Die Lust am ausgestrichenen Anderen (Feld JȺ im Diagramm der borromäischen Ringe)
Lacans Anwendung der borromäischen Ringe auf die Psychoanalyse2
Im dreidimensionalen Knoten selbst gibt es keine Überschneidungsbereiche. Was ist ihre Entsprechung? In Seminar 22 skizziert Lacan hierzu ein Argument, das ich so verstanden habe: In der zweidimensionalen Darstellung lässt sich jeder Überschneidungsbereich durch drei Punkte charakterisieren, auf ähnliche Weise wie ein Dreieck durch seine drei Eckpunkte: durch drei „Doppelpunkte“, wie die Mathematiker sagen, also durch drei Punkte, an denen die Ringe sich überschneiden, und zwar so, das einer oben liegt und einer untern. Im Bild rechts sind die Doppelpunkte des Überschneidungbereichs JȺ gelb markiert. Doppelpunkte können auch im dreidimensionalen Knoten erzeugt werden, man muss nur dafür sorgen, dass zwei Ringe sich berühren. Einem Überschneidungsbereich entspricht dann im dreidimensionalen Knoten eine Konstallation von drei bestimmten Doppelpunkten. Im nächsten Schritt wird der dreidimensionale Knoten so verzurrt, dass die drei Doppelpunkte eines Bereichs sich berühren. Der Berührungspunkt von drei bestimmten Doppelpunkten ist die Entsprechung zu einem Überschneidungsbereich im geplätteten Knoten.3 Mir ist nicht klar, ob das mathematisch haltbar ist.
In Seminar 17 hat Lacan das Feld der jouissance einmal als das Lacansche Feld bezeichnet.4 Die Zuordnung der vier Begriffe zu den Überschneidungsfeldern findet man zuerst in dem Vortrag Die Dritte (1. November 1974) und dann in Seminar 22 von 1974/75, RSI. Die Überschneidungsbereiche beziehen sich auf die Lust; man wird also sagen dürfen, dass der geplättete Knoten mit den Überschneidungsbereichen das Lacansche Feld darstellt. Das Zusammenwirken des Imaginären, des Symbolischen und des Realen erzeugt vier verschiedene Arten des Genießens, vier Lustarten: die mit dem Sinn verbundene Lust, phallische Lust, Mehrlust und Lust des ausgestrichenen Anderen.
JȺ: Terminologie
Der Ausdruck „Lust des ausgestrichenen Anderen“ (jouissance de l’Autre barré) wirft folgende Fragen auf:
(1) Was ist „Lust“?
(2) Wie funktioniert hier der Genitiv?
(3) Wer ist der Andere?
(4) Warum wird der Andere von Lacan gelegentlicht mit Gott gleichgesetzt?
(5) In welchem Sinne ist der Andere ausgestrichen?
(6) Wie verhält sich das Symbol JȺ zum Symbol S(Ⱥ)?
(7) Was also meint der Ausdruck insgesamt?
Lust
Jouissance meint bei Lacan in etwa das, was Freud „Lust“ oder „Lustbefriedigung“ nennt; der Ausdruck wird meist mit „Genießen“ übersetzt. Ich wechsele im Folgenden zwischen „Lust“ und „Genießen“. Zur Übersetzung vgl. diesen Artikel in diesem Blog.
Lust des ausgestrichenen Anderen: Genitivus objectivus
Der Ausdruck „Lust (jouissance) des Anderen“ verwendet Lacan erstmals in Seminar 10, Die Angst (1962/63), dort für die Lust auf der Seite des Anderen in der masochistischen Beziehung, die der Masochist, wie er meint, zu befriedigen sucht.5 Wie ist der Genitiv bezogen auf die „Lust des ausgestrichenen Anderen“ im Knoten aufzufassen, subjektiv oder objektiv? Geht es um die Lust auf der Seite des Anderen (Genitivus subjectivus) oder um die Lust, bei welcher der Andere genossen wird, bei welcher er oder sie das Lustobjekt ist (Genitivus objectivus)?
In der Formel „Lust des ausgestrichenen Anderen“ ist der Genitiv ein Genitivus objectivus. Das Symbol JȺ bezieht sich auf das Den-Anderen-Genießen, Lust am Anderen haben, und nicht auf die Lust auf der Seite des Anderen. In einer Bemerkung zum oben abgebildeten Schema sagt Lacan in Seminar 22, RSI:
„Was ich tatsächlich zeigen muß, ist dies, daß es kein Genießen des Anderen, Genitivus objectivus, gibt, und wie sollte mir das gelingen, wenn ich auf Anhieb so genau zuschlage, daß der Sinn getroffen wird und dadurch das Genießen ins Mitschwingen gerät, das den verdammten Phallus ins Spiel bringt (= die Ex-sistenz selbst des Realen, also, um mein Register zu verwenden: R in zweiter Potenz), oder auch das, was die Philosophie zu zelebrieren erstrebt.“6
Im selben Seminar heißt es später:
„Wenn das, was es mit dem Unbewussten auf sich hat, am Ort des Anderen lokalisiert ist, und wenn ich hier die Bemerkung gemacht habe, dass es keinen Anderen des Anderen gibt, d.h. dass das, was in meinem kleinen bildlichen Schema des borromäischen Knotens charakterisiert ist durch eine besondere Betonung des Lochs in dem, was konfrontiert ist, wenn ich so sagen kann, was mit dem Symbolischen konfrontiert ist, und das ich gezeigt habe, denke ich das letzte Mal, indem ich hier ein J eingefügt habe, gefolgt von einem großen A (JA), was ich übersetzt habe, was ich zu äußern versucht habe als das Genießen des Anderen bezeichnend, Genitivus nicht subjectivus, sondern objectivus“7.
Und hier ein weitere Verwendung von „Genießen des Körpers des Anderen“, diesmal doppeldeutig:
Lacan bezieht sich auf die Schöpfungsgeschichte der hebräischen Bibel, in der es heißt, dass Gott dem Menschen (Adam) einen Partner gibt, der ihm fehlt.
„Der ihm wie fehlt? – dadurch, daß er behaphtet (aphligé) ist, so zu schreiben, realerweise behaphtet mit einem Phallus, der ihm das Genießen des Körpers des Anderen versperrt (barre).“8
Dadurch, dass Adam mit einem Phallus geschlagen (affligé) ist, hat er keinen Zugang zum Genießen des Körpers des Anderen. Die Stelle kann doppelt gelesen werden: (a) Das Genießen, das sich auf der Seite des Anderen ereignet, ist Adam nicht zugänglich. (b) Adam hat keine Möglichkeit, den Körper des Anderen zu genießen.
Die jouissance de l’Autre ist also die Lust am Anderen.
Der Andere: der Körper des anderen Geschlechts
Mit dem Anderen ist hier der Körper des anderen Geschlechts gemeint und keineswegs der Andere als Versammlungsort der Signifikanten. Im RSI-Seminar heißt es:
„Das ist nicht so wie bei mir, der ich nur bezeugen kann, dass ich irre, ich irre umher in diesen Intervallen, die ich versuche, für Sie zu situieren, des Sinns, des phallischen Genießens, und eben des dritten Terms, den ich nicht aufgeklärt habe, weil er es ist, der uns den Schlüssel zum Loch gibt, zum Loch, so wie ich es bezeichne. Es ist das Genießen, das nicht den Anderen des Signifikanten anginge, sondern den Anderen des Körpers, den Anderen vom anderen Geschlecht.“9
Der Andere: Gott
Der Begriff des Anderen wird von Lacan aber auch mit „Gott“ übersetzt:
„Das heißt, dass es etwas gibt, das wir nicht genießen können. Nennen wir es das Genießen Gottes, mit dem darin enthaltenen Sinn des sexuellen Genießens.“10
Gott ist derjenige, an den man glaubt11, der andere des anderen Geschlechts ist für mich dann Gott, wenn ich an ihn glaube.
Lacan rekonstruiert hier Freuds These über die Spaltung der Objektbeziehung in Lieben und Begehren: „Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben.“12 Man hat das später den Heilige-Hure-Komplex oder Madonna-Hure-Komplex genannt. Freud kommt zu dem Ergebnis: „Es klingt wenig anmutend und überdies paradox, aber es muß doch gesagt werden, daß, wer im Liebesleben wirklich frei und damit auch glücklich werden soll, den Respekt vor dem Weibe überwunden, sich mit der Vorstellung des Inzests mit Mutter oder Schwester befreundet haben muß.“13
Ausstreichung des Anderen
Mit der Ausstreichung ist gemeint: „Es gibt nicht“. In der Beziehung zum Körper des anderen Geschlechts (A) gibt es etwas nicht (Ⱥ); was es hier nicht gibt, ist eine bestimmte jouissance (J), nämlich eine Lust auf Seiten des Subjekts, die darauf beruht, dass sich das Subjekt auf einen Körper des anderen Geschlechts bezieht.
„Es ist klar, wenn es nicht Genießen des Anderen als solchen gibt, d.h. wenn es keinen Garanten gibt, dem man im Genießen des Körpers des Anderen begegnen könnte und der bewirken würde, dass das Genießen des Anderen als solchen existiert – hier ist das offenkundigste Beispiel für das Loch, für das, was nur durch das Objekt a gestützt wird, aber durch ein Missverständnis (maldonne), durch Verwirrung.“14
Wenn man den Körper des Anderen genießt – wenn man beim Sex mit einem Menschen des anderen Geschlechts in Erregung gerät –, gibt es nichts, was beweisen könnte, dass die Lust sich tatsächlich insofern auf den Anderen bezieht, als er oder sie zum anderen Geschlecht gehört. Lacans Formel hierfür ist: „Es gibt kein sexelles Verhältnis“.
Nach der bereits weiter oben zitierten zweite Bemerkung über den Genitivus objectivus fährt Lacan fort:
„ich habe unterstrichen, dass da ganz speziell das verortet ist, was – ich glaube legitimerweise, gesunderweise -, den Begriff korrigiert, den Freud vom Eros hat, als einer Verschmelzung, als einer Vereinigung. In dieser Hinsicht habe ich gelegentlich den Akzent darauf gesetzt, mehr oder weniger bevor ich diesen borromäischen Knoten herausgebracht habe, ich habe den Akzent darauf gesetzt, dass es sehr schwierig ist, dass zwei Körper miteinander verschmelzen. Es ist nicht nur sehr schwierig, sondern es ist ein Hindernis der gängigen Erfahrung.15
Verhältnis zwischen JȺ und JΦ
In Seminar 20 von 1972/73, Encore, sagt Lacan,
„die phallische Lust ist das Hindernis, durch das es dem Mann nicht gelingt, möchte ich sagen, Lust am Körper der Frau zu haben, und zwar genau deshalb, weil das, woran er Lust hat, diese Lust ist, die des Organs.“16
Es gelingt dem Mann nicht, den Körper der Frau zu genießen; hierfür steht im borromäischen Knoten das Symbol JȺ. Die phallische Lust wird dort mit JΦ bezeichnet. Zwischen beiden Formen der Lust gibt es eine Beziehung. Die phallische Lust hat zur Folge, dass der Mann sein Organ genießt, dass sein Genießen sich auf die Penislust beschränkt. Die Penislust wiederum führt dazu, dass er nicht Lust am Körper seiner Partnerin haben kann.
Verhältnis zwischen S(Ⱥ) und JȺ
Das Symbol JȺ bezieht sich auf ein unzugängliches Genießen, also wäre zu erwarten, dass Lacan das J durchstreicht. Tatsächlich streicht er das A durch, warum? Ich nehme an, um damit an die Formel S(Ⱥ) zu erinnern, für „Signifikant des ausgestrichenen Anderen“, von Lacan eingeführt in Seminar 6 von 1958/59, Das Begehren und seine Deutung.
Im Grafen des Begehrens hat S(Ⱥ) seinen Platz am oberen linken Schnittpunkt.17 S(Ⱥ) meint: Es gibt keinen Signifikanten, der die Wahrheit des Anderen garantieren könnte. In Seminar 6 hatte Lacan das Symbol S(Ⱥ) auch so erläutert: „es gibt keinen Anderen des Anderen“18, im Sinne von : Es gibt niemanden, der das letzte Urteil über die Wahrheit des Anderen sprechen könnte. Vgl. hierzu diesen Blogartikel.
In Seminar 15 von 1967/68, Der psychoanalytische Akt, heißt es:
„Wir haben es also nur ein weiteres Mal mit einer neuen Übersetzung von S(Ⱥ) zu tun, wovon wir bereits verschiedene Äquivalente geliefert haben, und wodurch hier die Disjunktion zwischen Körper und Lust (jouissance) wiederaufgenommen wird, in Gestalt einer zeitlichen Disjunktion zwischen der erreichten Befriedigung und der angestrebten Wiederholung.“ 19
Demnach dient S(Ⱥ) auch als Symbol für die verfehlte Lust.
In Seminar 22, RSI, Lacan stellt die folgende Verbindung zwischen der verfehlten Garantie und der verfehlten Lust her:
„Es ist klar, wenn es kein Genießen des Anderen als solchen gibt, d.h. wenn es keinen Garanten gibt, der im Genießen des Körpers des Anderen anzutreffend wäre und der bewirken würde, dass den Anderen zu genießen existiert – hier ist das manifesteste Beispiel für das Loch, nämlich für das, was nur durch das Objekt a selbst gestützt wird, aber immer durch Vergeben (maldonne) (der Karten), durch Verwirrung.“ (Seminar 22, 21. Januar 1975, meine Übersetzung)
S(Ⱥ) meint anfangs: Es gibt keinen Garanten für die Wahrheit des Anderen. JȺ besagt: Es gibt im Genießen, das in der Beziehung zu einem Körper des anderen Geschlecht empfunden wird, keinen Garanten dafür, dass es tatsächlich das andere Geschlecht ist, das genossen wird.
Insgesamt
„Lust am ausgestrichenen Anderen“ meint also: Dem Menschen ist eine bestimmte Form der Lust nicht zugänglich: diejenige Lust, die durch die instinkthafte (durch Bilder gesteuerte) Beziehung zum Partner des anderen Geschlechts entstehen würde. Diese Lust ist für den Menschen deshalb unmöglich, weil er spricht; das Sprechen zerstört die natürliche, instinkthafte Beziehung zum Gegengeschlecht und die damit verbundene Lust. Heterosexualität ist so wenig natürlich wie Homosexualität.
Im Seminar über die Identifizierung (Seminar 9 von 1961/62) hatte Lacan es so formuliert:
„Der einzige reale Andere – denn es gibt keinen Anderen des Anderen, nichts, was die Wahrheit des Gesetzes garantieren würde –, der einzige reale Andere ist derjenige, dessen man ohne das Gesetz genießen könnte. Diese Virtualität definiert den Anderen als Ort: das Ding, das insgesamt ausgelöscht ist, auf seinen Ort reduziert, dies ist der Andere mit großem A.“20
Der reale Andere ist derjenige, dessen man ohne Gesetz genießen könnte, und eben dies ist unmöglich. Eine frühere Version des Begriffs „Genießen des ausgestrichenen Anderen“ ist der Begriff des Dings, den Lacan im Ethik-Seminar eingeführt hatte (Seminar 7 von 1959/60).
Die Position von JȺ im Knoten
Das Knotendiagramm zeigt, dass das Genießen des ausgestrichenen Anderen durch die Überlagerung des Realen und des Imaginären gebildet wird, wobei diese beiden Ringe vom Ring des Symbolischen zusammengehalten werden. Das Diagramm stellt außerdem dar, dass das Genießen des ausgestrichenen Anderen an das Objekt a angrenzt (oder dass das Objekt a ein Teil davon ist – die Zuordnung ist unklar).
Reales
Der Ring des Realen wird von Lacan in Seminar 22 (wie alle Ringe) unter drei Aspekten beschrieben: Konsistenz (d.h. Zusammenhalt des Rings in sich), Ex-sistenz (d.h. das Einander-Äußerlich-Sein der Ringe, ihre Nicht-Durchdringung) und Loch (das Loch eines Rings ist das, wodurch man die Hand stecken kann). Das Loch des Realen steht dafür, dass es kein kein sexuelles Verhältnis gibt. Damit ist gemeint, dass die sexuelle Beziehung zu einer Partner des Gegegengeschlechts keine Instinktgrundlage hat und dass auch die unbewusste Beziehung zu ihm nicht darauf beruht, dass der andere ein Mann oder eine Frau ist (vgl. diesen Blogbeitrag).
Im Vorwort von 1974 zu Frank Wedekinds Frühlingserwachen schreibt Lacan:
„Freud hat herausgefunden, dass das, was er Sexualität nennt, im Realen Loch macht.“21
In Seminar 21 bringt er das Loch im Realen mit der Formel zusammen, dass es keine sexuelle Beziehung gibt:
„Aber wir wissen alles, weil alles – wir erfinden ein Dingsda, einen Trick, um das Loch im Realen zu stopfen. Da, wo es keine sexuelle Beziehung gibt, ruft das ein Trauma hervor. Man erfindet. Man erfindet natürlich, was man kann.“22
Der Überschneidungsbereich JȺ gehört, wie das Diagramm zeigt, zum Loch im Realen. Anders gesagt: dass es kein Genießen des Anderen gibt, beruht darauf, dass es kein sexuelles Verhältnis gibt.
Imaginäres
Die imaginäre Seite ist die Vorstellung von der Verschmelzung, der Vereinigung der beiden Geschlechter, wie sie etwa Freud mit dem Begriff des Eros verbindet.23 Es gibt kein Genießen des Anderen meint auch: in der sexuellen Begegnung mit einem Menschen vom anderen Geschlecht wird keine Einheit hergestellt.
□ Ist überdies gemeint: „Bei dieser Begegnung spielt die Einheitsvorstellung jedoch eine entscheidende Rolle.“ ? Vermutlich.
Symbolisches
Der Bezug zum Symbolischen besteht darin, dass das Genießen des Anderen genau dadurch unmöglich ist, dass der Mensch ein sprechendes Wesen ist: die instinktgesteuerte Koordination mit dem Gegengeschlecht wird hierdurch zerstört.
Objekt a
Es gibt kein Genießen des Anderen meint: der Andere die Funktion des Objekts a, anders gesagt: die Beziehung zu ihm ist pervers24; im Diagramm des borromäischen Dreierknotens wird dies durch den zentralen Überschneidungsbereich dargestellt, der mit a gekennzeichnet ist.
Das ist die von Freud zuerst in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie dargelegte Auffassung: die Grundlage der Sexualität ist polymorph-pervers. Freuds These, dass die polymorph-perverse Sexualität durch das Genitalprimat überformt und zentriert wird, wird von Lacan nicht übernommen. Für Lacan gibt es ein Primat des Phallus-Signifikanten, und das meint gerade nicht ein Genitalprimat, nicht eine durch das Unbewusste ermöglichte Anpassung des Erregungsablaufs an einen Partner des Gegengeschlechts.
„Warum hat Freud den Eros als das Eine qualifiziert, indem er sich dem Mythos des Körpers anvertraute, des vereinten Körpers, des Körpers mit zwei Rücken, des völlig runden Körpers, indem er es wagte, sich auf diese Platonsche Ungeheuerlichkeit zu beziehen. Ist es nicht eine Tatsache, das wir einen anderen Körper, welchen auch immer, noch so sehr umschlingen mögen, das ist nichts anderes ist als das Zeichen der äußersten Verlegenheit (embarras)? Es kommt vor, dass wir, dank einer Tatsache, die von Freud offenkundig so verzeichnet wird, wie sie sich aufdrängt, nämlich der Regression, dass wir ihn überall lutschen. Was kann das aber bewirken? Abgesehen davon, ihn in Stücke zu zerlegen, ist nicht wirklich zu sehen, was man mit einem anderen Körper machen kann, ich meine mit einem anderen menschlich genannten Körper?25
In Jenseits des Lustprinzips stellt Freud den Gegensatz zwischen zwei Triebgruppen auf, zwischen Eros (oder Lebenstrieben) und Todestrieben. Der Eros, der die Sexualtriebe und die Selbsterhaltungstriebe umfasst, hat die Tendenz, immer größere Einheiten zu bilden. Hierfür bezieht Freud sich zustimmend auf den Mythos von der Entstehung der Zweigeschlechtlichkeit durch Halbierung eines Kugelmenschen, den Aristophanes in Platons Symposion erzählt.26
Wenn wir uns auf einen anderen Körper beziehen, sind die Partialtriebe am Werk. Lacan führt zwei Beispiele an: der Oraltrieb befriedigt sich darin, dass wir den anderen Körper lecken, der sadistische Trieb im Extremfall darin, dass wir den anderen Körper zerstückeln. Freud bezeichnet das als „Regression“. Anstelle des „Genießen des Anderen“ gibt es das polymorph-perverse Genießen, das, in Freuds Theoretisierung, auf Regression beruht; in Lacans Konzeptualisierung: das Objekts a.
Phallisches Genießen
In Seminar 20 heißt es:
„Die Lust, insofern sie sexuell ist, ist phallisch, d.h. sie bezieht sich nicht auf den Anderen als solchen.“27
Die phallische Lust, das phallische Genießen, bezieht sich auf den Körper des anderen nicht insofern, als dieser andere Körper ein Körper vom anderen Geschlecht ist.
Snn
Das phallische Genießen wiederum beruht auf dem Sinn.
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- Sinn im Knoten
- „Es gibt kein sexuelles Verhältnis.“
Anmerkungen
- Aus Seminar 23, Version Miller, S. 72, geändert/note]
Was meint „Genießen des ausgestrichenen Anderen“ – oder JȺ – in Lacans borromäischem Knoten?
[toc]
Der geplättete borromäische Dreierknoten
Die Abbildung oben zeigt Lacans „Plättung“ einer borromäischen Verkettung von drei gefärbten Ringen, d.h. eine Projektion der dreidimensionalen Verkettung in die zweidimensionale Ebene, von Mathematikern als „Diagramm“ bezeichnet. Die Ringe mit den Bezeichnungen R, S und I stehen für das Reale, das Symbolische und das Imaginäre. Sie sind borromäisch miteinander verknüpft – wenn man einen beliebigen öffnet, fallen alle auseinander.
Die Projektion des dreidimensionalen Knotens in den zweidimensionalen Raum führt dazu, dass Überschneidungsbereiche angezeigt werden, ähnlich wie in einem Euler-Diagramm. Lacan bezeichnet diese Felder als Sinn (sens), JΦ (phallische Lust, phallisches Genießen), JȺ (Lust oder Genießen des ausgestrichenen Anderen) und a (Objekt a bzw. Mehrlust).
Die Bezeichnungen Sinn, JΦ und JȺ beziehen sich nicht auf die gesamte linsenförmige Region, sondern auf die Linse abzüglich des mit einem a gekennzeichneten Bereichs.1In Seminar 22 heißt es in der Sitzung vom 11. Februar 1975: „Auf meinem kleinen Schema befindet sich der Sinneffekt in der Verbindung des Symbolischen und des Imaginären. Mit dem konsistenten Kreis des Realen steht er im Prinzip nur in einem Verhältnis von Äußerlichkeit. Ich sage im Prinzip, weil diese Äußerlichkeit den geplätteten Knoten unterstellt. Er ist geplättet, weil wir nur platt denken – man kann ihn aber ebensogut anders darstellen.“ Kleiner-Übersetzung, S. 29.
- Vgl. Seminar 22, RSI, Sitzung vom 18. März 1975; Kleiner-Übersetzung S. 49 und 53.
- Vgl. Seminar 17 von 1969/70, L’envers de la psychanalyse, Version Miller, S. 93.
- Vgl. Seminar 10, Version Miller/Gondek, S. 69, 75, 79, 191, 204 f., 221, 239, 336, 383; dort mit „Genießen“ übersetzt.
- Lacans Vorbemerkung zur Vorlesung vom 17. Dezember 1974 von Seminar 22, RSI, Übersetzung durch Max Kleiner, S. 9, Einfügung in Klammern von Lacan (die Kleiner-Übersetzung beruht auf der vorläufigen Miller-Ausgabe dieses Seminars).
- Seminar 22, Sitzung vom 11. Februar 1975, Version Staferla, meine Übersetzung; in der Kleiner-Übersetzung ist diese Passage nicht enthalten.
- Seminar 22, Sitzung vom 11. März 1975, Kleiner-Übersetzung S. 47.
- Seminar 22, Sitzung vom 17. Dezember 1974, Kleiner-Übersetzung S. 14.
- Seminar 23, Version Miller, S. 61, meine Übersetzung.
- Vgl. zum Unterschied zwischen „an jemanden glauben“ und „jemandem glauben“ Seminar 22, Sitzung vom 21. Januar 1975, Klei ner-Übersetzung S. 25.
- Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens (1912). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 5, S. 202.
- A.a.O., S. 205.
- Seminar 22, Sitzung vom 21. Januar 1975, Version Staferla, meine Übersetzung, Kleiner-Übersetzung S. 24.
- Seminar 22,11. Februar 1975, Version Staferla, S. 82.
- Sitzung vom 21. November 1972, meine Übersetzung nach Version Staferla; vgl. Version Miller/Haas u.a. S. 12.
- Abbildung aus: Seminar 6, Version Miller, S. 337.
- Seminar 6, Version Miller, S. 353, meine Übersetzung.
- Sitzung vom 28. Februar 1968, meine Übersetzung nach Version Staferla.
- Seminar 9, Sitzung vom 4. April 1962; meine Übersetzung nach Version Staferla.
- Lacan: Préface à L’Éveil du printemps. In: Ders.: Autres écrits. La Seuil, Paris 2001, S. 562, meine Übersetzung.
- Seminar 21 von 1973/74, Les non-dupes errent, Sitzung vom 19. Februar 1974, meine Übersetzung nach Version Staferla.
- Lacans oben zitierte Freud-Kritik bezieht sich auf Freuds Konzeption des Eros bzw. der Lebenstriebe in Jenseits des Lustprinzips, Teil VI, und in Das Ich und das Es, Kapitel IV, „Die beiden Triebarten“.
- Im Encore-Seminare heißt es: „Es gibt kein Geschlechtsverhältnis, weil der Genuß des Anderen, aufgefaßt als Körper, stets inadäquat ist — pervers auf der einen Seite, sofern der Andere sich reduziert auf das Objekt a — und auf der anderen, ich würde sagen, verrückt, rätselhaft.“ Seminar 20, Version Miller/Haas u.a., S. 157.
- Seminar 22, Sitzung vo 17. Dezember 1974, Version Staferla 22.8.2009, S. 39 f., meine Übersetzung.
- Vgl. S. Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 266 f.
- Sitzung vom 21. November 1972, meine Übersetzung; Haas u.a. übersetzen: „Der Genuß, als geschlechtlicher, ist phallisch, das heißt daß er sich nicht zum Anderen als solchen verhält.“ Seminar 20, Version Miller/Haas u.a., S. 13.