Ödipuskomplex und weibliches Genießen
Zu Honorés Film Meine Mutter
Pierre (Louis Garrel) am Sarg seiner Mutter Hélène (Isabelle Huppert)
Standbild aus dem Spielfilm Meine Mutter (1:44:39), Drehbuch und Regie: Christophe Honoré
Frankreich, Spanien, Portugal, Österreich 2004, Copyright: cmv-Laservision Berlin
Was sehe ich, wenn ich mir Christophe Honorés Film Meine Mutter durch die Lacan-Brille anschaue?1
Ich beziehe mich nicht auf den Film insgesamt, sondern nur auf die Ebene der Handlung. Die Interpretationstechnik ist subsumierend: es geht mir darum, Lacans Begriffsapparat an einem Beispiel zum Laufen zu bringen, nicht darum, im Anschluss an Lacan Neues zu erfinden, auch nicht darum, dem Film cineastisch als Film gerecht zu werden oder gar zu bewerten, ob dies ein guter oder ein schlechter Film ist. Die Psychoanalyse ermöglicht kein ästhetisches Urteil; Freud und Lacan war das klar.2
Herzlichen Dank an Arndt Himmelreich für anregende Anmerkungen zur ersten Fassung dieses Artikels!
Handlung
Die Geschichte spielt in der Gegenwart. Hauptfigur ist der fromme, etwa 17jährige Pierre (Louis Garrel), der von seiner Großmutter aufgezogen worden ist und nun seine Eltern besucht, wohlhabende Franzosen, die auf Gran Canaria in einer Villa mit Personal leben. Pierres Vater (Philippe Duclos) stirbt kurz nach der Ankunft des Sohnes, und Pierre leidet unter dem Verlust.
Hélène (Isabelle Huppert), Pierres Mutter, enthüllt ihrem Sohn, sie sei eine „Schlampe“ und werde von niemandem geachtet; sie fordert ihn auf, sie so akzeptieren, wie sie sei.
Sie gibt ihm die Schlüssel zum Zimmer seines Vaters, wo er eine Sammlung von pornographischen Bildern findet, die ihn in Erregung versetzen. Er masturbiert, danach uriniert er auf die Fotos.
Pierre erklärt Hélène, er wolle von ihr wissen, was sie weiß. Sie arrangiert ein Treffen zwischen ihrer Freundin Réa (Joana Preiss), Pierre und ihr selbst. In der Straße eines Einkaufszentrums hat Réa, auf Wunsch von Hélène, Sex mit Pierre; Hélène schaut zu und gibt Réa die Anweisungen.
Danach sieht man die drei mit weiteren Personen beim Gruppensex. Pierre ergreift die sexuelle Initiative und dringt in Réa ein, die daran wenig Interesse hat. Anschließend wendet Hélène sich Réa zu. Hansi (Emma de Caunes), eine andere Freundin von Hélène, hält Pierre die Augen zu.
Danach verlässt Hélène ihren Sohn; sie seien zu weit gegangen, sagt sie ihm.
Pierre und Hansi werden ein Paar. Immer wieder fragt Pierre Hansi, ob sie sich ihm im Auftrag seiner Mutter zugewendet habe. Hansi lebt mit Loulou (Jean-Baptiste Montagut) zusammen, einem Mann mit masochistischen Neigungen. Sie spielt für ihn die Domina, hat daran aber wenig Interesse.
Loulou und Hansi, von Pierre aus gesehen (1:31:49)
Währenddessen geht Hélène, im Gespann mit Réa, einer Tätigkeit nach, die an Prostitution denken lässt; es ist nicht zu erkennen, ob sie Geld dafür nimmt. In ihr kommt die Befürchtung auf, dass Pierre sie vergessen haben könnte, und sie verliert das Interesse an ihrer bisherigen Lebensweise.
Sie kehrt zu Pierre zurück und fragt ihn, ob er mit ihr schlafen wolle; er ist einverstanden. Dann sieht man die beiden in einem Keller. Mit einem Skalpell zieht sie einen Schnitt in ihre Bauchdecke, dann legt sie Pierres Hand in die Wunde. Pierre beginnt zu masturbieren. Hélène schneidet sich mit dem Skalpell in den Hals und stirbt.
In der Schlussszene sieht man in einem Glassarg Hélènes Leiche, daneben Pierre, der sie betrachtet und dann zu masturbieren beginnt. Von einem Angestellten wird er aus dem Raum geschleppt.
Der schwache Vater
Pierres Vater ist ein schwacher Vater; er bezeichnet sich selbst so, gleich zu Beginn des Films. Er holt Pierre vom Flughafen ab und erklärt ihm:
„Ich würde gern etwas anderes tun oder mein Leben ändern. Aber leider habe ich mich immer von Dingen überrollen lassen, Dingen, die fremd für mich sind. Sie haben sich festgesetzt, Stück für Stück, sie haben alle meine Hoffnungen zerstört, und jetzt bestimmen sie über mich. Du verstehst sicher, das ist nicht das Leben, von dem ich in der Jugend geträumt habe.“
Der konkrete Vater ist immer ein schwacher Vater; Lacan wird nicht müde, das zu betonen. Die Schwäche eines Vaters besteht darin, dass er – wie alle anderen Menschen – von Dingen überrollt worden ist, die ihm fremd sind; in Lacans Terminologie: vom Diskurs des Anderen. Diese universale Schwäche wird im Film, wenn man so sagen darf, „diegetisiert“, zu einem Teil der vom Film konstruierten Welt: Pierres Vater jammert, er trinkt zu viel, er erleidet einen Unfall, an dem er stirbt.
Etwa in der Mitte der Handlung wird Pierre die normalisierte heterosexuelle Geschlechtsposition einnehmen, er wird sich als Mann begreifen, der in Beziehung zu einer Frau steht, zu Hansi. Wie ist das möglich, wenn der Vater ausfällt? Dadurch, dass die Mutter einspringt und ihren Sohn durch die verschiedenen Phasen des Ödipuskomplexes schickt.
Gestalten der Mutter
In der Beziehung zu Pierre übernimmt Hélène unterschiedliche Mutter-Funktionen.
Symbolische Mutter
Die Handlung des Films besteht aus vier deutlich getrennten Phasen:
- Pierre kommt in das Haus seiner Eltern; der Vater stirbt. Als er am Strand liegt, taucht Hélène überraschend auf und ist kurz darauf verschwunden, ohne dass er weiß, wohin.
- Hélène bringt Pierre mit Réa zusammen und steuert und beobachtet deren sexuelle Aktivitäten.
- Hélène verschwindet abrupt aus Pierres Leben, Pierre hat eine Beziehung zu Hansi, parallel geht die Mutter einer Tätigkeit nach, die an Prostitution denken lässt.
- Die Mutter taucht überraschend wieder bei Pierre auf, fordert ihn auf, mit ihr zu schlafen, und bringt sich um.
Die Mutter zeichnet sich dadurch aus, dass sie überraschend verschwindet und wieder auftaucht. Diese Existenzweise der Mutter bezeichnet Lacan als „symbolische Mutter“.3 Ihre Auftauchen und Verschwinden symbolisiert für das Kind ihr Begehren; es fragt sich, was das Objekt dieses Begehrens ist und versucht, dessen Platz einzunehmen.
Wahrheit und Wissen
Nachdem der Vater tot ist, sagt Hélène zu Pierre:
„Ich werde dich nie wieder anlügen.“
Sie bezieht sich auf ihn unter dem Aspekt der Wahrheit.
Später sagt Pierre zu ihr:
„Ich möchte wissen, was du weißt.“
Von der Ebene der Wahrheit wechselt er auf die des Wissens.
Hélène agiert in beiden Rollen, als Wahrheit und als Wissen. Sie zeigt Pierre, dass es hinter der Maske, die sie und der Vater aufgesetzt hatten, um die Jouissance geht, um das Genießen, um die Triebbefriedigung jenseits des Lustprinzips. Damit bringt sie die Dimension der Wahrheit ins Spiel, der Aufdeckung des Scheins.
Zugleich übernimmt sie die Rolle der allwissenden Lehrmeisterin, die Pierre in das Sexualleben einführt, vergleichbar mit der Erziehung von Eugénie durch Sainte-Ange und Dolmancé in Sades Philosophie im Boudoir. Das Wissen, das Hélène vermittelt, ist ein Können, ein Savoir-faire.
Hure und Heilige
Hélène ist, in der Perspektive von Pierre, Hure und Heilige. Diese Doppelposition der Mutter ist bekanntlich von Freud entdeckt und analysiert worden.4
Hélène offenbart sich Pierre und sagt:
„Ich bin eine Schlampe (salope), eine Sau (chienne), keiner respektiert mich.“
In einer Szene wird gezeigt, wie sie, zusammen mit Réa, als Prostituierte (oder im Stil einer Prostituierten) arbeitet.
Als Hélène Pierre für längere Zeit verlässt, sagt er zu ihr:
„Segne mich!“
und legt ihre Hand auf seinen Kopf.
Kurz nachdem Hélène ihn verlassen hat, fragt er in den Dünen eine Frau:
„Akzeptierst du, Mutter eines Gottes zu sein, Maria zu sein?“
Am Schluss des Films bekommt Hélène, mit der Schnittwunde an der Bauchseite, Züge von Jesus, dem, nachdem er am Kreuz gestorben war, von einem Soldaten mit einem Speer die Seite aufgestochen wurde.5
Hélène wird nicht nur mithilfe der christlichen, sondern auch durch Bezug auf die griechische Mythologie als Göttin kodiert. Der Name von Réa, mit der sie ein Paar bildet, spielt auf die Titanin Rhea an. Rhea ist die Tochter von Gaia, der Erd- und Muttergöttin. Bevor Hélène zu Pierre zurückkehrt, isst sie Erde – im wörtlichen Sinne, im Sinne der Geophagie. Die Inzestszene spielt in einem Keller, man darf wohl assoziieren: im Bauch der Erdmutter.
Der Eintritt in den Ödipuskomplex
Der Vater ist verreist, und Pierre verrät seiner Mutter, dass ihn das keineswegs stört, jetzt habe er sie ganz für sich allein.
Pierre und Hélène nach der Abreise des Vaters (8:17)
Hélène fordert Pierre auf, den Abend mit ihr in einem Einkaufszentrum zu verbringen, jeder werde denken, er sei ihr Liebhaber. Sie geht jedoch allein aus, und Pierre ist enttäuscht. Verzweifelt betet er zur Jungfrau Maria.
Damit beginnt der Eintritt in den Ödipuskomplex. Pierre ist zwar bereits 17, aber auf einer bestimmten Ebene der Handlung hat er den Ödpuskomplex noch nicht durchlaufen. Er ist von seiner Großmutter aufgezogen worden und hat seine Eltern offenbar nur selten gesehen.
Kurz darauf stirbt der Vater. Der Todeswunsch ist gewissermaßen in Erfüllung gegangen.
Der Schrank des Urvaters
Der Vater fällt aus, und Hélène übernimmt die Funktion, Pierre zu einem heterosexuellen Mann zu machen.
Als erstes gibt sie ihm die Schlüssel zum Zimmer des Vaters, mit dem Auftrag, dessen Sachen durchzusehen. Damit sorgt sie dafür, dass der Schein auffliegt und das dahinter verborgene Genießen aufgedeckt wird. Mit der Übergabe der Schlüssel agiert sie in der Dimension der Wahrheit.
Die Szene ist für Pierre zugleich ein erster Schritt zur Bildung der Vatermetapher. Der abgeschlossene Schrank mit den unzähligen Frauenbildern und Sexwerkzeugen ist eine traumartig verzerrte Gestalt des Urvaters aus Totem und Tabu, der alle Frauen besitzt und sexuell über sie verfügt, der die Söhne davon ausschließt, und der dabei außerhalb des Gesetzes steht. In dieser Szene, das wird sorgfältig vorbereitet, trägt Pierre den Schlafanzug seines Vaters; er identifiziert sich mit ihm als dem Herrn über alle Frauen.
Pierre masturbiert über den pornographischen Bildern seines Vaters (24:03)
Um welche Art des Genießens handelt es sich, wenn Pierre in dieser Szene masturbiert? Um phallisches Genießen? Keineswegs. Der symbolische Phallus wird dadurch konstituiert, dass die Mutter verboten ist.6 Deutete man den Film realistisch, so als handle er von wirklichen Menschen, wäre es naheligend anzunehmen, dass dieses Verbot bei Pierre längst installiert worden ist, schließlich ist er etwa 17 Jahre alt, und, soweit erkennbar, ist er nicht verrückt (aber wie will man das wissen?). Auf der Ebene der erzählten Handlung jedoch ist das Verbot noch nicht errichtet worden. Die Masturbation angesichts der pornographischen Fotos sorgt, unter diegetischem Aspekt, für schlichtes Penis-Genießen.
Die drei Phasen des Ödipuskomplexes
Der Phallus sein
Hélènes nächste Intervention besteht darin, Pierre eine Sexualpartnerin zuzuführen, Réa. Réa ist die Geliebte und Lebenspartnerin von Hélène; im Film wird das nur angedeutet, in der Romanvorlage wird die Enge dieser Bindung stärker herausgestellt.
Hélène (links) führt Réa zu Pierre und fordert sie auf, mit ihm Sex zu haben (45:29)
Pierre schläft mit Réa, unter den Augen der Mutter, die Réa die Anweisungen gibt. Pierre ist dabei völlig passiv, absolut folgsam. Er fragt sich, worauf sich das Begehren seiner Mutter richtet, und er bemüht sich, genau diesen Platz einzunehmen.
In Lacans Schema von den drei Phasen des Ödipuskomplexes ist dies der erste Schritt: das Kind versucht, den Platz des Objekts des Begehrens der Mutter zu besetzen.7 In Seminar 6 nennt Lacan diese Position „der Phallus sein“, der imaginäre Phallus der Mutter sein, das Objekt, das sie zu einem Ganzen ergänzt.8
Réas sexuelle Interaktion mit Pierre hat in dieser Szene einen deutlich analen Akzent. Bevor es zum Genitalverkehr kommt, stimuliert sie mit ihren Fingern und ihrem Mund seinen Anus. Das entspricht der ödipalen Beziehung zur Mutter; eine der Grundlagen dieses Verhältnisses ist die Analerziehung und damit die anale Form der Triebbefriedigung.
Mit dem Schema der masochistischen Sexualität aus Kant mit Sade und aus Seminar 10 lässt sich die Sex-Szene im Einkaufszentrum so rekonstruieren9:
Die linke Seite des Schemas ist die von Pierre, die rechte die seiner Partnerinnen: Hélène (rechts oben) und Réa (rechts unten).
– a: Objekt a. Im Phantasma hat Pierre die Funktion des analen Objekts; nicht sein Penis ist das entscheidende Körperteil in dieser Szene, sondern sein After.
– V: Wille zum Genießen. Hélène verkörpert den Willen zum Genießen. Sie initiiert und steuert den Sex zwischen Pierre und Réa. Sie tut dies in einem Einkaufszentrum, also in der Öffentlichkeit. Damit agiert sie in dieser Szene nicht nur als die individuelle Mutter von Pierre, sie verkörpert zugleich das anonyme Publikum als eine Gestalt des Anderen.
– $: das ausgestrichene Subjekt, das Subjekt, das dabei ist, aus dem Diskurs des Anderen zu verschwinden.10 Pierre artikuliert in dieser Szene einige Worte, aber er hat nichts zu sagen; aus dem Diskurs der Anderen, von Hélène und Réa, ist er ausgeschlossen. Zu Réa sagt er: „Hallo, küss mich“, und Réa antwortet: „Nein, das ist nicht der Kuss, von dem ich gesprochen habe“, und wendet sich seinem Hintern zu. Die beiden Frauen geben die Anweisungen, ohne sich darum zu kümmern, was er will. Die Mutter sagt zu Réa: „Zieh ihn aus“, Réa sagt zu Pierre: „Los, zieh das aus!“ „Los, komm hoch.“
– S: das reine Subjekt der Lust. Diese Position nimmt Réa ein. Dies ist eine der Entdeckungen von Lacan: zum sadistischen und zum masochistischen Phantasma gehört, dass jemand die Position des reinen, des „nicht durchgestrichenen“ Lustsubjekts einnimmt. Réa ist „die Wildeste, die ich kenne“ sagt Hélène über sie – wild, das heißt, von der Sprache nicht ausgestrichen. Die Paradoxie besteht darin, dass die wilde Réa Hélène aufs Wort folgt. Reines Lustsubjekt ist Réa für Pierre, nicht für Hélène.
Die Konfrontation mit dem potenten Anderen
Als Pierre das zweite Mal mit Réa Sex hat, ist er nicht mehr passiv, sondern aktiv. Er ergreift die Initiative, gegen ihren Willen dringt er in sie ein, und diesmal ist es Réa, die völlig passiv ist. Dieser Sexualakt ist für sie eine ziemliche Quälerei, man sieht’s ihr an. Die Mutter hatte Pierre gegenüber den Vater als Vergewaltiger geschildert, und in dieser Szene identifiziert er sich mit diesem Zug seines Vater. Durch den Wechsel von der totalen Passivität zur einseitigen Aktivität übernimmt er die tradierte Kodierung männlich = aktiv, weiblich = passiv.
Nachdem er mit Réa Sex hatte, wendet Hélène sich Réa zu, streichelt sie und beginnt, sich auszuziehen. Der Zuschauer ahnt, dass für Réa die Interaktion mit Hélène befriedigender sein wird als die mit Pierre.
Während dieser Szene blättert Hansi in einem Buch, in Don DeLillos The Body Artist. Der Hinweis ist deutlich: Pierre ist nicht gerade ein body artist; im Vergleich zu Hélène hat er noch viel zu lernen.
Als die Interaktion zwischen den beiden Frauen beginnt, hält Hansi Pierre die Augen zu. „Er kann es nicht mit ansehen“ lautet der Ausdruck, der hier in Szene gesetzt wird; die sexuelle Beziehung zwischen Hélène und Réa ist für ihn unerträglich. Anders gesagt: Hélènes body art ist für Pierre real, im Lacanschen Sinne des Wortes „real“: sie kann von ihm weder imaginiert noch symbolisiert werden. Hélène ist hier für ihn die reale Mutter.
Hansi hält Pierre die Augen zu (57:10).
Das Zuhalten der Augen ist zugleich eine Anspielung auf die Blendung, auf ein klassisches Symbol für die Kastration. Pierre beginnt den Kastrationskomplex zu durchlaufen, in dem für ihn der Ödipuskomplex kulminiert. Ihm wird die Möglichkeit versperrt, den Platz des Objekts des Begehrens der Mutter einzunehmen, und darin besteht, Lacan zufolge, die Kastration.
In Lacans Schema von den drei Phasen des Ödipuskomplexes ist dies der dritte Schritt: der Vater (der hier von Hélène ersetzt wird) erweist sich als potent, als derjenige, der den Phallus hat.11
Das Verbot
Nach dieser Szene beschließt Hélène, aus Pierres Leben zu verschwinden. Sie packt die Koffer und setzt sich ins Auto.
Hélène (im Auto) verlässt Pierre (59:46)
Als Pierre die Tür öffnet, sagt sie zu ihm:
„Bleib wo du bist. Komm nicht herein. (…) Hör zu, Pierre, ich verzichte darauf, dich zu sehen (je renonce à te voir). Wir können nie mehr ohne dieses Chaos (désordre) zusammenleben. Wir dürfen uns im Augenblick nicht mehr treffen.“
Er fordert von ihr, dass sie ihn segnet, nimmt ihre Hand und legt sie auf seinen Kopf. Damit akzeptiert er die Trennung; zugleich zwingt er Hélène ein Trennungsritual auf. Die Phase des Ödipuskomplexes kommt zu einem Abschluss.
Dadurch, dass Hélène Pierre verlässt, installiert sie eine Barriere zwischen sich und ihm. Das ist die übliche Art und Weise, wie das Inzestverbot artikuliert wird – nicht durch verbale Proklamation, sondern dadurch, dass zwischen Mutter und Kind ein Hindernis errichtet wird. Diese Aufgabe kommt, Lacan zufolge, dem Vater zu12; da er ausfällt, springt die Mutter ein, sie blockiert sich selbst. Durch das Einrichten dieser Barriere erfolgt der Übergang von der désordre zur ordre; eine symbolische Ordnung wird errichtet.
In Lacans Schema ist dies die zweite Phase des Ödipuskomplexes.13
Der neurotische Mann und die phallische Frau
Nach der Trennung von der Mutter ist Pierre sexuell normalisiert. Er hat darauf verzichtet, „der Phallus (der Mutter) zu sein“, und dadurch ist es ihm möglich, „den Phallus zu haben“, sich als Mann zu identifizieren, in Übereinstimmung mit seinem biologischen Körper. Von dieser Position aus trifft er, so sieht es aus, eine heterosexuelle Objektwahl, eine Wahl, die sich auf Hansi richtet. Er liebt sie: er will, dass sie bei ihm ist, und dazu gehört, dass er sie gelegentlich schroff auffordert, zu verschwinden.
Immer wieder fragt Pierre Hansi, ob sie möglicherweise im Auftrag seiner Mutter handelt. Damit ist er in der Position des Neurotikers. Das neurotische Subjekt ist eine Frage, und die Frage bezieht sich auf das Begehren der Anderen, hier auf das Begehren von Hansi und das Begehren seiner Mutter: Que vuoi? Was willst du?14
Hansi hat eine Beziehung zu einem weiteren Mann, zu Loulou. Die sexuelle Position von Loulou ist die des femininen Masochismus, im Sinne von Freud, nicht in dem von Helene Deutsch.15 Loulou hatte sich gefragt, was eine Frau ist, und er hatte darauf eine Antwort gefunden, die ihn glücklich macht: eine Frau ist für ihn jemand, der kocht und andere bedient, jemand, der gehorsam Befehle befolgt und der sich schlagen lässt. Wie Pierre hält er sich an die binäre Codierung aktiv/passiv.
In der Beziehung zu Loulou übernimmt Hansi die Rolle der Domina. Das Verhältnis zwischen den beiden ist jedoch nicht sado-masochistisch. Hansi ist keine Sadistin, sie genießt es nicht, Loulou herumzukommandieren und zu schlagen; als Zuschauer fragt man sich, was sie an ihn bindet.
Nur einmal scheint sie beim Schlagen ein wenig in Erregung zu geraten, Pierre wird einbezogen, und am nächsten Morgen ist er schockiert: „Nie wieder.“ Anders als der Pierre der Romanvorlage wird der Pierre des Films nicht schrittweise an die Perversion herangeführt. Er wird mit Perversionen konfrontiert, aber er wird nicht pervers. Im Gegensatz zu den Erzählungen von Bataille und Sade beruht der Film von Christophe Honoré nicht auf der Annahme, dass eine Erziehung zur Perversion möglich ist.
Pierre ist auf das Verhältnis von Hansi zu Loulou angewiesen. Durch diese Beziehung ist sie für ihn die Frau mit dem Seil (mit dem sie Loulou fesselt), mit der Peitsche (mit der sie ihn schlägt). Sie ist für ihn nicht die Frau, die der Phallus ist, sondern diejenige, die den imaginären Phallus hat – jedoch so, dass sie dabei demonstriert, dass sie ihn eigentlich nicht hat, dass er ihr also fehlt.
Pierre und Hansi mit Reitgerte (1:12:39)
Der Name Hansi findet sich bereits bei Bataille; vielleicht soll er daran erinnern, dass die Beziehung zum anderen Geschlecht keine Beziehung zum anderen Geschlecht ist. Sie wird über die Peitsche vermittelt, über den Phallus.
Nach der Begegnung mit Hansi als Besitzerin einer Reitgerte hat Pierre zum ersten Mal Sex mit ihr. Seine Jouissance, seine genitale Triebbefriedigung, stützt sich in dieser Situation auf das vorher präsentierte phallische Element und ist insofern ein phallisches Genießen.
Weibliches Genießen
Hélène verlässt Pierre und geht mit Réa der Prostitution nach oder einer Tätigkeit, die so aussieht. Es kommt es zu einem Wendepunkt. Sie fürchtet, dass Pierre sie vergessen hat, und damit verliert sie das Interesse an dem, was ihr bisher Lust gemacht hatte, an ihrer bisherigen Art des Genießens. Zu dieser Jouissance gehörte, auf Pierre zu verzichten; auch dies ist eine Form des phallischen Genießens, der phallischen Schmerzlust: sie genoss die Kastration.16 Jetzt sagt Hélène zu Réa:
„Ich glaube, es ist geschafft. Es ist doch passiert. Ich glaube, ich habe keine Lust mehr. (…) Es ist aus, Ende. Ich hab eh das Beste draus gemacht. Nun ist alles ausgebrannt, Ende.“
Sie macht die Erfahrung der Leere, und dieses Erlebnis ist die Voraussetzung für einen Akt.17 Bis dahin war sie in der Beziehung zu Pierre die treusorgende Mutter, die für die Entwicklung ihres Kindes alles tat und sogar das größte Opfer brachte: auf das Kind zu verzichten und es in die Unabhängigkeit zu entlassen. Am Schluss des Films wird sie zur Geliebten von Pierre, die durch einen extremen Akt dafür sorgt, dass er sie nie wird vergessen können.
Hélène kehrt zu Pierre zurück, Réa im Schlepptau, und fordert ihn auf, mit ihr zu schlafen. Er willigt ein. In der anschließenden Szene sind Hélène und Pierre allein. Hélène fährt mit einem Skalpell über ihr Gesicht und sagt:
„Es ist nicht falsch, was wir hier machen, falsch ist der Wille, es überleben zu wollen. Du kennst mich nicht. Du verstehst mich nicht.“
Mit dem Skalpell schneidet sie sich seitlich in die Bauchdecke, man sieht eine lange Schnittlinie. Pierre sagt:
„Du bist meine Mutter und meine Liebe.“
Sie nimmt seine Hand und legt sie auf die Wunde, dann öffnet sie seine Hose. Er beginnt zu masturbieren. Sie greift nach dem Skalpell und schneidet sich in den Hals. Während er masturbiert, stirbt sie.
Pierre legt seine Hand in Hélènes Schnitt (1:41:16)
Die Szene war durch eine Erzählung von Loulou angekündigt worden. Loulou hatte berichtet, dass er eine Beziehung zu einem Mann hatte, der ihn mit einem Fleischermesser traktierte; zuerst machte dieser Partner einen Schnitt unterhalb von Loulous Bauchnabel, dann setzte er ihm das Messer an die Kehle, und Loulou dachte, es sei vorbei.
Durch den Schnitt in den Bauch wird eine klassische kindliche Sexualtheorie realisiert, man denke an Der Wolf und die sieben Geißlein. Insofern vollzieht Hélène eine passage à l’acte, sie realisert auf tödliche Weise eine im Kindesalter gebildete Phantasievorstellung. Zugleich verwandelt sich Hélène durch diesen Einschnitt in den gekreuzigten Jesus, dem ein Soldat mit einer Lanze einen Schnitt in die Seite zufügt, und Pierre wird zu Thomas, der die Hand in diese Wunde legt und dadurch weiß, dass er dem Auferstandenen gegenübersteht18.
Mit der Erregung in dieser Situation und mit dem Schmerz, der mit den beiden Schnitten verbunden ist, verwirklicht Hélène eine Lustbefriedigung nicht nur jenseits des Lustprinzips, sondern auch jenseits des phallischen Genießens. Sie realisiert ein anderes Genießen, ein „weibliches Genießen“, wie Lacan es nennt.19 Weiblich ist dieses Genießen insofern, als Hélène hier nicht mehr als Mutter agiert, sondern als Frau: als Pierres Geliebte.20
Dieses andere Genießen bezieht sich, darauf hatte Lacan hingewiesen, auf einen Anderen.21 Für Hélène ist dieser Andere der gekreuzigte Jesus, mit dem sie sich zugleich identifiziert. Sie steht also in Beziehung zu zwei Männern. Pierre ist für sie der Liebhaber, der sie niemals vergessen darf; Jesus ist für sie – wie für eine verzückte Nonne – der Bräutigam, mit dem sie sich im Genießen zu vereinigen sucht.
In welcher Beziehung steht das weibliche Genießen zum Todestrieb? Der Todestrieb ist der Drang, an den Ursprung der Einschreibung des Signifikanten zurückzukehren, an den Punkt, von dem aus sich eine andere symbolische Ordnung errichten lässt.22 Diese Ur-Einschreibung wird von Hélène durch die beiden Schnitte wiederholt, durch das gewaltsame Eindringen zweier Linien in ihren Körper, zweier traits unaires, zweier Einzelstriche, wie Lacan in Seminar 9 sagt.23
Zu diesem anderen Genießen hat Pierre keinen Zugang. Seine Art und Weise, mit Hélène zu schlafen, ist die Masturbation, die typische Form des phallischen Genießens, wie Lacan sagt.24 Anders als Hélène kann er sich der phallischen Funktion – der Kastration – nicht entziehen, nicht einmal für einen Augenblick; Hélène ist und bleibt für ihn die Mutter, die untersagte Mutter. Wie Hélène sagt: er versteht sie nicht – er versteht sie nicht als Frau.
In Freudscher Sicht: Vor die Wahl gestellt zwischen der libidinösen Besetzung der Mutter und dem narzisstischen Interesse am Penis wählt er den Penis. Ursache ist die Angst vor der Kastration, die sich auf die Vorstellung stützt, die Frau sei kastriert; durch den Schnitt in den Bauch von Hélène wird diese Kastrationsphantasie in Szene gesetzt.25
Der Phallus, auf den sich in dieser Szene Pierres Genießen stützt, ist Hélène, nicht etwa sein Penis. Hélène entzieht sich ihm durch den Selbstmord, und damit wird sie für ihn zum symbolischen Phallus: zum Symbol für das Genießen, das er auf immer verloren hat. Der Verlust wird durch zwei Schnitte herbeigeführt, durch die Einschreibung einer Signifikantendifferenz in einen Körper. Pierres Genießen stützt sich auf diesen Verlust-Signifikanten und wird dadurch zum phallischen Genießen.
Das Phantasma des Mannes
Der Film schließt mit einer weiteren Masturbationsszene. An einem unbestimmten Ort (in einem Krematorium?) betrachtet Pierre die tote Hélène, die in einem Glassarg liegt, vgl. die Abbildung zu Beginn dieses Artikels. Er masturbiert. Von einem Angestellten, der ihn dabei erwischt, wird er aus dem Raum geschleppt.
Pierre trauert, um die Mutter und darum, dass ihm das inzestuöse Genießen für immer unmöglich ist. Die Beziehung zur Mutter ist keine Beziehung des Genießens, der Triebbefriedigung; die Mutter kann nur geliebt und begehrt werden. Die Masturbation am Sarg der Mutter ist Pierres Art und Weise, zu akzeptieren, dass er sich auf Hélène nicht als Frau beziehen konnte, dass er in die phallische Funktion eingeschlossen ist, in die Kanalisierung der sexuellen Lüste durch den Bezug auf das phallische Bild, hervorgerufen durch die Übernahme des Inzestverbot, durch die „Vatermetapher“. 26
Die Szene enthält prägnant die Komponenten des Phantasmas, wie sie von Lacan mit der Formel $ ◊ a bezeichnet werden:
$, das durchgestrichene Subjekt: Pierre masturbiert und wird von einem Mann gewaltsam entfernt. Dies ist die Aphanisis, das Verschwinden des Subjekts. Das, was das Subjekt umtreibt, das Begehren nach dem Begehren der Mutter, hat in der symbolischen Ordnung keinen Platz, es gibt keinen Signifikanten des Subjekts. Zum zweiten Mal wird hier die symbolische Ordnung als Trauerordnung ins Spiel gebracht; zu Beginn des Films war dies der Moment, in dem Pierre von seiner Mutter aufgefordert wurde, über den Tod seines Vaters Trauer zu zeigen: zumindest solle er auf den Boden schauen.27
◊, die Raute als Schnitt: Hélène liegt in einem Glassarg, wie Schneewittchen. Das Glas bildet eine deutliche Kante, die horizontal über das gesamte Bild läuft (siehe das Bild zu Beginn des Artikels), sie trennt das Gesicht von Pierre (oben) vom Körper der toten Hélène (unten). Diese Linie repräsentiert den Schnitt, das Intervall zwischen den Signifikanten, hier in das imaginäre Register transponiert, als das, was das Subjekt vom Objekt trennt.
a, das Objekt a: Die Leiche ist die Mutter, insofern sie verloren ist; der tote Körper fungiert als Restobjekt, als Objekt a.
Ein Mann entfernt Pierre vom Sarg mit der toten Hélène (1:45:16)
In dem namenlosen Mann, der Pierre aus dem Raum schafft, erscheint im Film erstmals eine verbietende Vaterfigur.28 An die Stelle des Sich-selbst-Versagens, wie es von Hélène eine Zeitlang praktiziert worden war, tritt die gewaltsame Intervention eines Dritten.
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Anmerkungen
- Ma mère – Meine Mutter. Drehbuch und Regie: Christophe Honoré. Frankreich, Spanien, Portugal, Österreich 2004; Koproduzent: Bernard-Henri Levy.
Der Film beruht auf dem Roman Ma mère von George Bataille, der 1966 postum veröffentlicht wurde: Deutsch: G. Bataille: Meine Mutter. In: Ders.: Das obszöne Werk. Übersetzt von Marin Luckow. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1977, S. 79-170. - Vgl. Jaques Lacan: Lituraterre (1971). In: Ders.: Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 12.
- Vgl. Seminar 4.
- Vgl. S. Freud: Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne (1910).
- Johannes 19, 34.
- Vgl. in diesem Blog den Artikel Der Phallus.
- Vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 223-225.
- Vgl. Seminar 6, Version Miller, S. 256 f.
- Vgl. in diesem Blog den Artikel Das masochistische Begehren.
- Vgl. in diesem Blog den Artikel Das Verschwinden des Subjekts: Fading, Aphanisis.
- Vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 226 f.
- Vgl. Lacan, Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 219.
- Vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 225 f.
- Vgl. in diesem Blog den Artikel Que vuoi? Die Frage nach dem Begehren des Anderen.
- Vgl. S. Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 346 f.
Zum Unterschied zwischen Freuds und Deutschs Auffassung des femininen Masochismus vgl. im Blogartikel Das masochistische Begehren den „Exkurs zum femininen Masochismus“. - Vgl. Geneviève Morel: Ambiguïtés sexuelles. Sexuation et psychose. Anthropos, Paris 2000, S. 163.
- Vgl. Morel, a.a.O., S. 163.
- Johannes 20, 24-29.
- Vgl. Seminar 20 von 1972/73, Encore, Version Miller/Haas u.a., S. 83.
- Instruktiv zu Lacans Begriff des weiblichen Genießens: Jacques-Alain Miller: Des semblants dans la relation entre les sexes. In: La Cause freudienne, Nr. 36, 1997, S. 7-16, im Internet hier.– Morel, a.a.O., Kapitel V: „Anatomie analytique: les trois temps de la sexuation“.
- Vgl. Seminar 20, a.a.O., S. 88.
- Vgl. in diesem Blog den Artikel „Zweiter Tod“ und „Zwischen-zwei-Toden.
- Zum trait unaire im Sinne des Einzelstrichs vgl. in diesem Blog Lacans Bemerkungen zum Zählstock, das Bild der Schnittserie in dem Film Secretary sowie den Hinweis auf das Referat von Coelen und Nioche zum trait auf der Tagung „Sprachen der Psychoanalyse“.
- Vgl. Seminar 20, a.a.O., S. 88.
- Vgl. Freud: Der Untergang des Ödipuskomplexes (1924). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 5. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 248.
- Lacans Formel für die phallische Funktion ist Φ (x), „große Phi von x“, wobei x für das Genießen steht und Φ für den Phallus in seiner Funktion, urververdrängt zu sein, „niemals zu sprechen“; vgl. Seminar 18, Version Miller, S. 170.
- Zum öffentlichen Charakter des Trauerns in lacanianischer Perspektive vgl. Darian Leader: The new black. Mourning, melancholia and depression. Penguin Books, London 2009, Kapitel 2.
- Diesen Gedanken übernehme ich von Arndt Himmelreich.