Karl-Josef Pazzini
Paris 13-11-2015
„Der Mensch unterliegt der Evolution. Sein Museum auch.“
Werbung für die Wiedereröffnung des Pariser Musée de l’Homme („Museum des Menschen“)
nach dem Umbau von 2009 bis 2015 am 17. Oktober 2015
Vorbemerkung
Am 18. November 2015 sollte die Pariser Psychoanalytikerin Claire Nioche-Sibony in der Psychoanalytischen Bibliothek Berlin einen Vortrag halten, zum Thema „Über die ewige Frage nach der Übertragung in der Psychose“. Wegen der Terrorangriffe in Paris am 13. November wurde der Termin von ihr abgesagt. Karl-Josef Pazzini hatte daraufhin kurzfristig für denselben Zeitpunkt zur Diskussion über die aktuellen politischen Ereignisse eingeladen. Im Folgenden findet man seine einleitenden Bemerkungen zu diesem Treffen, zusammen mit dem Anschreiben, mit dem er den Text danach an die Mitglieder der Psychoanalytischen Bibliothek verschickt hat.
Rolf Nemitz
Ein Brief
An die Mitglieder der Psychoanalytischen Bibliothek Berlin
20. November 2015
Liebe Freunde,
hier findet Ihr meine Notizen zur Veranstaltung von Mittwoch.
Die Gesprächsrunde mit 18 Leuten war vor allem ein wenig tröstlich, weil so konzentriert verschiedene Perspektiven auf die vermutlich gleichen Ereignisse zusammentrafen.
Ich war damit beschäftigt die Gesprächsrunde zu leiten und habe kaum Notizen über den Gesprächsverlauf gemacht. Ich hatte mir aber vorher ein paar Notizen gemacht, mit denen ich eingeleitet habe und auf die ich zwischendurch zurückgriff.
Ich habe das auch an Claire Nioche geschickt.
Herzliche Grüße
Karl-Josef Pazzini
Karl-Josef Pazzini: Paris 13-11-2015
Notizen für eine Versammlung in der Psychoanalytischen Bibliothek am 18.11.2015
Heute Abend sollte es hier einen Vortrag über die Psychose geben.
Die Psychosen können unter anderem dadurch beängstigen, dass sie die geübten Eingrenzungen der Übergänge zwischen den Registern des Realen, Imaginären und Symbolischen anders gestalten, durchlässiger bis zum Einebnen dieser Grenzen, und überhaupt das, was Grenzen so sicher zu sein scheinen, befragen.
Claire Nioche-Sibony hätte von der Singularität der Psychose gesprochen und von der Schwierigkeit, die jegliche Institution damit haben muss. Die Eigenarten einer Institution haben wir alle zum Teil an uns.
Sie schrieb mir in der Nacht zum Sonntag, dass sie in Paris bleiben „muss“.
Da schwingt wenig von einer Entscheidung mit, man könnte sagen: Sie fühlte sich dazu gezwungen.
Sie ist seit Jahren politisch aktiv.
Psychoanalyse findet mindestens in einer Doppelbewegung statt. Sie zeigt die Notwendigkeit von Grenzen auf, sie überschreitet Grenzen, in der Kur, aber auch im Denken der Kur. Die Sitzungen in meiner Praxis waren seit Samstag alle auf unterschiedliche Art gezeichnet von den Pariser Ereignissen vom 13. November 2015. Nur ganz kurz: Eine Analysantin fühlte sich bei einem Stau in der U-Bahn zunächst wohl in einer Kollektivität, dann aber traurig, weil das nur eine negative Kollektivität war. Bei anderen belebte es Ängste, alte Geschichten von gewaltsamen Einbrüchen, auch über die Generationengrenzen hinweg. Bei wieder anderen fachte es Paranoides an. Ich war ratlos. was ja ein Glück für die Kur ist, aber auch in einer merkwürdigen Form engagierter.
Mich erreichte ein kurzes Schreiben von Jean-Luc Nancy über Oudée Dünkelsbühler aus Hamburg.
Das beginnt mit dem Satz „On preferait se taire“.1
Unter der Überschrift
„Le poids de notre histoire“2
schweigt er nicht. Den Terror sieht er in Zusammenhang mit unserer Geschichte. Unserer.
Er begründet den Wunsch zu schweigen mit dem überscharfen Bewusstsein, das uns fesselt, wegen der unentwirrbaren Komplexität von dessen Entstehung, der Verkettung der Prozessabläufe in einem globalen Umfeld, eines Bewusstseins, das in große wirtschaftliche und geopolitische Auseinandersetzungen verwickelt ist. Auf der Ebene des Denken ist es nicht die Stunde des „Es gibt da nur … / Das ist doch nichts anderes als“.
Solche Subsumtionen würden die Singularität nicht erfassen, jene Singularität, die aus der Reibung mit dem Zuordnungsprozess von Individuellem und Allgemeinen entsteht.
Nancy jetzt weiter: Aus eben denselben Gründen, weshalb man keinen Überblick haben kann, müsse man versuchen zu reden.
Es findet sich in Nancys Schreiben ein Gedanke , der mit Erfahrungen aus der Kur zusammengebracht werden kann:
Das, was am 13.11.2015 in Paris geschah, habe mit der Gründung der Groupe Islamique Armé in Algerien 1990 begonnen; diese Energie von damals sei in der letzten Woche in Paris angekommen, das habe eine Generation gedauert. Viele der Maschinengewehrsalven seien damals abgeschossen worden. Und die Anschläge seien der Beginn der Entwicklung einer neuen Generation.
Warum nicht – fragt Nancy, wenn ich ihn richtig verstehe – die Anstrengung verstärken, die totalitäre Erfahrung zu löschen, die in der Überzeugung läge, dass die einfache repräsentative Demokratie zusammen mit dem technischen und sozialen Fortschritt schon zutreffend reagieren könne auf die Herausforderungen, auch auf die, die vor langer Zeit entstanden wären, auf die des modernen Nihilismus und des „Unbehagens in der Kultur“ (Freud 1930)?
Er schreibt: Der liberale Fundamentalismus bestätige den grundlegenden Charakter eines sogenannten Naturgesetzes einer im Wettstreit unbegrenzten Produktion, einer technischen Expansion nicht weniger unbegrenzt, auch einer Reduzierung aller Arten von Recht, tendenziell unbegrenzt.
Das wäre gerade nicht die Anerkennung einer symbolischen Kastration, könnte man psychoanalytisch sagen; genau das machen Gegner und Feinde als Farce nach, indem sie sich alle Rechte nehmen, nicht einmal das, sie scheren sich nicht mehr darum.– (Nebenbei nachträglich: Die Anerkennung des Symbolischen und die Notwendigkeit des Imaginären als Schutz machen es auch möglich und drängen es auch auf, differenziert von „Wir“ zu reden, weil „wir“ uns nicht haben und nur in, auf, durch die Einnahme symbolischer Plätze coexistent werden und durch Phantasmen „uns“ schützen, die auch wohl unbewusst bleiben. „Wir“ kann natürlich auch Anmaßung, Ignoranz als Leidenschaft ausdrücken, wie in der Diskussion betont wurde.)
Nancy: Unser produktionistischer und naturalistischer Humanismus löse sich selbst auf und öffne den unmenschlichen, untermenschlichen und zu menschlichen Dämonen die Tore.
Er schreibt noch, dass wir wissen könnten und müssten, dass wir nicht einfach vor einer plötzlichen Entfesselung einer Barbarei stünden, die irgendwie vom Himmel fiele. Wir seien in einem Stadium der Geschichte, unserer Geschichte, der des Okzidents, der zu einer weltweiten Maschine geworden sei, panisch erschrocken vor sich selbst.
Anstatt irgendetwas zu verdammen oder zu rechtfertigen, bleibt zunächst zu fragen, ob es möglich ist, aus der je eigenen Sackgasse zu entkommen, die ja durch solche Ereignisse entsteht.
Nancy endet in meiner Einschätzung etwas defätistisch: „Als Augustinus in Hippo sprach, wohin die römischen Flüchtlinge nach der Einnahme Roms durch Alarich strömten, deklarierte er, ‚aus dem unterdrückten Fleisch muss der Geist hervorquellen‘. Wo heute den Geist finden?“
Hier natürlich.
Wenn wir heute Abend die Gelegenheit nutzen, um, aus der Psychoanalyse heraus, etwas zu den Attentaten in Paris zu sagen, dann wird das gekennzeichnet sein davon,
zu erraten,
welche Bildungen des Unbewussten eine Rolle gespielt haben,
welche Übertragungen und
Wiederholungen sich erkennen lassen,
welche Manifestationen des Triebs, die nie direkt zu erfahren ist.
Es ist vielleicht auch interessant zu erraten, warum z.B. Bomben in Syrien abgeworfen werden, wenn die Attentäter aus den Vororten von Paris und Brüssel stammen, dort die längste Zeit ihres Lebens verbracht haben, die eher nicht zu den absolut Abgehängten, kaum Gebildeten gehört haben.
Sie haben etwa Gleichaltrige ermordet, die anders lebten, in gewisser Weise erfolgreicher.
Aggressivität der Spiegelung, ohne Moderation?
Spielart des Klassenkampfs?
Spekulieren kann man über die Validität von Grenzen und deren Qualität: Wo ist denn Innen, wo Außen? Und eigenartiger Weise vermischt sich je individuell Subjektives und gesellschaftlich Staatliches. Sind die Auseinandersetzungen, die streng juristisch keine Kriege sind, sondern Aufstände und Kriminalität, Anzeichen des Anachronismus von Nationalstaaten, lösen sich die Bestimmungen eines autonomen Individuums parallel dazu auf, einer Struktur, die nach gleichem Muster gewebt ist wie der Nationalstaat?
Brauchen wir andere Denkformen, nämlich topologische, was sich schon länger andeutet?
Ist die gewünschte absolute Sicherheit, das Aussperren der Immigranten in Vorstädte, den Versuch, sie im Wesentlichen als Arbeitskraft zu sehen, nicht Manifestation des Todestriebs in Form einer Abstraktion, wie sie alltäglich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen vollzogen wird, wenn es nur noch um isolierte Optimierung von irgendetwas geht? auch die Optimierung aus dem: „Du sollst genießen!“
Ist die Berührungslosigkeit mit dem Gegner, dem Feind, dies nicht ebenso? Sarkozy fand als Innenminister dafür das Bild, das man mit dem Kärcher die Vorstädte reinigen muss.
Reinheitsphantasien.
Oder der Ausschluss von Bodenkrieg, wo man mit eben jenem Rest in Berührung käme? Ist es nicht so, dass das Symbolische und Imaginäre, das jeden schützt, nicht auch manchmal mit dem Leben attestiert werden muss, das heißt auch, dass man mit Leben bezahlt?
Es ist schon schwierig genug, der Toten vom Freitag zu gedenken, derer die ermordet wurden. Aber auch derjenigen, die gemordet haben?
Wie bleibt man bei der unumgänglichen Unterscheidung von Mörder und Opfer, die wir juristisch so eingerichtet haben? Wenn wir doch aus der Psychoanalyse wissen, wie wir durch Übertragung miteinander verknüpft sind, oder durch deren Abwehrformen Projektion, Introjektion, Identifizierung. Wie sind die Kosten der notwendigen Fiktion der individuellen Autonomie zu tragen?
Vielleicht muss man das so wie Karen Barad in Anlehnung an deren quantenphysikalische Forschungen als materielle Verschränkung denken?3
Wie die Schreckensmeldungen ankamen:
Es ist für mich erstaunlich, wie Botschaften von Gewalttaten mich erreichen. Auch dieses Mal. Es bestand eine Erwartung, eine Freude auf einen Vortrag. Es gab also schon so etwas, und davon gibt es mehrere, wie eine Standleitung / Übertragung nach Paris, also an den Ort der Gewalttaten. Aktuelle und vergangene. Es trifft dann stärker. Man schwingt mit. Und so kommen auch Verletzungen an und müssen hier besprochen werden. Andersherum kommt dort auch an, wenn man sich nach dem Befinden erkundigt, auch der (hilflose) Versuch zu trösten.
Die Zerstörung dort, wird zu einer Zerstörung und Störung der Vorstellungswelten hier.
Man kann in Zeitungskommentaren viele Selbstermächtigungsszenen nachlesen als Gegenreaktion auf diese Zerstörungen, die die Kennzeichen dieser Destruktion selbst haben.
Wie trägt man dem Rechnung, dass man wissen kann, dass die Attentäter wahrscheinlich nicht ohne die entsprechenden Projektionen, Ausgrenzungen, der Nicht-Anerkennung ihrer Eigenart zu dem geworden sind, das diese Taten befeuert hat? Ich hasse diese einfache Gewalttätigkeit, so wie ich die bramarbasierende Ermächtigung der sogenannten Autoritäten hasse, die erwartbarerweise leere Unterkünfte von Terroristen des Islamischen Staates bombardieren lassen. Und in der Umgebung dann mutmaßliche Terroristen töten, Terroristen, die ihr Star(t)kapital von Amerikanern habe.
Dieser Hass entstammt aber auch der Hilflosigkeit, dass ein differenziert erscheinendes Denken keinen Anschluss an Handlungsfähigkeit gefunden hat, die man selber spüren könnte. Vielleicht ist das der Preis, der zu zahlen ist, und die Verpflichtung, den Hass als Produktions- und nicht als Destruktionsmittel zu nutzen.
Über den Verfasser
Karl-Josef Pazzini (*1950) studierte Philosophie, Theologie, Erziehungswissenschaft, Mathematik, Kunstpädagogik und arbeitet als Psychoanalytiker in Berlin und in Hamburg, war von 1993 bis 2014 Professor für Bildende Kunst und Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Publikationen: zus. mit Gottlob: Einführungen in die Psychoanalyse I und II. (2005 und 2006) und die Reihe „Theorie Bilden“ im transcript Verlag • Zus. mit Schuller, Wimmer (Hg.): Wahn, Wissen, Institution. Undisziplinierbare Näherungen. 2005 • II. Zum Problem einer Grenzziehung. 2007 • Zus. Mit Lohmann; Mielich; Muhl; Rieger; Wilhelm (Hg): Schöne neue Bildung? Zur Kritik der Universität der Gegenwart. (2011) • zus. mit Zahn: Lehr-Performances. Filmische Inszenierungen des Lehrens. (2011) • zus. mit Sabisch; Tyradellis (Hg.): Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung. Zürich, Berlin: diaphanes 2013 • Bildung vor Bildern. Kunst • Pädagogik • Psychoanalyse. Bielefeld: transcript 2015 • Im Druck zus. mit Härtel: Scharf gestellt und umgedreht. Gerhard Richter Betty (1977). Textem: Hamburg
Kontakt: pazzini [at] gmx.de
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Anmerkungen
- Man würde lieber schweigen.
- Das Gewicht / die Last unserer Geschichte
- Barad, Karen (2015): Verschränkungen. Berlin: Merve. „Verschränkungen sollen nicht die Verbundenheit aller Wesen als Eins benennen, sondern vielmehr spezifische, materielle Beziehungen der fortwährenden Differenzierung der Welt. Verschränkungen sind Beziehungen der Verpflichtung – dem anderen verbunden sein / an das Andere gebunden sein / Verbindlichkeit – eingefaltete Spuren des Otherings. Othering, die Konstitution eines ‚Anderen‘, bedingt eine Verpflichtung gegenüber dem ‚Anderen‘, das irreduzibel und materiell an das ‚Selbst‘ gebunden ist und es durchwirkt – eine Diffraktion/Dispersion von Identität. ‚Andersheit‘ ist eine verschränkte Beziehung der Differenz (différance). […] Was wäre, wenn wir anerkennen würden, dass Differenzieren eine materielle Handlung ist, bei der es nicht um radikale Trennung geht, sondern im Gegenteil darum, Verbindungen und Verbindlichkeiten zu schaffen?“