, schnappte mir die Kamera und machte ein Foto. Einer der Typen nahm meinen Schlagstock und fing an, seinen Schwanz zu ‚pieken‘. Okay, das war lustig. Dann traf mich der Schlag. Das ist eine Form von sexueller Belästigung. Ich machte mehr Fotos, jetzt um das ‚aufzuzeichnen‘, was hier vor sich geht. Nicht viele Leute wissen, dass dieser Scheiß hier los ist.“
Sie „fand“ den Taxifahrer. Damit akzentuiert sie die Seite des Objekts. „Er sah aus wie x“: er bot einen bestimmten Anblick. Das, was sie sieht, erinnert sie an den gekreuzigten Jesus, also an Bilder. Zwar wird auch damit das Bild nicht vom Objekt unterschieden, der Bildaspekt wird jedoch hervorgehoben.
Harman schreibt in ihrem Brief, dass sich das Ziel ihres Fotografierens noch am selben Tag veränderte. Ihr erstes Foto hatte die Aufgabe, eine Merkwürdigkeit festzuhalten, die sie komisch fand. Dann veränderte sich ihre Einstellung. Der Wendepunkt ist die sexuelle Belästigung des Gefangenen. Sie wird kritisch und nimmt Fotos mit dokumentarischem Charakter auf. Sie sollen belegen, dass die Behandlung der Gefangenen falsch ist und dass mit den Gefangenen anders umgegangen wird, als offiziell behauptet wird. Mit Lacans Schema kann man das so formulieren: beim ersten Foto geht es ihr vor allem um die Beziehung zwischen ihr selbst (als Geometralpunkt) und dem Bild; bei den späteren Fotos verschiebt sich der Akzent auf die Beziehung zwischen den Bildern und dem Objekt: die Bilder sollen so beschaffen sein, dass bestimmte rechtlich und medizinisch relevante Merkmale des Objekts möglichst präzise repräsentiert werden. Die Bilder dieses Typs haben forensischen Charakter.
Javal Davis war ebenfalls Militärpolizist in Abu Ghraib; er ist Sergeant, das ist, von unten gerechnet, die fünfte Rangstufe, ein Rang höher als „Specialist“. Im Interview sagt er:
„Als man vom Hauptteil des Gefängnisses kam und zu Block 1A, 1B kam, hatten sie da unten schon Geheimdienst-Häftlinge. Dann sah ich die Nacktheit. Und ich, ‚Hey, Sergeant, warum sind alle nackt?‘ ‚Hey, das ist der MI [Military Intelligence, Militärischer Geheimdienst], das macht der MI, das ist eine MI-Sache. Keine Ahnung.‘“
Davis sagt nicht „Da waren die nackten Gefangenen“, sondern „Dann sah ich die Nacktheit“. Er betont, dass sich ihm ein überraschender Anblick bot, er akzentuiert den Bildaspekt.
Eine weitere Militärpolizistin aus Abu Ghraib ist Lynndie England; ihr Dienstgrad ist Private First Class, die dritte Rangstufe. Sie sagt:
„Manchmal ging ich abends rüber, und da und da waren dann verschiedene Leute in Stresspositionen, die mussten auf Verpflegungskisten Kniebeugen machen oder den Flur hin- und herlaufen oder so was. Wir fanden das ungewöhnlich und eigenartig und falsch, aber als wir hinkamen, gehörte das schon dazu. Das sahen wir ja.“
England bezieht sich zunächst auf das „Objekt“ („da waren dann verschiedene Leute“), zum Schluss akzentuiert sie die Beziehung zwischen dem Beobachterstandpunkt und dem „Bild“: „Das sahen wir ja.“
In der folgenden Bemerkung wird die Differenz zwischen dem Bild und dem Objekt besonders stark hervorgehoben. Tim Dugan, ziviler Vernehmer der CACI Corporation, der in Abu Ghraib arbeitete, sagt:
„Das große Wort, das mir immer in den Sinn kommt, ist ‚surreal‘. Alles was man sah, alles, was da vor sich ging. Ein Haufen unprofessioneller Idioten, die ihren verdammten Job nicht beherrschten, wird zusammengeworfen, mit einem Riesenstock durchgerührt, und was dabei rauskommt, ist der Scheiß, den man in den Nachrichten über Abu Ghraib sieht.“
Alles was man sah, wirkte surreal. In Lacans Terminologie: Man fragte sich: ist das ein bloßes Bild, ein Bild, das zu keinem Objekt in Beziehung steht?
Der narzisstische Charakter des geometralen Sehens
Das geometrale Sehen ist, Lacan zufolge, narzisstisch. Es hat zur Grundlage, dass ich das Subjekt der Vorstellungen bin, das Subjekt der Repräsentationen, der Bilder (images), es beruht darauf, dass die Vorstellungen, die Bilder mir gehören und ich über sie verfügen kann.
Auf einigen Bildern sieht man, wie nackte Gefangene übereinandergestapelt werden. Jeremy Sivits (Specialist bei der Militärpolizei) sagt:
„In diesem Moment fingen Graner und Freddy mit dieser Menschenpyramide an. Graner sagte mir, er würde tun, was man ihm gesagt hat. Deshalb würde er es tun. Als ich abends die Etage verließ, sagte man mir, ich hätte absolut nichts gesehen. Und da ich so bin, wie ich bin, ich versuch mit allen gut auszukommen, sagte ich: ‚Was denn gesehen? Gar nichts hab ich gesehen.‘“
So wie das cartesische Subjekt alles bezweifeln kann, glaubt das am Geometralpunkt verortete Subjekt der Vorstellung, alles negieren zu können, was es gesehen hat. Es begreift sich als Herrn der Bilder. Eine gegensätzliche Position deutet Harman in ihrem bereits zitierten Brief an:
„Ich kann es nicht aus dem Kopf kriegen.”
Die Bilder gehören nicht ihr, eher gehört sie den Bildern.
Das perspektivisch organisierte geometrale Sehen ist noch in einem weiteren Sinn narzisstisch: es bezieht sich auf sich selbst. Das Sehen wird gesehen. Harman erblickt den gefesselten Taxifahrer und greift zur Kamera. Sie möchte den Gefangenen in der Haltung des gekreuzigten Jesus nicht nur sehen, sie möchte auch sehen, dass sie ihn gesehen hat. Das wird ihr dadurch möglich, dass sie ein Foto von ihm macht. Sie hat das Bild selbst aufgenommen; wenn sie es betrachtet, sieht sie nicht nur, was sie gesehen hat, sondern auch, dass sie es war, die das gesehen hat.
Die berühmteste Abu-Ghraib-Fotografie ist die des sogenannten Kapuzenmanns. Der Gefangene, den man auf diesem Bild sieht, heißt Abdou Hussain Saad Faleh; die Militärpolizisten nannten ihn Gilligan. Mit ausgebreiteten Armen steht er auf einer Kiste, der Kopf ist mit einem Sack verhüllt, über dem Körper hängt eine Decke. An Falehs Händen und Zehen haben Militärpolizisten Drähte befestigt, außerdem, was im Foto nicht zu sehen ist, an seinem Penis. Die Militärpolizisten haben ihm gesagt, dass er von einem elektrischen Schlag getötet werden wird, falls seine Beine nachgeben und er von der Kiste fällt. Der Gefangene wurde getäuscht, die Drähte waren nicht mit einer Stromleitung verbunden.
Die DVD von Standard Operating Procedure enthält einen Audiokommentar von Errol Morris; zu dem oben wiedergegebenen Foto sagt er hier:
„Unter den Bildern, die Sabrina von Gilligan in dieser Nacht aufnahm, gibt es ein außergewöhnliches. Es ist eine Aufnahme von Sabrina, und sie zeigt Gilligan, der auf einer Kiste steht, mit einer Kapuze über dem Kopf, mit Drähten, und Ivan Frederick steht im Bild rechts von Gilligan, und er schaut auf seine Kamera. Er sieht sich das Bild an, das er gerade aufgenommen hat, das in der Geschichte der Fotografie wahrscheinlich das verrufenste Foto ist, und er sieht es sich zum ersten Mal an. Was für ein absolut seltsames Bild von einem Mann, der sich das Bild anschaut, das dann von wahrscheinlich einer Milliarde Menschen auf der ganzen Welt betrachtet werden wird.“
Wenn wir das Foto betrachten, sehen wir, wie Ivan Frederick sieht, was seine Kamera gesehen hat.
Der narzisstische Charakter des Sehens kann auch darin bestehen, dass es denjenigen, der gesehen oder fotografiert wird, in einer Triumphgeste zeigt. Der Narzissmus liegt dann primär auf der Seite des Bildes und des Objekts, und Betrachter oder der Fotograf partizipiert an dieser Form des Narzissmus, indem er den Ort abgibt, auf den die narzisstische Selbstdarstellung ausgerichtet ist, den Zuschauer, dessen Bewunderung gesucht wird.
Das Foto zeigt einen Gefangenen, der von den Militärpolizisten Gus genannt wurde. Er liegt auf dem Boden, um seinen Hals ist eine Leine befestigt. Eine Militärpolizistin, Lynndie England, hält die Leine. Am linken Bildrand sieht man eine weitere Militärpolizistin, Megan Ambuhl. Aufgenommen wurde das Foto von Charles Graner, auch er Militärpolizist.
Lynndie England sagt im Interview:
„Graner hatte den Fotoapparat in der Hosentasche, und er bat mich und Ambuhl, mit nach unten zu kommen. Als er die Tür öffnete, war Gus da drin. Er war nackt. Er wollte nicht aufstehen. Deshalb holte er den Binderiemen. Er bindet ihn um seinen Hals, er will ihn dazu bringen rauszukriechen. Ich glaube, er war halb aus der Tür, als Graner mir sagte, ich soll den Riemen festhalten. Ich machte es. Ich hab ihn nur angefasst. Man sieht, dass er durchhängt. Es hieß, ich hätte ihn gezogen, aber das habe ich nie getan.“
Die Unterwerfungshandlung ist, falls Englands Bericht stimmt, für einen Moment unterbrochen worden und in eine Triumphgeste für die Kamera verwandelt worden. Dabei ist der Akteur ausgetauscht worden; das Foto sollte nicht einfach die Macht eines Soldaten über einen Gefangenen zeigen, sondern eine geschlechtlich kodierte Beziehung, die Macht eines weiblichen Soldaten über einen männlichen Gefangenen.
Auch in Abu Ghraib erzeugte die Steigerung der Beobachtungsmöglichkeiten keineswegs ein allsehendes Auge.
Javal Davis:
„Wir hatten irakische Gefängniswärter, die schmuggelten eine Pistole rein, eine 9-Millimeter, und ein brandneues Bajonett. Der Wärter wickelte es in ein Laken und bugsierte es in seine Zelle. Der Häftling griff unter sein Kissen, zog eine 9-Millimeter raus, trifft Sergeant Cathcart in die Weste.“
Die exzessive Kontrolle des sichtbaren Raums führt nicht zu einer totalen Übereinstimmung zwischen dem Bild und dem Objekt und nicht zur totalen Kontrolle. Der Irak-Krieg setzt sich im Gefängnis fort.
Die Funktion des Auges im Voyeurismus
Der Voyeurismus operiert in der Ordnung des Auges und in der Ordnung des Blicks. Im Feld des Auges versucht er, etwas zu sehen, was sich nicht sehen lässt: die Kastration – den Penis, insofern er fehlt.3
Die Gefangenen sind häufig nackt, ihr Penis ist sichtbar, er ist deutlich anwesend. Das Setting dient dazu, den anwesenden Penis in ein Symbol der Abwesenheit zu verwandeln. Diese Aufgabe haben verschiedene Merkmale der Situation: die erzwungene Passivität der Gefangenen, ihre erzwungene Nacktheit, die Verhüllung der Köpfe, das Auslachen, die Beteiligung weiblicher Soldaten.
Offenbar genügt das nicht. Auf dem Foto oben simuliert Lynndie England mit der rechten Hand eine Schusswaffe und zeigt damit auf das Geschlecht des Gefangenen. Diese Geste sieht man auch auf anderen Abu-Ghraib-Fotos. Sie wendet sich nicht an den Gefangenen, er kann ja nichts sehen. Mit dieser Pose definieren die Soldaten füreinander die Situation, sie teilen sich mit: Das, was wir hier in Szene setzen, ist eine imaginäre Kastration. Der Blick ist ein Symbol der imaginären Kastration.
Einer der Soldaten zwang die Gefangenen, zu masturbieren.
Lynndie England:
„Freddy ist derjenige, der damit anfing, sie masturbieren zu lassen. Keine Ahnung warum, aber er machte es. Er fing mit einem an, und dann wollte er wissen, ob die andern es auch machen, schätz ich mal. Keine Ahnung. Aber er ließ es sie alle zur selben Zeit machen. Irgendwann hörten sechs Typen auf, und der eine machte weiter, ungefähr 45 Minuten lang. Kein Witz. Der eine Typ, der immer noch masturbierte, das war das eine Bild mit mir drauf. Er wollte, dass ich mit drauf bin, ich wollte nicht drauf sein.“
Morris:
„Wer wollte, dass Sie mit drauf sind?“
England:
„Freddy. Und dann auch Graner. Graner meinte: ‚Komm schon.‘ Ich darauf: ‚Nein, ich will nicht da rübergehen.‘ Und er so: ‚Komm, mach’s einfach für mich.‘ Und sowas alles. Ich darauf: ‚Okay.‘ “
Der Masturbationsbefehl zwingt die Gefangenen mit Gewalt, ihr sexuelles Begehren zu manifestieren, und das in einer Form, die kulturell als Kastrationssymbol kodiert ist. „Du Wichser“, dafür wird es im Arabischen eine Entsprechung geben. Bei der im Foto festgehaltenen Form der sexuellen Folter wird die Redewendung in Szene gesetzt. Du masturbierst = Dein Penis versagt bei einer Frau = Du bist kastriert.
Wie lässt sich der Penis als etwas sichtbar machen, was fehlt? Durch Grausamkeiten, aber auch durch Herumalbern. Wenn er beispielsweise durch eine Banane symbolisiert wird, wie auf dem folgenden Foto. Die Kastrationsphantasie bezieht sich hier nicht mehr auf den realen Penis des anderen, sondern auf den eigenen Penis, der von vornherein ersetzt worden ist.
Die Komödie ist aus dem Dionysos-Kult entstanden, bei dem eine Phallusskulptur in einer Prozession umhergetragen wurde. Bis heute ist der Phallus eine der Hauptquellen des Komischen.4
Der Blick
Die Vorgänge in einem Gefängnis spielen sich nicht nur in der Ordnung des Auges ab, sondern auch in der des Blicks. Die Bewacher und die Vernehmer sehen nicht nur, sie werden auch gesehen. Sie sind Blicken ausgesetzt, Blicken, die für sie gefährlich sind: dem Blick der Gefängnisverwaltung, dem Blick der Arbeitskollegen, dem Blick von Organisationen der humanitären Hilfe und nicht zuletzt dem Blick der Gefangenen.
Unter dem Blick versteht Lacan nicht den Blick des Subjekts; der Blick im Sinne von Lacan ist niemals mein eigenes Sehen. Mit „Blick“ ist immer der Blick gemeint, von dem das Subjekt erfasst wird, der Blick, der mich von außen trifft. Der Blick im Lacanschen Sinne ist auch nicht der gütige, flirtende, verliebte Blick eines anderen, der sich auf mich richtet, sondern immer der von außen kommende aggressive Blick, der vernichtende Blick, der böse Blick. Der Blick besteht nicht in den Augen, die sich auf mich richten, oder nur selten; im typischen Fall ist der Blick ein erwarteter, ein vermuteter, ein vorgestellter Blick.
Das Schema der Struktur des Blicks
Die folgende Abbildung zeigt Lacans Diagramm der Blickstruktur.
Die linke Seite des Diagramms bezieht sich auf den Anderen, d.h. auf die Seite, von der das Subjekt erblickt wird. Die rechte Seite steht für das vom Blick erfasste Subjekt.Die linke Ecke des Dreiecks wird im Schema als Lichtpunkt bezeichnet; damit ist der Blick gemeint, von dem das Subjekt, wie es glaubt, getroffen wird.
Der Blick hat hier die Funktion des Objekts a, d.h. er ist ein Symbol für die Kastration.
Die rechte senkrechte Linie mit der Bezeichnung „Tableau“ steht für das Subjekt, insofern es vom Blick erfasst wird, genauer: für das Subjekt in seinem Mangel, in seinem Begehren. Das Tableau ist der peinliche und beschämende Anblick, den ich, als begehrendes Subjekt, biete, wenn ich, ohne es zu wollen, schutzlos dem Blick ausgesetzt bin. Der Ausdruck „Tableau“ soll möglicherweise darauf hinweisen, dass das Subjekt unter dem Blick erstarrt.
Der Schirm (die mittlere senkrechte Linie) ist die Maskierung, mit der das Subjekt auf den aggressiven Blick antwortet, um sich vor ihm zu schützen. Ein Schirm ist beispielsweise die Bekleidung, die ich dem Blick der anderen zu sehen gebe, oder die Pose, in der ich mich präsentiere.
Das Spiel mit der Maske
Brigadegeneralin Janis Karpinski war 2003 für die Gefängnisse im Irak zuständig. Im Film sagt sie:
„Meine Gefängnisse lagen weit verstreut, deshalb war ich viel unterwegs. Einmal kam ich nach Abu Ghraib, da sagte mir Leutnant Woods: ‚Ach Madam, da läuft gerade eine Vernehmung. Möchten Sie rüberkommen und sich das ansehen?‘ Sie brachte mich rüber, und wir standen im Flur, und ich sah mir das an, und es sah vollkommen normal aus. Ich habe mich oft gefragt, ob sie mich speziell deswegen da mitreingenommen haben, damit ich sagen könnte: ‚Ja, ich habe bei einer Vernehmung zugesehen, und ja, es sah völlig normal aus.‘“
Karpinski sollte, wie sie vermutet, getäuscht werden. Jeffrey Frost, Specialist, einer der Militärpolizisten, die in Abu Ghraib arbeiteten, stützt ihren Verdacht:
„Es ist schon komisch. Wenn General Karpinski oder ein anderes hohes Tier das Gefängnis besuchte, führten wir eine Show auf. Alle bekamen ihre Matratzen wieder, alle bekam ihre Kleidung zurück, und sobald diese Leute wieder weg waren, kriegte jeder, dem man bestimmte Sachen abgenommen hatte, sie wieder weggenommen.“
Der Blick, um den es hier geht, ist der Blick der höchsten Stelle der Gefängnisverwaltung im Irak, verkörpert durch die Generalin. Das Subjekt, das sich von diesem Blick bedroht fühlt, sind die staatlichen und zivilen Dienste, die die Verhöre vorbereiten und durchführen. Der Mangel dieses Subjekt, der vom Blick erfasst werden könnte – also das Tableau –, besteht darin, dass die Vernehmer den Befehl haben, die Gefangenen systematisch zu misshandeln und zu foltern und dass sie das tatsächlich tun. Um sich vor dem Blick von der Spitze der Gefängnisverwaltung zu schützen, ziehen diese Dienste, wie Frost sich ausdrückt, eine Show ab. Das korrekt durchgeführte Verhör, das der Generalin zu sehen gegeben wird, ist, in Lacans Terminologie, der Schirm. Er hat in diesem Fall den Charakter einer bewussten Täuschung. Das menschliche Subjekt vermag, anders als das Tier, mit der Maske zu spielen, sagt Lacan.5
Einige Gefangene werden nicht in den Büchern geführt; von den Militärpolizisten werden sie als „Geister“ bezeichnet. Zu den Geister-Gefangenen gehört Manadel Al-Jamadi. Er stirbt bei einem Verhör; wahrscheinlich durch Mord. Der Name des mutmaßlichen Mörders und die Organisation, für die er arbeitete, sind bekannt: Mark Swanner vom CIA.6
Die Militärpolizisten werden von Swanner gerufen. Sie entdecken, dass Al-Jamadi tot ist. Einer der Militärpolizisten, Javal Davis, sagt im Interview:
„Er war ein Geister-Gefangener, er sollte also nicht da sein. Wenn das Rote Kreuz kam, wollten sie ihn nicht da haben, also mussten sie was tun. Da kam jemand auf die Idee, ihn aus dem Leichensack zu nehmen, ihm den orangenen Overall anzuziehen, seine Leiche auf eine Fahrtrage zu legen, einen Katheter in seinen toten Arm zu stecken und ihn aus dem Gebäude zu bringen.“
Der Blick, dem hier etwas zu sehen gegeben wird, ist nicht nur der des Roten Kreuzes und damit der Weltöffentlichkeit. Es geht auch um den Blick der anderen Gefangenen. Dieser Blick ist mit einer tödlichen Drohung verbunden, mit der Gefahr des Aufstands.
Jeffrey Frost sagt über Al-Jamadi:
„Wir untersuchten ihn, und er war tatsächlich gestorben. Und ich ging aus dem Raum, gewissermaßen so, duh-duh-duh-duh, als wär nichts passiert. Und dann fragte ich einen der CIA-Agenten, so was wie: ‚Was macht Ihr Jungs in so einer Situation denn normalerweise?‘ Sie waren, naja, nicht gerade in Panik, aber sie telefonierten überall rum, um zu sehen, was sie tun sollten und was nicht. Was machen wir mit ihm? Wir können ihn nicht in einem Leichensack raustragen, das könnte einen Aufstand geben. Also mussten wir ihn über Nacht dabehalten.“
Das Subjekt, das vom Blick des Roten Kreuzes und vom Blick der Gefangenen erfasst zu werden droht, ist in diesem Fall vor allem der CIA und der Militärische Geheimdienst. Auch hier hat der Schirm den Charakter einer planmäßigen Täuschung: die Leiche wird als Kranker maskiert, der Tote als Lebender.
Roman Krol, Vernehmer des Militärischen Geheimdienstes im Rang eines Specialist, betrachtet in Morris’ Film ein Foto. Es zeigt einen Gang im Gefängnis von Abu Ghraib, sieben Männer stehen, zwei Männer, schwer zu erkennen, liegen auf dem Boden
Roman Krol:
„Rechts, in schwarzen Hosen, ist Cruz. Direkt neben ihm ich selbst. Links an der Wand Graner, und wir gucken auf die zwei Häftlinge, die mit Handschellen gefesselt auf dem Boden liegen. Sonst kann ich wirklich nichts erkennen. Es war nie als Vernehmung geplant. Das Anschreien war nur Show, glaube ich, um den Zuschauern zu zeigen, dass dies mit jedem gemacht werden würde, der die Regeln bricht.“
Das Bild zeigt demnach, wie die Soldaten die auf dem Boden liegenden Gefangenen anschreien. Krol zufolge handelt es sich nicht um ein Verhör, sondern um eine Show. Im Audiokommentar sagt Morris hierzu:
„Roman Krol sagt, er habe all das getan, weil er wusste, dass Häftlinge in den Zellen zuschauten. Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass das eine verrückte Art von Theater sein könnte. Das zentrale Treppenhaus im Gefängnisblock war wie eine Vorbühne, mit den Häftlingen als Zuschauern.“
In der Sprache von Lacans Schema: die Szene dient als Schirm. Sie hatte die Funktion, dem gefährlichen Blick der Gefangenen etwas zu sehen zu geben. Was wird von ihnen befürchtet? Dass sie „nicht kooperieren“, wie es im Jargon der Soldaten heißt, dass sie keine Informationen preisgeben. Die Befürchtung geht aber darüber hinaus. Die Gefangenen könnten einen Aufstand in Gang setzen; der Blick der Gefangenen ist potentiell tödlich. Diese Gefahr ist keineswegs fiktiv, in Abu Ghraib hat es tatsächlich einen Aufstand gegeben.
Welcher Mangel im Subjekt soll durch die „Show“ des Anschreiens abgeschirmt werden? Unter anderem die Ohnmacht der Vernehmer.
Janis Karpinski, die Leiterin der Gefängnisverwaltung, sagt:
„General Sanchez setzte Colonel Pappas routinemäßig den Finger auf die Brust, bohrte ihm den Finger in die Brust und sagte: ‚Ich will Saddam! Finden Sie Saddam! Finden Sie Saddam! Verstehen sie mich? Finden Sie Saddam! Finden Sie Saddam, ganz gleich, was das kostet.‘ Wenn man jemandem lange genug den Finger in die Brust bohrt, tut derjenige alles, was nötig ist, um einen dazu zu bringen, damit aufzuhören. Es ist eine Abwärtsspirale. „Das funktioniert nicht, versuch das. Das hat in Guantanamo funktioniert. Das hat in Bagram funktioniert. Versuch das. Es ist okay.‘ Es stoppt nicht die Raketenangriffe, es bringt nicht die Information, die sie wollen, und damit wird Saddam nicht gefunden. Es war keine Information aus irgendeiner Vernehmung oder Befragung in Abu Ghraib, es waren Soldaten vor Ort, die Saddam gefunden haben.“
Abu Ghraib war das Vernehmungszentrum der USA im Irak. 2003 dienten die Verhöre vor allem dazu, den Aufenthaltsort von Saddam Hussein zu ermitteln. Bezogen auf diese Aufgabe waren die Vernehmenden impotent.
Sabrinas Lächeln
Am Morgen, nachdem Al-Jamadi umgebracht worden war, rief der Vorgesetzte von Sabrina Harman sie und andere zu sich und teilte ihnen mit, ein Gefangener sei an Herzinfarkt gestorben.7 16 Stunden, nachdem der Tod von Al-Jamadi festgestellt worden war, sah Harman die Leiche zum ersten Mal. Bei dieser Gelegenheit nahm Ivan Frederick, ihr Kollege, das folgende Foto auf.
Anderthalb Stunden später kehrte Harman zur Leiche zurück und machte mehrere Aufnahmen mit forensischem Charakter, Bilder, die Al-Jamadis Verletzungen dokumentieren. Einige Tage später schrieb sie ihrer Ehefrau einen Brief, in dem sie berichtet, dass sie Al-Jamadi fotografiert hat. Sie begründet das im Brief damit, dass sie beweisen wolle, dass er nicht an einem Herzinfarkt gestorben war.
Warum hält sie auf dem Foto den Daumen hoch?
Im Interview sagt Morris zu Harman:
„Sie bekamen Ärger wegen des Daumens.“
Harman:
„Kann ich verstehen, sieht wirklich schlimm aus. Aber wann immer ich fotografiert werde, ich weiß nie, wohin mit den Händen. Auf jeder Art von Foto hab ich wahrscheinlich den Daumen hoch, weil das einfach etwas ist, was automatisch passiert. So wie man lächeln will, wenn man fotografiert wird. Das ist, glaube ich, einfach etwas, was ich mache.“
An anderer Stelle sagt sie, dass sie die Geste von den Kindern in al Hilla übernommen hat, wo sie vorher stationiert war. Ist es glaubhaft, dass die Geste eine Art Fotografier-Reflex darstellt? Morris hat das überprüft.8 Er hat etwa 20 Fotos gesehen, die Harman zeigen, in al Hilla und in Abu Ghraib, auf denen sie den Daumen hochreckt.
Warum lächelt sie? Weil sie die Situation genießt? Morris hat hierzu einen Mimik-Spezialisten befragt, den Psychologen Paul Ekman.9
Ekman nennt das Lächeln, das Harman auf dem Foto zeigt, „soziales Lächeln“ oder „gezwungenes Lächeln“. Er unterscheidet es vom „actual enjoyment smile“, vom Lächeln, in dem eine wirkliche Lust zum Ausdruck kommt. Beim Lust-Lächeln tritt zwischen der Augenbraue und dem Lid ein bestimmter Muskel hervor. Diese Bewegung, die nicht willentlich gesteuert werden kann, fehlt auf dem Foto. Der fragliche Muskel ist winzig und kann nur von Experten erkannt werden. (Ekman zufolge tritt das soziale Lächeln in zwei Formen auf, als höfliches Lächeln und als Lächeln für die Kamera. Das Lächeln für die Kamera ist breiter als das höfliche Lächeln – so breit wie das Lustlächeln, jedoch ohne den Muskel über dem Lid.) Harman lächelt, weil sie in die Kamera schaut, nicht, weil sie die Situation genießt.
Der hochgereckte Daumen und das Lächeln sind Harmans Schirm, den sie dem Blick der Kamera zu sehen gibt. Welches Begehren soll durch diesen Schirm maskiert werden?
Fünf Tage nach der Aufnahme schreibt Harman aus Abu Ghraib:
„ … wenn ich von diesen Vorgängen weiterhin Bilder machen will – ich habe sogar kurze Filme –, muss ich jedesmal ein falsches Lächeln aufsetzen. Ich hoffe, ich kriege keinen Ärger wegen etwas, was ich nicht getan habe. Ich hasse das hier. Ich hasse es, von zu Hause weg zu sein, und ich hasse die Hälfte der Leute, die um mich rum sind. Das sind Idioten. Ich kann nicht hier sein. Ich will kein Teil der Armee sein, weil sie mich zu einer von ihnen macht. Es gefällt mir hier nicht. Es gefällt mir nicht, was wir tun.“10
Das Tableau, das sie mit ihrem Lächeln verdeckt, würde ihren Hass zeigen.
Der Tarnkappen-Schirm
In den bisher erwähnten Fällen hat der Schirm den Charakter einer bewussten Inszenierung: das normale Interview, mit dem Karpinski getäuscht werden soll, die Leiche, die als Kranker aufgeputzt wird, Harmans Lächeln, halb angelernter Reflex, halb bewusste Täuschung. Es gibt andere Arten des Schirms. Der Schirm kann einen rein negativen Charakter haben. Das Tableau wird unsichtbar gemacht, ohne dass an seiner Stelle etwas anderes zu sehen gegeben wird.
Javal Davis, einer der Militärpolizisten, spricht über die Tätigkeit der nicht-militärischen Regierungseinrichtungen in Abu Ghraib.
„CIA, Iraqui Survey Group, DIA [Defense Intelligence Agency], FBI, Task Force 121. Die Anderen Regierungs-Dienste [Other Government Agencies]. So nannten wir sie, OGA. Sie hatten keine Regeln. Wir nannten sie ‚die Geister‘, denn sie kommen rein und man weiß nicht, wer sie sind. Wer immer ihre Gefangenen waren, nie trug man sie ein. ‚Wie läuft’s denn, Soldat? Weißt du, hier ist der Typ, trag ihn nicht ins Buch ein. Er ist nicht hier, er war nie hier, steck ihn hier einfach in eine Zelle und mach keinen Vermerk, klar? Wenn das Rote Kreuz kommt, dann bring ihn woanders hin. Wenn das Rote Kreuz auch dahin geht, dann bring ihn dorthin zurück, wo er war. Weil sie hier ja gar nicht existieren.‘“
Die Geister-Gefangenen sind Gefangene, die für den Blick des Roten Kreuzes und damit für den der Weltöffentlichkeit unsichtbar gemacht werden. Der Schirm besteht hier darin, dass die Häftlinge hin und her transportiert werden und auf diese Weise immer außerhalb der Reichweite des sich bewegenden Blicks sind. Der Blick hat in diesem Fall eine geometrale Dimension und der Schirm besteht darin, dass etwas aus dem Blickfeld gebracht wird; diese Variante des Schirms wird von Lacan nicht erwähnt.
Eine der wichtigsten Abschirmungen ist das Fotografierverbot.
Jeremy Sivits (Militärpolizist):
„Uns wurde gesagt: ‚Keine Bilder von Gefangenen.‘“
Das Fotografierverbot bezieht sich vor allem auf den Blick der Massenmedien. Das Feld des Sehens wird in den Massenmedien durch Fotos und Filme erzeugt.
Javal Davis:
„Man kann Leute umbringen, solange keine Kameras in der Nähe sind. Man kann Leute erschießen. Man kann ihnen den Kopf wegpusten. Solange das nicht fotografiert wird, passiert einem nichts. Aber wenn die Kamera es festhält, bist du dran. Wissen Sie, auf diesen Fotos wird nicht gefoltert. Das war Demütigung. Das war Weichklopfen. Gefoltert wurde während der Vernehmungen. Die Typen gehen zur Vernehmung und sie sind tot, und sie wurden getötet, und sie starben. Da gab es die Folter. Davon haben wir keine Fotos.“
Was Davis sagt, ist falsch. Laut UN-Antifolterkonvention ist jede Handlung als Folter zu werten, bei der Träger staatlicher Gewalt einer Person „vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zufügen, zufügen lassen oder dulden, um beispielsweise eine Aussage zu erpressen, um einzuschüchtern oder zu bestrafen“. Also zeigen die Fotos Folter.
Aber in einem Punkt hat Davis recht: Gefoltert wurde vor allem bei den Vernehmungen, und davon gibt es keine Fotos. Das Fotografierverbot, wenn es eingehalten wird, sorgt dafür, dass die Folter für den Blick der Öffentlichkeit unsichtbar ist, ohne dass dafür etwas anderes zu sehen gegeben wird. Der Schirm funktioniert dann wie eine Tarnkappe.
Die Realität des Begehrens zeigt sich am Rande des Schirms, sagt Lacan.11 Das gilt auch hier. Das, was die Fotos im Abu-Ghraib-Skandal von der Folter zu sehen geben, ist ihr Rand: die grausame Vorbereitung auf die Folter-Verhöre.
Die Zerstörung des Schirms
Die Folter kann auch die Form einer Demütigung haben; die Demütigung erfolgt nicht zuletzt im Feld des Sehens.
In Abu Ghraib wurde den Gefangenen häufig ein Sack über den Kopf gestülpt, eine Form der sensorischen Deprivation, die als hooding bezeichnet wird.12
Sabrina Harman in einem ihrer Briefe aus Abu Ghraib:
„Ein Sandsack wurde ihnen über den Kopf gestülpt, der mit scharfer Sauce vollgesogen war.“
Javal Davis im Interview:
„Ein Jutesack über ihrem Kopf, die Feuchtigkeit klebt einem an der Nase, am Mund. Das gibt ihnen ein Gefühl, als ob sie ertrinken.“
Eine bestimmte Form des Hooding konnte man zu Beginn dieses Artikels sehen: das Überstülpen einer Unterhose.
Das Hooding nimmt dem Gefangenen die Möglichkeit, sich visuell zu orientieren. Es verhindert, dass er die Soldaten sehen und sie später identifizieren kann. Wenn er während des Hooding geschlagen wird, weiß er nicht, wann der nächste Schlag kommt und wo er ihn treffen wird; das steigert seine Angst.
Beschränkt man sich auf die visuelle Seite des Hooding, lässt es sich mit Lacan so beschreiben: Der Gefangene sieht nichts und verliert die Orientierung, anders gesagt: das Hooding zerstört den geometralen Raum. Der Platz, den der Gefangene einnimmt, ist kein Geometralpunkt mehr, kein Ort, auf den die Bilder ausgerichtet sind. Die Soldaten, denen der Häftling ausgeliefert ist, die Handlungen, die sie an ihm vollziehen, werden für ihn nicht zum Bild (image). Der Gefangene erfährt sich als jemand, der Blicken ausgesetzt ist, ohne selbst sehen zu können. Die Verschränkung von Auge und Blick wird aufgehoben.
Im Film wird nur von männlichen Gefangenen berichtet. Diese Gefangenen sind häufig nackt. Sie werden gezwungen, sich selbst auszuziehen, oder sie werden entkleidet; hierzu werden vorzugsweise weibliche Vernehmer oder Bewacher abkommandiert. Gelegentlich werden die Kleider der Gefangenen mit einem Messer aufgeschnitten.
Tim Dugan (ziviler Vernehmer, CACI Corporation)
„Abu G wurde von einer Mörsergranate getroffen, die zwei Amerikaner tötete und ungefähr 16 verletzte. Wir gingen zu einer Vernehmung vom Wolf, dem Anführer der Gruppe von Leuten, die das Gefängnis beschossen hatte. Zwei weibliche Specialists waren da. Eine war eine Vernehmerin, eine war Analytikerin. Sie zogen ihm alle Sachen aus, bis er völlig nackt war, was wir nicht durften. Als wir mit der Vernehmung fertig waren, frag ich: ‚Was ist denn das fürn Ding, dass der Typ nackt war? Ich mein, was soll das?‘ Ich versuche mich zu erinnern, wie sie sich ausgedrückt haben. Ihre Haltung gegenüber Frauen, ihre untergeordnete Rolle in der Kultur und dass sie versuchen, das zu zerstören – damit sie mit weiblichen Vernehmern kooperieren, vernehmen sie ihn nackt! Ich ging zurück und fragte meinen Abteilungs-Sergeant, darauf der: ‚Ja, wir sollen das wirklich nicht tun, aber wir lassen die Frauen ein paar Sachen dieser Art tun, weißt du, um die Sache mit der arabischen Kultur zu überwinden.‘“
Die nackten Gefangenen werden verspottet.
Megan Ambuhl, eine der Militärpolizistinnen, Specialist, sagt im Interview:
„Wir zeigten auf ihn und lachten, während er nackt duschte.“
Sabrina Harman schreibt in einem ihrer Briefe aus Abu Ghraib:
„Und dann werden die Gefangenen, die ‚am Arsch sind‘, ausgezogen und mit Handschellen an die Stangen gefesselt. Ich darf sie dann auslachen und Mais auf sie werfen.“
Der Rahmen für die Demütigungen besteht darin, dass die Häftlinge in eine Position der Hilflosigkeit gebracht werden. In dieser Lage werden sie ihres Schirms beraubt, ihrer Kleidung. Das zielt darauf ab, ihre Scham hervorzurufen, eine Scham, die so stark sein soll, dass es sie in ihrem Wesen erschüttert.
Aber nicht nur der Schirm der Gefangenen wurde zerstört. Auch der Schirm der Regierung bekam durch den Folterskandal ein Loch. Der Tarnkappenschirm, der die Folter unsichtbar machte – das Fotografierverbot –, versagte am Rande, bei den Militärpolizisten, und die US-Regierung war dem Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt.
Brent Pack ist Army Special Agent bei der Criminal Investigation Division, also Kriminalpolizist bei der Armee. Er hat die Fotos von Abu Ghraib untersucht. Im Interview sagt er:
„Wenn wir zurückschauen, sehen wir immer gut, und ich bin sicher, wenn sie zurückblicken, ist ihnen klar, dass das, was passiert ist, falsch war, dass sie bei etwas mitgemacht haben, das für das Land sehr peinlich war. Aber damals waren sie in einem Kriegsgebiet, wo die Regeln manchmal verschwimmen.“
Die Fotos waren „für das Land sehr peinlich“; unter dem Blick der Öffentlichkeit geriet der Staat der USA in eine beschämende Lage. Die Scham ist die andere Seite des Blicks.
Javal Davis (Militärpolizist):
„Jemand hat unsere Regierung mit runtergelassenen Hosen erwischt. Darum geht’s. Und deswegen sind sie angepisst.“
Das unfreiwillig dem Blick ausgesetzte Geschlecht ist auch hier eine Metapher für die Kastration. Der Blick der Weltöffentlichkeit, der sich auf den Staat der USA richtete, war ein kastrierender Blick.
Die Verschränkung von Auge und Blick
Die Funktion des Auges überlagert sich mit der Funktion des Blicks. Der Blick besteht nicht darin, dass sich die Augen eines anderen auf einen richten. Dennoch kann der Blick, Lacan zufolge, visuell dargestellt werden: durch eine Maske.13
Auf einigen Abu-Ghraib-Fotos präsentieren sich die Militärpolizisten mit Masken.
Der Blick der Maske starrt in das Auge der Kamera.
Das Schema der Verschränkung von Auge und Blick
Die Beziehung zwischen Auge und Blick stellt Lacan in seinem dritten Schema dar:
Der Geometralpunkt heißt hier „Subjekt der Vorstellung“, der „Lichtpunkt“ wird jetzt als „Blick“ bezeichnet.Der Blick (der Lichtpunkt) ist ein Punkt auf der Linie des Objekts. Vom Subjekt der Vorstellung aus gesehen (vom Geometralpunkt aus betrachtet) gehört der Blick zur Ebene des Objekts; er wird nicht im Bild (image) repräsentiert. Für das am geometralen Sehen orientierte Subjekt ist der Blick unsichtbar.
Das Subjekt der Vorstellung (der Geometralpunkt) ist ein Punkt auf der Linie des Tableaus. Auf der Ebene des Unbewussten ist das Subjekt der Vorstellung ein Skotom, eine Blindstelle, ein Prinzip der Verkennung.
Die Linie des Bildes (image) und die Linie des Schirms fallen zusammen. Das Bild dient als Schirm. Wenn das Bild als Schirm fungiert, ermöglicht es einen Zugang zum Blick.
Das geometrale Sehen als Prinzip des Verkennens
Wenn man das Foto sieht, auf dem Sabrina Harman dicht neben der Leiche von Al-Jamadi den Daumen hochreckt und breit in die Kamera lächelt, glaubt man etwas zu wissen. Man glaubt, dass sie die Situation genießt, und spontan hält man sie für schuldig. Das geometrale Sehen der Kamera und desjenigen, der das Foto betrachtet, ist ein Prinzip des Verkennens. Man vergisst, die entscheidende Frage zu stellen: Wer hat diesen Mann umgebracht?
Die Blindheit des geometralen Sehens für den Blick
Der Film zeigt, dass die Akteure der Gefahr des Gesehenwerdens eine beträchtliche Aufmerksamkeit schenken. Dass sie selbst sehen, macht sie keineswegs blind dafür, dass sie gesehen werden, dass sie also einem Blick ausgesetzt sind. Anders lassen sich die Täuschungsmanöver und die Fotografierverbote nicht erklären. Kann man dennoch behaupten, dass für das Subjekt der Vorstellung der Blick unsichtbar ist?
Brent Pack (Kriminalpolizist bei der Armee):
„In all den Jahren als Polizist wurde über die Hälfte meiner Fälle gelöst, würd ich sagen, weil der Kriminelle eine Dummheit gemacht hat. Von solchen Sachen Fotos zu machen ist eine solche Dummheit.“
Roman Krol (Vernehmer beim Militärischen Geheimdienst):
„Vor allem gibt es ein großes Schild ‚Keine Fotos‘, und außerdem ist so was zu fotografieren einfach dumm.“
Diese Dinge zu fotografieren ist „dumm“. Anders gesagt: Die Militärpolizisten wissen, dass sie nicht fotografieren dürfen; ihnen ist auch bekannt, dass die Übertretung des Verbots unangenehme Folgen haben kann. Trotzdem fotografieren sie. Wie will man das anders erklären, als dass sie blind sind, blind für die Gefahr, der ihnen durch den Blick der Vorgesetzten und der Öffentlichkeit droht? Muss man nicht annehmen, dass das Wort „dumm“ hier, wie so häufig, anzeigt, dass das Unbewusste im Spiel ist?
Die Militärpolizisten sind blind für die Gefahr des Erblicktwerdens, und sie sind es deshalb, weil sie ein ganz bestimmtes Bild (image) haben wollen: ein Trophäenfoto. Sie wollen die Beute sehen, das Opfer, und sich selbst in einer Geste des Triumphs über das Opfer. Für den narzisstischen, selbstbezüglichen Akt des Sehens ist der drohende Blick unsichtbar.
Zusammenfallen von Bild und Schirm: Die Blickzähmung
Die US-Regierung hat den Abu-Ghraib-Folterskandal mit einer klassischen Propagandatechnik abzuwehren versucht. Die Militärpolizisten wurden als a few bad apples dargestellt, ein paar schwarze Schafe. Einige Militärpolizisten wurden verurteilt, Janis Karpinski wurde degradiert. Das Zentrum der Folter blieb unangetastet, die Verhöre durch den Militärischen Geheimdienst sowie durch die CIA und andere nicht-militärische Dienste waren kein Thema. Der mutmaßliche Mörder von Al-Jamadi wurde, obwohl sein Name bekannt ist und die Zeugenaussagen erdrückend sind, nie vor ein Gericht gestellt.
Javal Davis (Militärpolizist):
„Finde etwas, was dafür sorgt, dass es verschwindet. Und das haben sie getan. Die Kleinen opfern. So wird das von ihnen vertuscht. Ich bin ein 28jähriger junger Amerikaner. Ein freiwilliger Soldat. Und mir wird alles in die Schuhe geschoben.“
Tim Dugan (ziviler Vernehmer, CACI Corporation):
„Ich dachte einfach, das wär ein Haufen spinnerter Militärpolizisten, die sich wie Idioten aufführen. So denke ich nicht mehr. Überhaupt nicht. Ich denke, wir haben einen Haufen Kids, die reingelegt wurden. Einfach ein Vertuschungsmanöver. Die Leute haben Angst vor der Strafbarkeit und den Folgen ihrer Handlungen, also hat keiner was gesagt. Stattdessen haben sie einen Haufen Leute zu Sündenböcken gemacht.“
Die Militärpolizisten wurden von der US-Regierung zum Sündenbock gemacht. Dabei spielten die Trophäenfotos eine entscheidende Rolle. Die Bilder (images), nämlich die Fotos, dienten der US-Regierung als Schirm gegenüber dem Blick der Weltöffentlichkeit. Um diesen Zusammenhang geht es Morris in seinem Film.
Die Funktion des Blicks im Voyeurismus
Warum haben die Militärpolizisten fotografiert? Sabrina Harman hatte ihre eigenen Gründe, aber warum haben die anderen fotografiert?
Eine erste Antwort habe ich bereits gegeben: weil sie ihren Triumph über die Gefangenen im Bild festhalten wollten, also aufgrund der narzisstischen Dimension des bewussten intentionalen Sehens, aufgrund des Funktionierens des „Auges“, in Lacans Begrifflichkeit.
Die Militärpolizisten haben nicht nur das Verbot übertreten und fotografiert. Die Bilder wurden auch freigebig verteilt.
Lynndie England (Militärpolizistin):
„Alle wussten Bescheid. Jeder, der in diesem Gefängnis war, der sich dort aufhielt, der dort lebte, der dort arbeitete – sie alle hatten die Bilder. Sie kamen rüber und bekamen Kopien von Graner. Er hatte jede Menge Disketten und machte also Kopien. ‚Aber klar doch, welche willst du haben?‘ Jeder hatte eine Kopie von einem Bild. Jeder wusste Bescheid.“
Warum war Charles Graner so unvorsichtig? Warum war er „dumm“?
Der Voyeurismus als Perversion ist um den Schautrieb herum organisiert ist. Der Schautrieb beruht auf der Spaltung zwischen dem Auge und dem Blick. Die eine Seite des Voyeurismus stützt sich auf das Auge, der Voyeur versucht zu sehen, was sich nicht sehen lässt, die Kastration. Die andere, die verdeckte Seite des Voyeurismus bezieht sich auf den Blick. Der Blick als Objekt a ist nicht das Sehen des voyeuristischen Subjekts, sondern der aggressive Blick, von dem der Voyeur, wie er annimmt, erfasst werden könnte.3
Graner hat alles dafür getan, dass der aggressive Blick ihn treffen könnte. Offenbar war er auf der Suche nach dem Blick. Der Blick wird auf dem Feld des Anderen imaginiert, auf dem Feld der Sprache und des Sprechens und der symbolischen Ordnung. Der Andere trat auf, zuerst in Gestalt von Generalmajor Taguba, der die erste, armee-interne Untersuchung durchführte, dann in Gestalt der internationalen Massenmedien, dann des Militärgerichts, das ihn verurteilte. Das muss für Graner beschämend gewesen sein. Unbewusst ging es ihm, so kann man vermuten, um diese Scham. Im Aufflackern der Scham hat er den vernichtenden Blick wiedergefunden, von dem er sich, zu seiner Konstituierung als sprechendes Subjekt, trennen musste.3 Über das Auge triumphierte der Blick.14
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Anmerkungen
- Zu den Abu-Ghraib-Fotos vgl. auch Slavoj Žižek: Radical Evil as a Freudian Category. In: lacan.com, 2008.
- Vgl. zum Film:
– Audiokommentar von Errol Morris auf der DVD (Sony Pictures Classics 2008).
– Philip Gourevitch und Errol Morris: Die Geschichte von Abu Ghraib. Hanser, München 2009.
– Errol Morris: Will the real hooded man please stand up. In: The New York Times, 15. August 2007 (zur Frage der Identität des Kapuzenmanns), im Internet hier.
– Philip Gourevitch: Exposure. The woman behind the camera at Abu Ghraib. In: The New Yorker, 24. März 2008, im Internet hier.
– Errol Morris: The most curious thing. In: The New York Times, 19. Mai 2008 (über Harmans Lächeln), im Internet hier.
– W.J.T. Mitchell: Der Schleier um Abu Ghraib. Errol Morris und die ‚bad apples‘. In: Ingeborg Reichle, Steffen Siegel (Hg.): Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression. Wilhelm Fink Verlag, München 2009, S. 51–65, im Internet hier. - Vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 191.
- Vgl. Seminar 6, Version Miller, S. 275.
- Vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 114.
- Eine gute Zusammenstellung der bekannten Tatsachen und eine Begründung für diese Vermutung gibt Morris in: The most curious thing, a.a.O.
- Zu Sabrina Harman vgl.: Philip Gourevitch, Exposure, a.a.O.
- Vgl. Morris, The most curious thing, a.a.O.
- Vgl. u.a. Paul Ekman: Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. Spektrum Verlag, Heidelberg 2004, zuerst USA 2003.
- Zitiert in Morris, The most curious thing, a.a.O.
- Vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 114 f.
- Vgl. Wikipedia-Artikel „Hooding“.
- Vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 90.
- Vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 109.