Das Begehren des Analytikers
Brian Rea, New York Times, von hier
Was meint Lacan, wenn er nach dem „Begehren des Analytikers“ fragt?1
Eine Frage nach einer Frage
Wenn man Lacans Bemerkungen zum „Begehren des Analytikers“ durchsieht, fällt auf, dass er fast immer von der „Frage des Begehrens des Analytikers“ spricht. Beim Begehren des Analytikers geht es um etwas, was in Frage steht, der Ausdruck „Begehren des Analytikers“ ist kein Begriff eines Theoriegefüges, sondern der Name für ein Problem.
Worum geht es bei der Frage des Begehrens des Analytikers?
Gut verständlich ist für mich Lacans folgende Bemerkung:
„Insofern der Analytiker die Anwesenheit, die Stütze eines völlig verschleierten Begehrens ist, ist er dieses verkörperte ‚Que vuoi?‘.“2
Der Analytiker – so verstehe ich den Satz – ist die Stütze für die Erkundung des unbewussten Begehrens des Patienten. Dies ist dadurch möglich, dass er für ihn das „Que vuoi?“ verkörpert, die Frage „Was willst du?“, anders gesagt: dadurch, dass er bei demjenigen, der ihn aufsucht, die Frage nach dem Begehren des Analytikers anstachelt. Da das Begehren des Subjekts das Begehren des Anderen ist, ist die Frage nach dem Begehren des Analytikers der Weg, auf dem das Subjekt seinem eigenen Begehren auf die Spur kommt – einem Begehren, das eben kein „eigenes“ Begehren ist, sondern das Begehren des Anderen: der Eltern, Großeltern usw.
Hier kommt die Frage ein zweites Mal ins Spiel. Der Ausdruck „Begehren des Analytikers“ ist die Frage nach einer Frage, er bezieht sich auf das Problem, wie der Analyitker für den Analysanten derjenige sein kann, der die Frage nach dem Begehren des Anderen in Gang hält.
In Seminar 11 formuliert Lacan das so: Das Begehren des Analytikers bleibt ein x und wirkt damit in eine Richtung, die der Identifizierung entgegengesetzt ist; dies ermöglicht ein Überschreiten der Identifizierung.3 Die Formel „Begehren des Analytikers“ steht demnach im Gegensatz zur Identifizierung mit dem Analytiker. Das Begehren des Analystikers ist eine Unbekannte, und diese Unbekannte soll so in Stellung gebracht werden, dass dies der Identifizierung mit dem Analytiker entgegenwirkt.
Patrick Guyomard schreibt:
„Der Ausdruck ‚Begehren-des-Psychoanalytikers‘ ist nicht deskriptiv. Es trifft nicht zu, dass er zusammen mit anderen Attributen einen der Züge des Psychoanalytikers bestimmt. Weder das Begehren dieses oder jenes Psychoanalytikers ist gemeint, noch das Begehren, Psychoanalytiker zu sein. Es handelt sich um ein Konzept – um einen Signifikanten – mit dem eine Funktion bezeichnet wird: das Begehren als Funktion. (…)
Die Dialektik und die Alterität des Begehrens – Begehren nach Begehren –implizieren, dass ein Subjekt seine Begehren und die Art und Weise, wie sie gebildet werden und dann erstarren (in seinen Phantasmen), nur in der Referenz auf diese Alterität befragt. Der Analytiker besetzt den Platz des Anderen – den Platz der verschiedenen Modalitäten der Alterität – nur als Ort, wo es ohne Begehren nicht geht, und wo in der Übertragung ein Sprechen erwartet wird. Ein Subjekt findet die Grenze und die Referenz für sein Begehren nur, wenn es sich auf die Begehren der anderen stützt, die an diesen Platz kommen konnten. Das Begehren-des-Analytikers ist das Konzept für die Gesamtheit dieser Fragen (…).„4
In einer Analyse erkundet ein Subjekt sein Begehren. Hierzu stützt es sich auf den Analytiker, aber nicht nur auf dessen Zuhören und Schweigen und Sprechen. Das Begehren ist „intersubjektiv“ verfasst (um einen von Lacan zurückgewiesenen Ausdruck zu verwenden), es besteht einzig in der Beziehung zum Begehren nach dem Anderen und zum Begehren auf der Seite des Anderen. Deshalb kann das Subjekt in einer Analyse sein Begehren nur erforschen, indem es sich auf das Begehren des Analytikers bezieht. Von daher stellt sich die Frage, welche Funktion die Frage des Patienten nach dem Begehren des Analytikers in einer Analyse hat.
Auch Bruce Fink zufolge ist der Begriff normativ gemeint; das Begehren des Analytikers ist das, was der Analytiker in Ausübung seiner Tätigkeit wollen sollte: seine Gegenübertragung unterdrücken und sich wünschen, dass derjenige, der ihn aufsucht, spricht, träumt, phantasiert, assoziiert, interpretiert, kurz, dass er die Analyse fortsetzt.5 Das Begehren des Analytikers wäre also das, was in anderen Praxisfeldern als professionelle Haltung bezeichnet wird, mit Bourdieu: der Habitus, aus dem das professionelle Handeln hervorgeht. Um ein Begehren handelt es sich insofern, als es beim Analytiker durch die persönliche Analyse und die Lehranalyse zu einem Wandel in der Ökonomie seines Begehrens gekommen ist, der es ihm ermöglicht, seine Verliebtheit und seine Abneigung beiseite zu schieben.
Ich bin mir nicht sicher, ob Fink recht hat. Aber ich habe das nicht studiert, und so halte ich mich erst einmal an seine Definition.
Eine prägnante Metapher für das Begehren des Analytikers (im Sinne von Fink) habe ich bei Jacques-Alain Miller gefunden, in einem Vortrag über Perversion:
„Perversion verlangt vom Analytiker, jede Gegenübertragung zugunsten des Begehrens des Analytikers zu unterdrücken, jenes Begehrens, das über die Aufhebung aller Überzeugungen und allen Wissens, das durch die Einführung eines Fragezeichens an der Stelle des Signifikates wirkt.“6
„Einführung eines Fragezeichens anstelle des Signifikats“, also anstelle einer Bedeutung – die Formel gefällt mir, vielleicht, weil sie auch mir – einem Nicht-Analytiker, der anderen allzu gern etwas beibringt – einen Wink gibt.
Die Mehrlust am Platz des Agenten
Im Diskurs des Analytikers (vgl. die Formel rechts) wird das Begehren des Analytikers repräsentiert durch das Objekt a bzw. die Mehrlust (plus-de-jouir) am Platz des Agenten (oben links), über dem Wissen (S2) am Platz der unbewussten Wahrheit (unten links).7
Im Diskurs des Analytikers ist das Objekt a als Mehrlust (d.h. als Symbol des Genussverlusts) am Platz des Agenten: der analytische Diskurs ist der einzige, der fragt, was es mit dem Genießen auf sich hat8, mit dem durch das Sprechen herbeigeführten Verlust an Genießen und der Ersatzbefriedigung im Symptom.
In Seminar 11 hatte Lacan erklärt: Das Begehren des Analytiker ist das,
„was den Anspruch auf den Trieb zurückbringt. Auf diesem Wege isoliert der Analytiker das a und bringt es auf größtmögliche Distanz zum I, das er, der Analytiker, wie das Subjekt verlangt, verkörpern soll. Der Analytiker muß von dieser Idealisierung herunter, um Träger des trennenden a sein zu können, und zwar, soweit sein Begehren es ihm erlaubt, in einer Art umgekehrter Hypnose, den Hypnotisierten zu verkörpern.
Ein solches Hinausgehen über die Ebene der Identifizierung ist möglich. Jeder, wirklich jeder, der mit mir, in der Lehranalyse, die analytische Erfahrung bis ans Ende durchlebt hat, weiß, daß ich die Wahrheit sage.“9
Der Patient appelliert an den Analytiker, das Ichideal zu verkörpern, dies ist die Ebene des Anspruchs. Dabei vermengt er das Ichideal (den Anspruch) und das Objekt a (den Trieb). Zwischen dem Ichideal und dem Objekt a stellt der Analytiker eine Trennung her: er hört auf, als Ichideal zu fungieren und wird so zum Träger des Objekts a, er verwandelt sich für den Patienten, beispielsweise, in ein Stück Scheiße, in ein Symbol für den Genussverlust. In der Hypnose wird das Objekt, wie Freud sagt, an die Stelle des Ichideals gesetzt10; in einer Art umgekehrter Hypnose verkörpert der Analytiker dann den Hypnotisierten, also den vom Objekt a in Gestalt des Blicks Faszinierten, soweit sein Begehren das möglich macht. Der Wechsel von der Position des Ichideals zu der des Objekts a vollzieht sich nicht in der persönlichen Analyse, sondern in der Lehranalyse.
Im Verlauf einer (Lehr-)Analyse wird das Objekt a demnach in eine möglichst große Distanz zum Ichideal gebracht. Vielleicht soll eben das von der Formel für den Diskurs des Analytikers dargestellt werden. Das Objekt a ist hier am Platz oben links, der Herrensignifikant bzw. das Ichideal am Platz unten rechts, zwischen beiden liegt der größtmögliche Abstand.
Das Begehren des Analytikers wäre also das, was es ihm ermöglicht, für den Patienten das Objekt a zu verkörpern – ?
Das Wissen am Platz der Wahrheit
Lacan erläutert das so: der Analytiker spricht in Rätseln und in Zitaten — in Mehrdeutigkeiten und in Patientenzitaten.11 Er hält sich damit an die Regel „Die Wahrheit lässt sich nur halbsagen“. Mit Miller kann man sagen, er spricht in Rätseln und Zitaten, um ein Fragezeichen einzuführen.
Wissen am Platz der Wahrheit meint auch, so erklärt Lacan, den Ödipuskomplex als das aufzufassen, was er ist, nämlich als Mythos, und das heißt, von der Erzählung zur Struktur überzugehen, zur Signifikantenbeziehung, zu S2.12
Nachträge
20. März 2014
Und hier eine andere Deutung des „Begehrens des Analytikers“. Monique David-Ménard schreibt über eine Patientin, die sie Laurence D. nennt:
„(D)ie Tatsache, dass die Gewalt und die ‚mörderische‘ Seite von Laurence D. mir schnell als ein provisorischer Stil erschienen sind, hat sicherlich die Rolle einer Aufforderung zur Wiederholung gespielt. Das ist das, was Lacan als das ‚Begehren des Analytikers‘ bezeichnet, d.h. die Tatsache, dass der Analytiker, eben durch seine Position, die Wiederholung radikalisiert, indem er ihr einen Platz anbietet, der anders ist als die gewöhnliche Wiederkehr der Symptome, in denen die Notwendigkeit sich verdichtet.“13
Worin besteht die Andersheit dieses Platzes?
„Ich bin versucht, auch dies als Kontingenz zu bezeichnen (denn das ist an eine Initiative der Analytikerin gebunden), diese Exteriorität eines neuen Stils, dessen Existenz sich dem Zuhören der Analytikerin verdankt und ihrer Entzifferung dessen, worum die Wiederholung sich eben dreht.“14
6. Februar 2015
Ein lacanianischer Psychoanalytiker hat mir die folgende Erklärung von „Begehren des Analytikers“ gegeben:
Gemeint ist demnach die Transformation des Begehrens am Ende der Lehranalyse. Das Begehren sei dann tatsächlich anders. Das sei eine eindrucksvolle Erfährung, die allerdings schwer zu beschreiben sei. „Man sieht dann das Unbewusste gewissermaßen vor sich“, sagte er.
Kommentare
Siehe hier.
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Anmerkungen
- In den Écrits stellt Lacan die Frage nach dem Begehren des Analytikers zuerst in Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, einem Vortrag von 1958, der 1961 veröffentlicht wurde; siehe Schriften I, S. 205. Die Frage wird in den Écrits außerdem formuliert in: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten, in: Schriften II, S. 201; Die Stellung des Unbewussten, in: Schriften II, S. 223; Über den Trieb von Freud und das Begehren des Psychoanalytikers, in: Christian Kupke (Hg.): Trieb und Begehren. Parodos, Berlin 2007, S. 13-17.
- Seminar 9, Sitzung vom 9. Mai 1962, meine Übersetzung nach Version Staferla.
- Vgl. Seminar 11, Sitzung vom 24. Juni 1964; Version Miller/Haas, S. 288.
- Patrick Guyomard: Das Genießen des Tragischen. Antigone, Lacan und das Begehren des Analytikers. Aus dem Französischen von Monika Mager, Irmgard Moosmann und Michael Schmid. Turia und Kant, Wien 2. durchgesehene Aufl. 2008 (Original 1992), S. 15 f.
- Vgl. Bruce Fink: Eine klinische Einführung in die Lacansche Psychoanalyse. Turia + Kant, Wien 2005, v.a. Kapitel 1.1, „Das Begehren in der Analyse“, S. 17-27.– Derselbe: Grundlagen der psychoanalytischen Technik. Eine lacanianische Annäherung für klinische Berufe. Turia + Kant, Wien 2013, S. 89 f.
- Jacques-Alain Miller: Über Perversion (Vortrag von 1989). In: Riss 65, 21. Jg. (2007), Heft 1, S. 37-55, hier: S. 40.
- Die Formel wird von Lacan in Seminar 17 von 1969/70 eingeführt, Die Kehrseite der Psychoanalyse.
- Vgl. Seminar 17, Version Miller, S. 206.
- Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 287.
- S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). In: Ders.: Studenausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000 S. 106.
- Seminar 17 von 1969/70, L’envers de la psychanalyse, Version MilIer, S. 39 f.; Seminar 23 von 1975/76, Le sinthome, Version Miller, S. 17.
- Vgl. Seminar 17, Version Miller, S. 129-147.
- Monique David-Ménard: Éloge des hasards dans la vie sexuelle. Hermann éditeurs, Paris 2011, S. 38, meine Übersetzung.
- David-Ménard, a.a.O., S. 40.