Jacques Lacan:
D’un discours qui ne serait pas du semblant
Über einen Diskurs, der nicht vom Schein wäre
Seminar 18 von 1971
Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Rolf Nemitz, mit großzügiger Unterstützung durch Gerhard Herrgott. Nach den Versionen Staferla und Espaces Lacan. Einzige deutsche Übersetzung. Veröffentlicht in diesem Blog zwischen dem 13. Mai 2016 und dem 10. März 2017.
(Worte in blauer Schrift sind Links, die zu den Übersetzungen führen)
(1) Sitzung vom 13. Januar 1971
Titel in der Miller-Version: „Introduction au titre de ce Séminaire“
– „Diskurs“: als Struktur und als Artefakt
– „Schein“: als Himmelserscheinung und als Signifikant an sich selbst
– Eine Parabel über die Signifikantenakkumulation
– „vom Schein“: Genitivus objectivus und „subjectivus“
– „nicht wäre“: implizite Existenzbehauptung
– Stützpunkt: Freud über Wiederholung und Jouissance
– Mehrlust: das Unmögliche
– „Ein Diskurs, der nicht von Schein wäre“: Ein Diskurs, der das Unmögliche ins Zentrum stellen würde
Sekundärliteratur zu Seminar 18
(2) Sitzung vom 20. Januar 1971
Titel in der Miller-Version: „L’homme et la femme“
– Worauf Lacan hinauswill: Kohärenz von Psychoanalyse und Wissenschaft
– Das Reale in den Wissenschaften und in der Psychoanalyse
– Mehrlust im Diskurs des Führers und Rassismus
– Der Schein und das Reale in der sexuellen Beziehung
– Darstellung des Realen – der unmöglichen Jouissance – durch den Mythos
– Unterschiedliche Beziehungen von Mann und Frau zum Verhältnis von Jouissance und Schein
(3) Sitzung vom 10. Februar 1971
Titel in der Miller-Version: „Contre les linguistes“
– Der unerreichbare Referent
– Keine doppelte Artikulation im Chinesischen
– Metonymie als Stütze der Mehrlust
– Mencius über xing (Natur) und ming (Dekret des Himmels)
(4) Sitzung vom 17. Februar 1971
Titel in der Miller-Version: „L’écrit et la vérité“
– Mencius über Mehrlust als Diskurseffekt
– Schema si: (1) Wirkungen der Sprache: Es gibt kein sexuelles Verhältnis (Phallus), (2) Sprache als Ursache: pas / Nicht / Schritt, (3) Faktum des Geschriebenen
– Sprache als demansion, der Andere als Ort der Wahrheit, eingesetzt von einer Fiktionsstruktur
– Geschriebenes als Grundlage der Logik
– „Es gibt kein sexuelles Verhältnis“: Verhältnis im Sinne der Abbildung von Mengen
– Der Phallus: das Organ, insofern es die weibliche Jouissance ist
– Aussagenlogik: das Quadrantenschema von Peirce und der Urvater-Mythos
– Phallus-Instrument als Ursache der Sprache
(5) Sitzung vom 10. März 1971
Titel in der Miller-Version: „L’écrit et la parole“
– L’achose (das Unding)
– Zu Derridas Grammatologie
– Sprechen über Geschriebenes: Graphen und Sprechen, Wissenschaft und Schrift
– Programmierung und Unbewusstes
– Rückwirkung des Geschriebenen auf das Sprechen
– Das Geschriebene als Wortvorstellung
– Das Seminar über Poes Entwendeten Brief
(6) Sitzung vom 17. März 1971
Titel in der Miller-Version: „D’une fonction à ne pas écrire“
– Selbstkommentar zum Poe-Aufsatz: die Letter und der Phallus, die Struktur in ihrer Unmöglichkeit
– Homogenisierung von Anschauung und Begründen durch das Geschriebene in der Mathematik (Buchstabe und Zeichnung)
– Die spezielle Dummheit des Subjekt: es weiß, dass die Letter einen Sinn hat, aber der Sinn entgeht ihm
– Unterschied zwischen dem Erzähler und demjenigen, der schreibt
– Der Urvater genießt „alle Frauen“, aber es ist unmöglich, „alle Frauen“ zu sagen
– Nicht-mehr-als-eins am Ursprung der Schrift
– „Die Frau“ (die nicht existiert) hat nichts mit dem Gesetz zu tun; Symbolisierung der sexuellen Jouissance durch die verbotene Jouissance
– Quantorenlogische Darstellung der Unmöglichkeit des sexuellen Verhältnisses: eine Funktion, die nicht geschrieben werden kann (Beginn der Ausarbeitung der Sexuierungsformeln)
(7) Sitzung vom 12. Mai 1971 – Lituraterre (I)
Titel in der Miller-Version: „Leçon sur Lituraterre“
– litura: der Küstenstreifen
– a letter, a litter: das Beste, was man von einer Psychoanalyse erwarten kann
– Der Buchstabe: das Litoral zwischen Wissen und Jouissance
– Das Unbewusste hat den Vorrang und steuert die Funktion des Buchstabens; der Signifikant ist nicht der Buchstabe
– Die Schrift ist nicht die Bahnung, nicht die Einprägung
– Das Subjekt ist bezeichnet durch das Auslöschen des Strichs
– Durch die Streichung der Spur wird die Litura zur Terra
– Beim Signifikanten geht es um den Schein par excellence
– Der Buchstabe unterscheidet sich vom Schein dadurch, dass er Bruch ist und eine Form auflöst, abzüglich der Jouissance
– Schrift ist die Auswaschung des Signifikats im Realen
– Die Schrift ist im Realen und der Signifikant im Symbolischen
– Ist es möglich, vom Litoral aus einen Diskurs zu bilden, der nicht vom Schein wäre? Das ist die Frage, die sich der Avantgardeliteratur stellt, die eine Sache des Litorals ist
– Schrift in der Funktion des Referenten
– Durch den Bezug auf den Buchstaben kann das Verdrängte seinen Ort finden
(8) Sitzung vom 19. Mai 1971
Titel in der Miller-Version: „L’homme et la femme et la logique“
– Funktionale Äquivalenz von Geschriebenem und Jouissance
– Der Buchstabe („Der gestohlene Brief“) bezieht sich auf das sexuelle Bedürfnis und auf das geschriebene Gesetz und stellt eine Frage zum fiktiven Charakter des sexuellen Verhältnisses
– Der Bestimmungsort, den der Brief immer erreicht, ist das im Phantasma gespaltene Subjekt
– Rolle des Aufschreibens für die Verifikation in der Wissenschaft
– Das sexuelle Verhältnis kann nicht geschrieben werden
– Das Subjekt der Allgemeinaussage ist rein symbolisch
– Aussage in der Quantorenlogik: Quantoren, Variable bzw. Unbekannte, Prädikat; Darstellung der vier Aussagearten in der Schreibweise der Quantorenlogik
– Die Negation des Quantors (diskordantiell) und die Negation des Prädikats (verwerfend)
– Mann und Frau als Unbekannte (x), Phallus als Prädikat
– Die sexuelle Sackgasse in der Logik: Männer sind in der phallischen Funktion als „jeder Mann“; Frauen sind in der phallischen Funktion als „eine Frau“
– Gründung von „jeder Mann“ durch den Urvater aus Totem und Tabu, der „alle“ Frauen genießt
– Die Hysterikerinnen zeigen die Wahrheit des sexuellen Verhältnisses
– Beziehung einer Frau zum Mann: au moins un (mindestens einer / zumindest einer) / hommoinzin (Mann-minus-Dings)
(9) Sitzung vom 9. Juni 1971
Titel in der Miller-Version: „Une homme et une femme et la psychanalyse“
– Das Geschriebene und der Schrei
– Mann und Frau sind Diskurstatsachen
– Wahrheit nicht in der Wissenschaft, jedoch im Sprechen
– Über die Jouissance kann die Wahrheit nur den Schein sagen
– Formel der Frau: , Formel des Mannes
– Gegensatz zwischen Wahrheit und Jouissance des Scheins, nämlich des Phallus
– „Die Bedeutung des Phallus“: Bedeutung im Sinne von Frege
– Die Sprache hat nur eine Bedeutung, den Phallus, und sie konnotiert die Unmöglichkeit, das sexuelle Verhältnis zu symbolisieren.
– Unterschied zwischen der Hysterikerin und „einer Frau“
– Die Hysterikerin täuscht vor, Besitzerin des Scheins zu sein, hommoinzin (au moins un, mindestens einer / zumindest einer)
– Die Hysterikerin stützt die Formel
– Eine Frau richtet an einen Mann die Forderung nach papludune (pas plus d’une), „nicht mehr als eine“.
– Ermöglicht die Psychoanalyse einen Zugang zu „einer Frau“?
– Gegensatz zwischen dem Ödipusmythos (Verbot der Mutter und Hysterie) und dem Mythos von Totem und Tabu (Verbot aller Frauen und Zwangsneurose)
(10) Sitzung vom 16. Juni 1971
Titel in der Miller-Version: „Du mythe que Freud a forgé“
– Der Diskurs, der nicht vom Schein wäre, ist die Hypothese, von der her jeder Diskurs sich begründet.
– Wahrheit und Schein in Bezug auf den kapitalistischen Diskurs: Mehrwert und Geldfetisch
– Wahrheit und Schein in Bezug auf die Psychoanalyse: Es gibt kein sexuelles Verhältnis; Überbrückung durch Kastration als Verbindung von Jouissance und Schein (Phallus)
– Mit Frege: Name-des Vaters als Sinn und Phallus als Bedeutung
– Der Name ruft zum Sprechen auf, der Phallus ist das, was nicht antwortet.
– Logische Entsprechung zum Vater: die Null, die Zählbarkeit ermöglicht
– Ödipuskomplex als Echo auf die Zurückweisung der Kastration durch die Hysterikerin durch Zuschreibung an den Partner
– Die weibliche Forderung papludun (nicht mehr als einer) ist Grundlage von Freuds Orientierung am Monotheismus.
– Das männliche „mindestens ein“ entspricht Peanos Nachfolgerfunktion.
– Gebot des Über-Ichs: die paradoxe Forderung „Genieße die, die du liebst!“