Was der Andere liest
CallitADay, Tagebuchsoftware
A. schreibt mir über den Roman, an dem sie arbeitet. Die Protagonistin ist, gefesselt, einem Folterer ausgesetzt.
„Er peinigt sie mit ihrer eigenen Geschichte, er liest ihr Passagen vor, die sie geschrieben hat und sie soll ihm erklären, weshalb sie dieses getan und jenes gedacht hat.“
Mit Lacan: Der Sender erhält seine eigene Botschaft vom Empfänger in umgekehrter Form.1
Das Plot setzt eine Erfahrung in Szene, die mit dem Sprechen verbunden ist. Das Wort stiftet Beziehungen und erzeugt Verpflichtungen, unabhängig davon, ob man das will. Für jedes Wort kann man jederzeit zur Verantwortung gezogen werden. Mehr noch als für das gesprochene Wort gilt das für das geschriebene - scripta manent. Von einer solchen Inhaftnahme können Worte auch dann überrascht werden, wenn sie, wie in A.s Geschichte, einem geheimen Tagebuch anvertraut wurden. Das klandestine „Ich habe … getan“ und „Ich habe … gedacht“ des Subjekts verwandelt sich dabei in eine Botschaft des Anderen an das Subjekt über das Subjekt, in ein „Du hast also … getan!“ und in ein „Du hast also … gedacht!“.
In A.s Erzählung ist der Peiniger, spekuliere ich, ein Habermasianer, ein leidenschaftlicher Missionar jener Lehre, die besagt, dass jede Äußerung, sofern sie auf Widerspruch stößt, begründet werden muss und dass eine solche Norm dem Sprechen innewohnt. Entlastet durch diese Doktrin kann er es genießen, die Lust an der Narration in die Pflicht zur Argumentation umzuwandeln.
NACHTRAG vom 20.1.2013: Eine bessere Deutung der Formel „Der Sender empfängt seine eigene Botschaft vom Empfänger in umgekehrter Form“ findet man in diesem Blogeintrag. In Lacanscher Perspektive, das habe ich inzwischen begriffen, hätte der Roman folgende Pointe: Das Tagebuchs sammelt die Bemerkungen, die der Folterer der Protagonistin gegenüber früher einmal geäußert hat. Ihre geheimsten Gedanken sind die Sätze des Anderen.
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Anmerkungen
- Vgl. Lacan: Das Seminar über E.A. Poes „Der entwendete Brief“ (1957). In: Ders.: Schriften I. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, S. 7-60, hier: S. 41.– Die Formel findet sich, in unterschiedlichen Varianten,verstreut im gesamten Werk, zuerst in: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse (1953/56). In: Ders.: Schriften I, a.a.O., S. 141.– Vgl. außerdem: Seminar 2 (1954-55). Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau 1980), S. 70.- La psychanalyse et son enseignement (1957). In: Écrits. Le Seuil, Paris 1966, S. 439.- Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens (1960). In: Ders.: Schriften II. Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau 1975, S. 181.