Ich – Ideal-Ich – Ichideal: der Zauberspiegel
National Geographic 2008
Lacan unterscheidet das Ich (moi, ego), das Ideal-Ich (moi idéal) und das Ichideal (idéal du moi). Worin unterscheiden sie sich und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander?1
Ich
Das Ich, sagt Lacan, ist
„die Vorstellung von sich selbst als Körper“2.
Die Selbstauffassung als Körper entsteht durch Identifizierung mit dem Bild des eigenen Körpers. Lacan zufolge vollzieht sie sich im Alter zwischen 6 und 18 Monaten, im sogenannten Spiegelstadium.3 Die Identifizierung besteht darin, dass für das Subjekt das Bild, das es erblickt, das Bild seines eigenen Körpers ist. Auf diesem Umweg begreift es sich als jemand, der einen Körper hat.
Menschenaffen, Elefanten und Delfine fassen ihr Spiegelbild als Bild ihres eigenen Körpers auf.4 Sie verfügen, in der Terminologie der Tierpsychologen, über ein Ich-Bewusstsein, in Lacans Begrifflichkeit: über ein Ich.
Was ist an der Spiegelbeziehung des Säuglings anders? Lacan zufolge: die Begeisterung. Menschen sind Frühgeburten, Gehirn und Motorik sind unfertig. Zwischen Körperempfindung und Bild gibt es beim Säugling eine Kluft, die größer ist als bei anderen Säugetieren. Beim Anblick der Totalität bricht er deshalb in Jubel aus.
Was heißt es, kein Ich zu haben? Manche Menschen können sich nicht im Spiegel wiedererkennen, sie erleben den eigenen Körper und die eigenen Bewegungen als fremd, sie haben den Eindruck, dass sie die Umwelt von einer Position außerhalb ihres Körpers wahrnehmen. Psychiater sprechen in solchen Fällen von Depersonalisierung, mit Lacan kann man sagen: diese Menschen haben kein Ich.
Mein Ich wird also immer dann aktiv, wenn ich vor den Spiegel trete, das Bild darin betrachte und es als ein Bild meines eigenen Körpers auffasse. Wenn ich in einer Schaufensterscheibe einen Menschen sehe und mich frage, wer das wohl sein mag, bis mir, mit einem kleinen Schock, klar wird, dass ich es bin, bekomme ich den Anflug einer Ahnung davon, was es heißen könnte, kein Ich zu haben.
Ideal-Ich
Das Ich ist für Lacan von Anfang an ein Ideal: das Spiegelbild vermittelt dem Säugling das Bild der Körperbeherrschung, womit es seine eigene Zerrissenheit überdeckt. Das Ich enthält also zwei Aspekte:
– Das Bild, das vom Subjekt gesehen wird, ist sein Bild.
– Das Subjekt nimmt sich als jemand wahr, der seinen Körper beherrscht.
Diese beiden Funktionen treten auseinander, dadurch, dass das Subjekt sein Körperbild an einem Ideal misst, das durch andere Individuen verkörpert wird. Dieses Vorbild ist das, was Lacan als Ideal-Ich bezeichnet. Das Ich steht zum Ideal-Ich in einer ambivalenten Beziehung: es eifert ihm nach und es richtet gegen dieses Vorbild seine Aggressivität – eine Aggressivität, die manchmal tödlich ist.5 Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Ideal-Ich ist das, was Lacan als das Imaginäre bezeichnet.
Das Ideal-Ich wird nicht unbedingt von Individuen verkörpert. Ich erinnere mich an meinen Schreck, als ich einmal im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung eine Konferenz besuchte, den Raum betrat und einen Blick auf die Gruppe warf. Alle waren ungefähr gleich gekleidet – und ich so wie alle anderen.6
Wenn jemand vor einen Spiegel tritt, bezieht er für gewöhnlich sein Ich – sein Spiegelbild – auf ein Ideal-Ich; dieses Ideal-Ich hat er im Kopf, es kommt aber auch vor, dass es als Poster über seinem Bett hängt. Fällt der Vergleich günstig aus, steigt die Stimmung, fällt er ungünstig aus, sinkt sie. Bei der Magersüchtigen wird der Vergleich des Ichs mit dem Ideal-Ich zu einer Art Folter.7
Wenn ein Schimpanse in einen Spiegel blickt, denkt er „Das bin ja ich“. Er denkt jedoch nicht „Ich habe schon besser ausgesehen“ – zumindest ist nichts darüber bekannt. Menschenaffen, Elefanten und Delfine haben ein Ich, aber vermutlich kein Ideal-Ich.
Ichideal
Das Ideal, an dem das Subjekt sein Ich misst, ist nicht sein eigenes. Das Ideal-Ich ist ein Bild, von dem das Subjekt annimmt, dass es für einen Anderen begehrenswert ist. Damit kommt ein Dritter ins Spiel: derjenige, der festlegt, welches Bild ideal ist und der darüber urteilt, ob das Subjekt diesem Vorbild entspricht oder ob es das Ideal verfehlt. Der Dritte fungiert als eine Art Schiedsrichter, er sagt die Wahrheit über das Ich im Verhältnis zum Ideal-Ich, und je nachdem wie der Vergleich ausfällt, spricht er Anerkennung aus oder verweigert sie.8 Der Dritte spricht – das Imaginäre verklammert sich hier mit dem Symbolischen. Das Subjekt steht zu diesem Dritten in einer doppelten Beziehung: es sucht ihm zu gefallen und es glaubt an ihn.
Die Funktion dieses Anderen kann von einem konkreten Individuum realisiert werden, sie kann aber auch von einer abstrakten Instanz erfüllt werden. Man macht sich zurecht, bevor man das Haus verlässt und verringert so den Abstand zwischen dem Ich und dem Ideal-Ich. Meist tut man das nicht für eine bestimmte Person, sondern für „die Leute“, für eine anonyme Öffentlichkeit, für „den Anderen mit großem A“, wie Lacan sagt.
Das Subjekt kann sich mit diesem Anderen, der es mit dem Ideal-Ich vergleicht, der das Urteil über es spricht und dem es gefallen möchte, identifizieren. Das Ergebnis dieser Identifizierung ist das Ichideal.9
Die Identifizierung hat die Form, dass ein bestimmtes Merkmal desjenigen, der für ihn den Anderen verkörpert, vom Subjekt übernommen wird, eine „Insignie“, wie es zunächst heißt10, ein „unärer Zug“, ein „einzelner Zug“, wie Lacan später sagen wird.11 Das kann alles Mögliche sein. Ich krame in meiner Erinnerung, mir fallen ein: die spezielle Barttracht, durch die sich V., als ich ihn kennenlernte, mit Lenin identifizierte; die wellenartige Handbewegung, mit der D. ein Merkmal der von ihr verehrten und geliebten G. kopierte; die grünen Schuhe, die U., ein Student und Freund, sich ausgerechnet bei mir, seinem Dozenten, abgeguckt hatte.
Mein Ichideal ist dadurch entstanden, dass ich mich mit dem Anderen durch Übernahme eines bestimmten Zugs identifiziert habe. Welches Merkmal habe ich von meinem Anderen übernommen? Etwa die Art (so huscht mir das gerade durch den Kopf), wie ich gelegentlich schlürfend die Luft durch den herabgezogenen rechten Mundwinkel einziehe? Ein Tick, den ich mir, weil er meinem Ideal-Ich widerspricht, abzugewöhnen versucht habe – leider vergeblich. Was ist das für ein geräuschvolles Luftholen? Jetzt, zum ersten Mal, fällt es mir ein: es ist das lautstarke, demonstrative, empörte Einatmen vor dem Ausruf „Entsetzlich!“. Mit diesem „unären Zug“ identifiziere ich mich mit einem Anderen, der ein vernichtendes Urteil über mich spricht.
Das Ichideal sagt dem Subjekt, was ein richtiger Mann ist oder eine richtige Frau. Es ist ein ziemlich unangenehmer Gefährte. Es spricht vernichtende Urteile über das Ich und kann es dadurch in eine Depression stürzen oder gar in die Melancholie.12
Die drei Ichinstanzen
Wenn ich vor den Spiegel trete und denke „Heute sehe ich endlich wieder passabel aus“, kommen demnach drei Instanzen ins Spiel:
– das Ich, insofern ich das Bild, das ich sehe, für das Bild meines eigenen Körpers halte,
– das Ideal-Ich, an dem ich mein Porträt messe – das Ich wird hierbei ein weiteres Mal aktiviert: als das, was durch den Vergleich mit dem Ideal-Ich bewertet wird,
– das Ichideal als diejenige Instanz, für die ich gut aussehen will, die also in der Lage ist, mein Ich mit meinem Ideal-Ich zu vergleichen und aufgrund dieses Vergleichs die Wahrheit über mich zu sagen: darüber, ob ich ein richtiger Mann bin.
In Lacans „Graphen des Begehrens“ findet man das Ich, das Ideal-Ich und das Ichideal in der unteren Etage; m (moi) steht für das Ich, i(a) für das Ideal-Ich und I(A) für das Ichideal (Bild anklicken, um es zu vergrößern) (zur Bedeutung von i(a) vgl. in diesem Blog auch den Artikel Bild des anderen und Ideal-Ich). Das Herausbrechen des „einzigen Zugs“ aus den Merkmalen des Anderen wird durch die Pfeillinie dargestellt, den ich grün gefärbt habe. Sie führt vom Schnittpunkt A (für den Anderen) über i(a) (das Ideal-Ich) und m (das Ich) zum Ichideal (I(A]. Der Pfeil veranschaulicht, dass das Ichideal vom Anderen herrührt und dass die symbolische Beziehung zwischen dem Anderen und dem Ichideal in das imaginäre Verhältnis zwischen dem Ich und dem Ideal-Ich eingreift.13
Das Ichideal reguliert die Beziehung zwischen dem Ich und dem Ideal-Ich; im Grafen des Begehrens ist das nicht sichtbar. Die regulierende Funktion des Ichideals steht im Mittelpunkt von Lacans „optischem Modell“ (rechts abgebildet).14 Das Ideal-Ich wird hier durch die aufrecht stehende Vase mit der Bezeichnung i‘(a) repräsentiert, das Ichideal durch den Buchstaben groß I oben rechts (I für „idéal“). Eine detaillierte Beschreibung des Schemas findet man in diesem Blog in den Beiträgen Erläuterung von Lacans optischem Modell und SI-Phi.
Der Zauberspiegel
Man erinnere sich an die Königin aus Schneewittchen.
„Sie hatte einen wunderbaren Spiegel; wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie:
‚Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?‘“
Die Königin beschaut „sich“ im Spiegel, für sie ist das Bild, das sie darin erblickt, das ihres eigenen Körpers. Die Königin verfügt demnach über ein Ich.
Schneewittchen verkörpert für die Königin das Ideal-Ich; die Königin steht deshalb, wie bekannt, zu ihrer Stieftochter in einer Beziehung tödlicher Rivalität.
Der Spiegel verkündet der Königin das Urteil über die Beziehung zwischen ihrem Ich und ihrem Ideal-Ich. Er sagt ihr:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.“
Auf Lacanesisch: Dein Ideal-Ich ist tausendmal schöner als dein Ich. Umgangssprachlich: Du bist keine richtige Frau.
Der Spiegel ist in der Beziehung der Königin zu Schneewittchen der Dritte: derjenige, der ihr Ich mit ihrem Ideal-Ich vergleicht, derjenige, der das Urteil über sie spricht – über sie als Frau –, derjenige, dem sie gefallen möchte und derjenige, mit dem sie sich identifiziert. Der Spiegel ist für die Königin das Ichideal.
Auf die Botschaft des Ichideals reagiert die Königin in der Weise, dass sie zur Mörderin wird. Sicherlich schützt sie sich durch diese frenetische Aktivität davor, in einer Melancholie zu versinken. Dabei hat sie offenbar kein schlechtes Gewissen – das Ichideal ist nicht das Über-Ich.
Die Königin identifiziert sich mit dem Spiegel, und zwar dadurch, dass sie ein bestimmtes Merkmal von ihm übernimmt, einen einzelnen Zug, einen unären Zug. Der Spiegel zeigt Frauen, die sich immer neu ankleiden; ergo zeigt sie sich Schneewittchen in wechselnden Kostümierungen. „Sich in wechselnder Verkleidung präsentieren“ wird für sie zur Insignie der Weiblichkeit. Sie identifiziert sich nicht mit dieser oder jener Verkleidung, sondern mit Wechsel, mit der Verschiedenheit, mit der absoluten Differenz: mit dem unären Zug. Ihr Ichideal gründet sich auf den unären Zug, d.h. auf den Narzissmus der kleinen Differenz.
Warum hört die Königin auf den terroristischen Spiegel? Im Märchen heißt es, weil
„sie wusste, dass er die Wahrheit sagte“.
Die Königin glaubt an den Spiegel. Sie ist Neurotikerin, Gefangene ihres Ichideals. Für sie ist undenkbar, dass der Spiegel sich irrt oder dass er lügt. Und wenn seine beständigen Wiederholungen sein Symptom wären? Wenn er nicht wüsste, was er da plappert? Das zu erfahren wäre für sie die Katastrophe – und die Rettung gewesen.
Verwandte Beiträge
- Das Spiegelstadium im Spiegel des Anderen
- Je und Moi im Aufsatz über das Spiegelstadium
- Mein einzelner Zug
- Der Sinn kommt vom Anderen
- Erläuterung von Lacans optischem Modell
- SI-Phi – Nachtrag zur Erläuterung des optischen Modells
- Herrensignifikant, S1: die Identifizierung
- Unärer Zug (I): primäre Identifizierung
Anmerkungen
- Zu diesem Artikel hat mich Geneviève Morels ausgezeichnete knappe Darstellung des Imaginären in La loi de la mère angeregt; Économica, Anthropos, Paris 2008, S. 120 f.
- Vgl. Seminar 23 von 1975/76, Das Sinthom, Sitzung vom 11. Mai 1976, Version Miller 2005, S. 150, Kleiner-Übersetzung S. 157.
- Vgl. J. Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (1949). In: Schriften I, hg. v. N. Haas, S. 61–70. Lacan stützt sich hier, ohne darauf hinzuweisen, auf die Forschungen von Henri Wallon. Vgl. Henri Wallon: Les origines du caractère chez l’enfant. Les préludes du sentiment de personnalité. Boivin, Paris 1934.– Vgl. Émile Jalley: Freud, Wallon, Lacan: l’enfant au miroir. EPEL, Paris 1998.
- Siehe etwa diesen Bericht.
- Dass die tödliche Aggressivität sich gegen das Ideal richtet, ist die Hauptthese von Lacans früher, vor-psychoanalytischer Arbeit Über die paranoische Psychose und ihre Beziehung zur Persönlichkeit (1932). In: Ders.: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia. Passagen Verlag, Wien 2002, S. 13–358.
- Die gruppenbildende Funktion des Ideal-Ichs bzw. des Ichideals behandelt Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921).
- Hierauf verweist Morel, a.a.O.
- Vgl. in Seminar 23 Lacans Hinweis auf den Schiedsspruch (arbitrage) und das Gottesurteil (ordalie) sowie auf den Schiedsrichter (englisch umpire), der, bezogen auf die Frage der Körperbeherrschung, in die Beziehung zwischen zwei Signifikanten eingreift; Version Miller 2005, S. 19.
- Die Termini „Ideal-Ich“ und „Ichideal“ übernimmt Lacan von Freud, aus dessen Aufsatz Zur Einführung des Narzissmus (1914). Freud verwendet die beiden Termini nebeneinander, ohne dass ein Unterschied klar zu erkennen wäre. Vgl. Freud: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 60 f.
Die Unterscheidung zwischen Ideal-Ich und Ichideal wird von Lacan eingeführt in Seminar 1 von 1953/54, Freuds technische Schriften, in der Sitzung vom 31. März 1954. Die ausführlichste Darstellung der Beziehung zwischen Ideal-Ich und Ichideal gibt er in dem Aufsatz Remarque sur le rapport de Daniel Lagache: „Psychanalyse et structure de la personnalité“ (Vortrag von 1958, überarbeitet 1960, veröffentlicht 1961), in: Écrits 1966,S. 647–684. Meine Übersetzung des einschlägigen Abschnitts dieser Arbeit findet man in diesem Blog hier. - Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 349; vgl. auch Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, Schriften I, S. 220
- Lacan stützt sich auf Freuds Formulierung von der Identifizierung mit einem „einzigen Zug“ (S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). In: Ders: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 100). Er übersetzt das in Seminar 9 mit trait unaire und meint damit den „unären Zug“, den „einzelnen Zug“, auch den „Einzelstrich“; man kann also mehrere „einzige Züge“ haben. Die Gleichsetzung von „Insignie“ und „einziger Zug“ wird von Lacan vorgenommen in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten, Schriften II, S. 192; in der deutschen Übersetzung ist das nicht erkennbar, da das französische Wort insigne dort falsch mit „Zeichen“ übersetzt wird.
- Vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 343, 345.
- Abbildung aus: Lacan: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten. In: Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 193, vollständiger Graf, Ausschnitt.
- Abbildung aus: Lacan: Remarque sur le rapport de Daniel Lagache: „Psychanalyse et structure de la personnalité“, a.a.O., S. 674, Abbildung 2.