Das Begehren des Analytikers
Brian Rea, New York Times, von hier
Was meint Lacan mit dem „Begehren des Analytikers“?1
Eine Frage nach einer Frage
Wenn man Lacans Bemerkungen zum „Begehren des Analytikers“ durchsieht, fällt auf, dass er fast immer von der „Frage des Begehrens des Analytikers“ spricht. Beim Begehren des Analytikers geht es um etwas, das in Frage steht. Für wen? Für den Analysanten.
Im Seminar über die Identifizierung heißt es:
„Insofern der Analytiker die Anwesenheit, die Stütze eines völlig verschleierten Begehrens ist, ist er dieses verkörperte ‚Que vuoi?‘.“2
Das Begehren des Analytikers ist für den Analysanten ein unbekanntes Begehren, ein Rätsel. Damit verkörpert das Begehren des Analytikers für den Patienten das „Que vuoi?“ (aus dem Graphen des des Begehrens3), also die Frage „Was willst du?“. Der Analysant fragt sich, was es mit dem Begehren des Analytikers auf sich hat (erste Bedeutung von „Que vuoi?“), und diese Frage bleibt die ganz Kur über offen, zumindest ist dies das Programm. Hierdurch wird der Analysant auf den Weg gebracht, sein eigenes Begehren zu erkunden. Auf dem Umweg über die Frage nach dem Begehren des Analytikers stellt also der Analytiker an den Analysanten die Frage nach dessen Begehren (zweite Bedeutung von „Que vuoi?“). Das Begehren ist das Begehren des Anderen, nur durch die Frage nach dem Begehren des Analytikers kann der Analysant seinem eigenen Begehren auf die Spur kommen (einem Begehren, das eben kein „eigenes“ Begehren ist, sondern das Begehren des Anderen: der Eltern, Großeltern usw.)
In einem Vortrag über Perversion beschreibt Jacques-Alain Miller das Begehren des Analytikers so:
„Perversion verlangt vom Analytiker, jede Gegenübertragung zugunsten des Begehrens des Analytikers zu unterdrücken, jenes Begehrens, das über die Aufhebung aller Überzeugungen und allen Wissens, das durch die Einführung eines Fragezeichens an der Stelle des Signifikates wirkt.“4
„Einführung eines Fragezeichens anstelle des Signifikats“, also anstelle einer Bedeutung – die Formel gefällt mir, vielleicht, weil sie auch mir – einem Nicht-Analytiker, der anderen allzu gern etwas beibringt – einen Wink gibt.
Lacan möchte, dass der Begriff „Begehren des Analytikers“ den der „Gegenübertragung“ ersetzt. Aber wie soll ein Analytiker mit der Gegenübertragung umgehen, also mit seinen unbewussten Reaktionen auf die Übertragung? Er soll sie „unterdrücken“, sagt Miller, und soweit ich es überblicke sagt Lacan nichts anderes. Wie kann man unbewusste Reaktionen unterdrücken?
Gegen die Identifizierung
Warum soll das Begehren des Analytikers für den Analysanten eine Frage bleiben? In Seminar 11 formuliert Lacan das so: Das Begehren des Analytikers bleibt für den Analysanten ein x und wirkt damit in eine Richtung, die der Identifizierung entgegengesetzt ist; dies ermöglicht ein Überschreiten der Identifizierung.5 Die Formel „Begehren des Analytikers“ steht demnach im Gegensatz zur Identifizierung mit dem Analytiker. Das Begehren des Analystikers soll für die Analysantin eine Unbekannte bleiben, und diese Unbekannte soll für sie so in Stellung gebracht werden, dass dies der Identifizierung mit dem Analytiker entgegenwirkt.
Die Mehrlust am Platz des Agenten
Im Diskurs des Analytikers (vgl. die Formel rechts) wird das Begehren des Analytikers repräsentiert durch das Objekt a bzw. die Mehrlust (plus-de-jouir) am Platz des Agenten (oben links), über dem Wissen (S2) am Platz der unbewussten Wahrheit (unten links).6
Im Diskurs des Analytikers ist das Objekt a als Mehrlust (d.h. als Symbol des Genussverlusts) am Platz des Agenten: der analytische Diskurs ist der einzige, der fragt, was es mit dem Genießen auf sich hat7, mit dem durch das Sprechen herbeigeführten Verlust an Genießen und der Ersatzbefriedigung im Symptom.
In Seminar 11 hatte Lacan erklärt: Das Begehren des Analytiker ist das,
„was den Anspruch auf den Trieb zurückbringt. Auf diesem Wege isoliert der Analytiker das a und bringt es auf größtmögliche Distanz zum I, das er, der Analytiker, wie das Subjekt verlangt, verkörpern soll. Der Analytiker muß von dieser Idealisierung herunter, um Träger des trennenden a sein zu können, und zwar, soweit sein Begehren es ihm erlaubt, in einer Art umgekehrter Hypnose, den Hypnotisierten zu verkörpern.
Ein solches Hinausgehen über die Ebene der Identifizierung ist möglich. Jeder, wirklich jeder, der mit mir, in der Lehranalyse, die analytische Erfahrung bis ans Ende durchlebt hat, weiß, daß ich die Wahrheit sage.“8
Der Patient appelliert an den Analytiker, das Ichideal zu verkörpern, dies ist die Ebene des Anspruchs. Dabei vermengt er das Ichideal (und damit den Anspruch) und das Objekt a (den Trieb). Zwischen dem Ichideal und dem Objekt a stellt der Analytiker eine Trennung her: er hört auf, als Ichideal zu fungieren und wird so zum Träger des Objekts a, er verwandelt sich für den Patienten, beispielsweise, in ein Stück Scheiße, in ein Symbol für den Genussverlust. In der Hypnose wird das Objekt, wie Freud sagt, an die Stelle des Ichideals gesetzt9; in einer Art umgekehrter Hypnose verkörpert der Analytiker dann den Hypnotisierten, also den vom Objekt a in Gestalt des Blicks Faszinierten, soweit sein Begehren das möglich macht. Der Wechsel von der Position des Ichideals zu der des Objekts a vollzieht sich nicht in der persönlichen Analyse, sondern in der Lehranalyse.
Im Verlauf einer (Lehr-)Analyse wird das Objekt a demnach in eine möglichst große Distanz zum Ichideal gebracht. Vielleicht soll eben das von der Formel für den Diskurs des Analytikers dargestellt werden. Das Objekt a ist hier am Platz oben links, der Herrensignifikant bzw. das Ichideal am Platz unten rechts, zwischen beiden liegt der größtmögliche Abstand.
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Nachträge
20. März 2014
Und hier eine andere Deutung des „Begehrens des Analytikers“. Monique David-Ménard schreibt über eine Patientin, die sie Laurence D. nennt:
„(D)ie Tatsache, dass die Gewalt und die ‚mörderische‘ Seite von Laurence D. mir schnell als ein provisorischer Stil erschienen sind, hat sicherlich die Rolle einer Aufforderung zur Wiederholung gespielt. Das ist das, was Lacan als das ‚Begehren des Analytikers‘ bezeichnet, d.h. die Tatsache, dass der Analytiker, eben durch seine Position, die Wiederholung radikalisiert, indem er ihr einen Platz anbietet, der anders ist als die gewöhnliche Wiederkehr der Symptome, in denen die Notwendigkeit sich verdichtet.“10
Worin besteht die Andersheit dieses Platzes?
„Ich bin versucht, auch dies als Kontingenz zu bezeichnen (denn das ist an eine Initiative der Analytikerin gebunden), diese Exteriorität eines neuen Stils, dessen Existenz sich dem Zuhören der Analytikerin verdankt und ihrer Entzifferung dessen, worum die Wiederholung sich eben dreht.“11
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Anmerkungen
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In den Écrits stellt Lacan die Frage nach dem Begehren des Analytikers zuerst in Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, einem Vortrag von 1958, der 1961 veröffentlicht wurde; siehe Schriften I, S. 205. Die Frage wird in den Écrits außerdem formuliert in: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten, in: Schriften II, S. 201; Die Stellung des Unbewussten, in: Schriften II, S. 223; Über den Trieb von Freud und das Begehren des Psychoanalytikers, in: Christian Kupke (Hg.): Trieb und Begehren. Parodos, Berlin 2007, S. 13-17.
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Seminar 9, Sitzung vom 9. Mai 1962, meine Übersetzung nach Version Staferla.
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Abbildung aus: J. Lacan: Subversion du sujet et dialectique du désir dans l’inconscient freudien. In: Ders.: Ècrits. Seuil, Paris 1966, S. 815.
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Jacques-Alain Miller: Über Perversion (Vortrag von 1989). In: Riss 65, 21. Jg. (2007), Heft 1, S. 37-55, hier: S. 40.
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Vgl. Seminar 11, Sitzung vom 24. Juni 1964; Version Miller/Haas, S. 288.
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Die Formel wird von Lacan in Seminar 17 von 1969/70 eingeführt, Die Kehrseite der Psychoanalyse.
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S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). In: Ders.: Studenausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000 S. 106.
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Monique David-Ménard: Éloge des hasards dans la vie sexuelle. Hermann éditeurs, Paris 2011, S. 38, meine Übersetzung.