Spiegelstadium: das Je und das Moi
James Juron, Sitting figure with mirror, 2007-2008, von hier
Die übliche französische Übersetzung für den Freud’schen Terminus „Ich“ ist moi. Warum spricht Jacques Lacan im Aufsatz über das Spiegelstadium nicht nur vom moi, sondern auch vom je – was ebenfalls „ich“ bedeutet? Ist hier mit je dasselbe gemeint wie mit moi? Oder stehen die beiden Ausdrücke für zwei unterschiedliche psychische Formationen?
Spiegelstadium mit „Je“ und „Moi“ – das Problem
Die 1949 erschienene Arbeit über das Spiegelstadium führt das „Je“ bereits im Titel: „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je“, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion.1 Zuerst denkt man, dass Lacan in diesem Aufsatz das eingebürgerte moi durch das unübliche je ersetzt, beim weiteren Lesen registriert man, dass er beide Ausdrücke verwendet und zwischen ihnen wechselt. Das führt zu Schwierigkeiten in der Übersetzung, die vom Übersetzer, Peter Stehlin, so gelöst worden sind, dass er den französischen Ausdruck (meist) in Klammern hinzufügt; man liest hier entweder „Ich (je)“ oder „Ich (moi)“. Lacan benutzt also beide Termini, er äußert sich jedoch nicht zum Verhältnis zwischen ihnen. Man fragt sich: meint das dasselbe oder etwas anderes?
Immerhin erfährt man: Das je ist gleichzusetzen mit dem je-idéal, also mit dem Freudschen Begriff des Idealichs:
„Die jubilatorische Aufnahme seines Spiegelbildes (…) wird von nun an (…) die symbolische Matrix darstellen, an der das Ich (je) in einer ursprünglichen Form sich niederschlägt (…). Diese Form wäre im übrigen eher als Idealich (je-idéal) zu bezeichnen (…).“2
Das scheint die Lösung zu sein: je bezieht sich auf das Idealich, moi auf das Ich. Aber möglicherweise identifiziert Lacan hier das Idealich (je-idéal) nicht nur mit dem je, sondern auch mit dem moi?
Eine klargeschnittene Opposition zwischen dem je und dem moi findet man bei Lacan einige Jahre später, im Aufsatz Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse von 1953 sowie in Seminar 1 von 1953/54, Freuds technische Schriften. Hier werden die Termini eindeutig verteilt, aus dem je wird das Subjekt des Sprechens und aus dem moi das imaginäre Ich. (Offensichtlich hat sich Lacan hierfür von Sartre inspirieren lassen, der in Die Transzendenz des Ego (1934) das Ego in zwei Komponenten aufgespalten hatte, in das spontan tätige Je und das objekthafte Moi.) Natürlich darf man Lacans Je/Moi-Unterscheidung von 1953 nicht auf das Jahr 1949 zurückprojizieren; dazwischen liegt ein epistemologischer Einschnitt, mit der Konstruktion der drei Register des Symbolischen, des Imaginären und des Realen.
Was also hat es im Aufsatz über das Spiegelstadium mit dem je und dem moi auf sich? Identität oder Differenz? Und wie sieht Lacan hier das Verhältnis zwischen dem Idealich, dem je-idéal und dem Ich, dem moi?
Ein Autor beantwortet die Frage so, dass er die Begriffe auf die beiden Seiten der Spiegelbeobachtung verteilt: das je bezieht sich, ihm zufolge, auf das beobachtende Ich, auf das „erlebende Selbst“, wie er sagt; das moi auf das beobachtete Ich, also auf das betrachtete Spiegelbild, in seiner Terminologie: auf das „erlebte Selbst“3. Für diese Deutung gibt es in Lacans Aufsatz keine Anhaltspunkte. Sie erinnert an die Unterscheidung zwischen dem Je und dem Moi, wie sie von Sartre in einer Arbeit aus dem Jahr 1936/37 entwickelt worden ist4; vielleicht wird hier Sartres Begriffsopposition auf Lacan projiziert.
In einer gründlichen Abhandlung zum Spiegelstadium behauptet Dany Nobus, die Termini je und moi würden im Aufsatz von 1949 synonym verwendet.
„It should be noted that at this stage of Lacan’s theoretical development – the end of the 1940’s – me (moi) and I (je) are interchangeable terms“5.
Das würde heißen, dass Lacan hier nicht nur das je und das moi, sondern auch das Idealich und das Ich miteinander gleichsetzt und für dieses Ich-Idealich drei verschiedene Ausdrücke verwendet: je, je-idéal und moi.
Nun ist allerdings Nobus‘ Begründung wenig überzeugend. Er beruft sich darauf, dass Lacan im Aufsatz von 1949 den Freudschen Begriff „Idealich“ mit je-idéal übersetzt, ab dem Seminar von 1953/54 jedoch mit moi idéal. Demnach, so folgert er, sind für Lacan in diesem Zeitraum die Ausdrücke je und moi synonym.6 Tatsächlich aber sagt der Wechsel der Übersetzung von je-idéal im Jahr 1949 zu moi idéal im Jahr 1954 nichts darüber aus, wie Lacan die Ausdrücke je und moi im Jahr 1949 verwendet hat, es könnte ja auch sein, dass er sich entschlossen hatte, das Freudsche „Ich“ mit moi zu übersetzen und das Freudsche „Idealich“ mit je und mit je-idéal. Und außerdem ist Lacans Wechsel von je-idéal zu moi ideal damit verbunden, dass er das moi und das je argumentativ klar voneinander abgrenzt – er verwendet also 1954 die beiden Ausdrücke gerade nicht synonym.
Trotzdem könnte Nobus recht haben – das Fehlen eines Beweises für die Identität ist kein Beweis für das Fehlen der Identität. Die Ausdrücke je und moi könnten im Aufsatz über das Spiegelstadium dasselbe bedeuten, Lacan könnte hier das Idealich und das moi als dasselbe ansehen.
Merkwürdigerweise wiederholt sich hier eine Problemstellung, die von Freud her bekannt ist. Sie bezieht sich bei diesem zwar nicht auf das Verhältnis zwischen dem Idealich und dem Ich, wohl aber auf eine verwandte Begriffsopposition, die zwischen dem Idealich und dem Ichideal. Die beiden Ausdrücke werden 1914 von Freud erstmals verwendet, in Zur Einführung des Narzissmus (1914), und man findet sie hier nebeneinander, sogar im selben Absatz, ohne dass aus der Abhandlung ersichtlich wäre, ob er auf einen Unterschied abzielt und wenn ja, auf welchen.7
1954 merkt Lacan hierzu an:
„Wenn man von der Strenge der Freudschen Schrift ausgeht, ist eines der Rätsel dieses Textes (…) der Umstand, daß beide Begriffe, im selben Absatz, nebeneinanderstehen.“8
Dasselbe kann man zum Aufsatz über das Spiegelstadium sagen: Wenn man von der Strenge der Lacanschen Schrift ausgeht, ist eines der Rätsel dieses Textes der Umstand, dass beide Begriffe, je und moi, nebeneinanderstehen, bisweilen sogar im selben Absatz.
Der Aufsatz über das Spiegelstadium von 1949
Wie lässt sich das Problem lösen? Man muss sich dem Aufsatz über das Spiegelstadium zuwenden und prüfen, wie hier je und moi zueinander in Beziehung gesetzt werden. Es gibt eine Passage, in der ein unmittelbarer Zusammenhang hergestellt wird:
„Aber von besonderer Wichtigkeit ist gerade, daß diese Form (das je bzw. das je-idéal) vor jeder gesellschaftlichen Determinierung die Instanz des Ich (moi) auf einer Linie der Fiktion situiert, die das einzelne Individuum nie mehr auslöschen kann (…).“9
Die Form des je bzw. das je-idéal situiert das moi auf einer Linie der Fiktion. Leider ermöglicht dieser Satz zwei Lesarten. Man kann ihn so deuten:
– ‚Das je bewirkt, dass das moi auf einer Linie der Fiktion verortet wird.‘
Falls je und moi synonym sind, muss man die Ausdrücke wechselseitig füreinander einsetzen können. Man erhält dann beispielsweise:
– ‚Das moi bewirkt, dass das moi auf einer Linie der Fiktion verortet wird.‘
Das ergibt keinen Sinn. Und das könnte der schlagende Beweis dafür sein, dass Lacan sich im Aufsatz über das Spiegelstadium mit je und moi auf zwei unterschiedliche Formationen bezieht, auf das Idealich im Unterschied zum Ich.
Man kann den Akzent aber auch auf den Ausdruck Form setzen und den Satz so auffassen:
– ‚Es ist die Form des je, die bewirkt, dass das moi auf einer Linie der Fiktion verortet wird.‘
In dieser Fassung besteht der Satz den Synonymitätstest. Denn es ist kein Problem, zu behaupten:
– ‚Es ist die Form des moi, die bewirkt, dass das moi auf einer Linie der Fiktion verortet wird.‘
Anders gesagt: Das, wodurch das moi auf der Linie der Fiktion verortet wird, ist der Form-Aspekt des moi, die Bindung des moi an eine Gestalt.
Also ermöglicht die Formulierung, in der je und moi direkt aufeinander bezogen werden, keine Entscheidung.
Es bleibt die Möglichkeit, die „Prädikate“ von je und moi zu untersuchen, ihre Bestimmungen. Wie werden die Termini je und moi verwendet, beziehen sie sich auf dieselben Zusammenhänge oder stehen sie in unterschiedlichen Kontexten?
Über das moi erfährt man:
– Es ist – gegen Freud – nicht gleichzusetzen mit dem System Wahrnehmung-Bewusstsein und beruht nicht auf dem Realitätsprinzip (S. 69).
– Es ist der Sitz der Abwehrmechanismen (68).
– Es beruht auf Verkennung, wozu als offenbare Form die Verneinung gehört (69 f.).
– Es ist charakterisiert durch unendliche „Ich-Prüfungen (récolements du moi)“ (67), womit vermutlich gemeint ist, dass die Kenntnis von Objekten und des moi selbst in einem unendlichen Prozess beständig revidiert werden muss.10
– Zwischen dem moi und der Spiegelbild-Identifizierung wird keine direkte Verbindung hergestellt.
Anders gesagt: das moi ist der Sitz der Abwehrmechanismen; ein wichtiger Aspekt der Abwehr ist die Verkennung; eine prägnante Form der Verkennung ist die Verneinung. Im Verhältnis zu den Objekten und zu sich selbst ist das moi durch eine beständige Revision charakterisiert. Lacan verwendet den Begriff des moi demnach weitgehend so, wie Anna Freud den Begriff des Ichs gebraucht, in ihrer Studie Das Ich und die Abwehrmechanismen von 1936, einer Arbeit, auf die Lacan sich im Aufsatz über das Spiegelstadium zweimal zustimmend bezieht.11
Das je wird in diesem Aufsatz mit sehr viel mehr Bestimmungen verbunden; hier die – sicherlich etwas mühselig zu lesende – Gesamtliste:
– Das je entsteht durch die Identifizierung mit dem Spiegelbild (64).
– Das je kann (wie bereits referiert) auch als je-idéal bezeichnet werden, als Idealich (64).
– Das Spiegelbild symbolisiert die Dauerhaftigkeit des je (64).
– Das je entwickelt sich in drei Phasen. Am Anfang steht das „je spéculaire“, das Spiegel-Ich, darauf folgt das immer noch vorsprachliche „je social“, das soziale Ich, und schließlich entsteht das sprachliche je (64, 68).
– Die Entstehung des sozialen je durch die Identifizierung mit der Imago des Nächsten macht aus dem je einen Apparat, für den jede Triebregung eine Gefahr darstellt (69).
– Eine der Funktionen des je ist die Aggressivität (69).12
–Das je ist der Wurzelstock für die sekundären Identifizierungen (64), also für die Identifizierungen mit den Eltern im Zusammenhang des Ödipuskomplexes.
– Das Subjekt muss, als je, durch dialektische Synthesen seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität überwinden, was ihm aber nur asymptotisch gelingt (64).
– Das je wird in Träumen durch ein befestigtes Lager symbolisiert, durch ein Stadion, das in zwei einander gegenüberliegende Kampffelder geteilt ist (67 f.), das Spiegelstadium, so könnte man sagen, durch ein gespiegeltes Stadion.
– Die Neurose lässt sich durch die Trägheit der Bildungen des je definieren (70). 1. Der Zusatz „(je)“ fehlt hier in der Übersetzung.] Unter „Trägheit“ ist hier vermutlich der Widerstand gegen die Analyse zu verstehen.13
Insgesamt – so lässt sich das vielleicht zusammenziehen – wird das je vor allem durch die Identifizierungen mit den Idealbildern charakterisiert, diese Identifizierungen gelten als Ursache der Aggressität. Die Idealbild-Identifizierungen bilden eine Reihe: Spiegel-je, soziales je, sprachliches je. Zwischen der Spiegelbild-Identifizierung und dem je bzw. dem je-idéal wird eine eindeutige Zuordnung vorgenommen.
Damit kann man das je/moi-Problem so umformulieren: Im Text lässt sich beobachten, dass Lacan das moi mit der Abwehr und dem Verkennen zusammenbringt, das je vor allem mit der Identifizierung mit Idealbildern und mit der Aggressivität. Ist das eine zufällige Verteilung oder unterscheidet er hier zwei Funktionsweisen bzw. zwei Formen des Ichs?
Erste Möglichkeit: Identitätsthese, das Ich (moi) und das Idealich (je, je-idéal) sind für Lacan dasselbe. Dann sind Abwehr, Verkennen, Identifizierung mit dem Idealbild und Aggressivität allesamt Funktionen dieser einen Instanz.
Zweite Möglichkeit: Differenzthese, Lacan spricht von zwei unterschiedlichen psychischen Formationen, einerseits vom moi, andrerseits vom je oder je-idéal. Er ordnet dem Ich (moi) die Abwehr und das Verkennen zu, dem Idealich (je, je-idéal) hingegen vor allem die Identifizierung mit Idealbildern und die Aggressivität.
Die Merkmalsverteilung legt die zweite Lösung nahe, erzwingt sie aber nicht. Der Text ist mit beiden Deutungen vereinbar.
Wenn die direkte In-Beziehung-Setzung von je und moi mehrdeutig ist und die Verteilung der Prädikate keine Entscheidung ermöglicht, wie kann man doch noch zu einer Lösung des je/moi-Problems kommen? Indem man die Vor- und die Nachgeschichte dieser Terminologie zur Kenntnis nimmt.
Das Spiegelstadium vor 1949
In seiner Fallstudie über die paranoische Psychose von 1932 war Lacan darauf gestoßen, dass sich die Aggressivität auf das Ideal richtet.14 Marguerite Anzieu – Postangestellte und Autorin zweier Romane, die vom Verlag abgelehnt worden waren – hatte versucht, Huguette Duflot zu ermordern, eine prominente Schauspielerin. Duflot gehörte für sie zu einer Gruppe von Verfolgerinnen, die vor allem ihr Kind bedrohten, und zu der sie auch die Schauspielerin Sarah Bernhardt und die Schriftstellerin Colette rechnete. Alle drei waren berühmt, alle drei waren reich und alle drei verkörperten das Ideal der Unabhängigkeit, mit dem Anzieu sich identifizierte. Im Hintergrund dieser Verfolgerreihe stand Marguerites Schwester Élise, die von ihr verehrt wurde.15 Wie ist es möglich, dass sich die mörderische Strebung des Subjekts ausgerechnet gegen das Bild richtet, in dem es seine Ideale verwirklicht sieht? Diese Frage wird Lacan von nun an beschäftigen und noch der Aufsatz über das Spigelstadium von 1949 versucht darauf eine Antwort zu geben.16
Die erste Version der Abhandlung über das Spiegelstadium ist verloren gegangen – Le stade du miroir von 1936, ein Vortrag, der auf dem 14. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung gehalten wurde. Zwei Monate zuvor hatte Lacan vor der Société Psychanalytique de Paris einen Vortrag zum selben Thema gehalten; von dieser Vorab-Version gibt es eine unveröffentlichte Mitschrift von Françoise Dolto, über die Elisabeth Roudinesco Auskunft gibt.17 Demnach sprach Lacan hier unter anderem über das Subjekt, das je und den Körper, über die menschliche Gestalt, das Bild des Doppelgängers und das Spiegelbild, über den Todestrieb und den Narzissmus. Mehr erfährt man von Roudinesco nicht; die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Idealbild und der destruktiven Strebung ist in diesen Stichpunkten jedoch unschwer wiederzuerkennen.
Dolto hat auch die anschließende Diskussion notiert. Die Fragen der Zuhörer bezogen sich unter anderem auf das Verhältnis zwischen dem je und dem moi – auch hierzu lässt sich Roudinescos Darstellung nichts Genaueres entnehmen. Immerhin wissen wir jetzt, dass bereits 1936 einigen Zuhörern der Beta-Version des Vortrags das Verhältnis zwischen dem je und dem moi unklar war.
In dem Aufsatz Jenseits des „Realitätsprinzips“ von 1936 findet sich ein Abriss von Lacans Theorie der Bild-Identifizierung, jedoch ohne Bezugnahme auf das Spiegelstadium; am Schluss spricht er von den „imaginären Posten“, welche die Persönlichkeit bilden, und worunter er das ça (das Es), das moi (das Ich) sowie die archaischen und die sekundären Instanzen des surmoi (des Über-Ichs) versteht.18 Daran knüpft er zwei Fragen an. Zum einen: Wie konstituiert sich die allen Menschen gemeinsame Realität? Zum anderen:
„Wie bildet sich quer durch die typischen Identifizierungen des Subjekts das Ich (je), wo es sich erkennt (reconnaît)?“19
Er unterscheidet hier also zwei Größen: das moi und das je.20 Das moi ist das Ich im Sinne der Drei-Instanzen-Lehre von Ich, Es und Über-Ich, das je ist das Ich, insofern es sich auf eine stabile Weise reconnaît – erkennt oder wiedererkennt oder anerkennt, und zwar unabhängig von den unterschiedlichen Identifizierungen. Lacan kündigt an, diese beiden Fragen in einem zweiten Artikel zu beantworten – ein Vorhaben, das er nie verwirklicht hat.
Der Begriff des moi bezieht sich in diesem Zusammenhang auf ein System von Instanzen des psychischen Apparats. Der Begriff des je steht in der Tradition der philosophischen Frage nach der Erkenntnis, aufgefasst als Beziehung zwischen stabilen Objekten und einem Subjekt, das nicht nur die Objekte in ihrer Objektivität erkennt, sondern auch sich selbst, und zwar als dauerhaft im Wechsel der Erscheinungen. Die psychoanalytische Frage nach der Ursache der destruktiven Beziehung zum Ideal wird also durch eine Problemstellung philosophischer Provenienz ergänzt: Wie kommt es, dass sich das Subjekt als etwas erkennt, was mit sich identisch ist? Für diese Frage steht 1936 der Begriff des je, und der Aufsatz über das Spiegelstadium von 1949 hat auch die Aufgabe, diese Frage zu beantworten.
Der Aufsatz Die Familie von 1938 enthält die erste veröffentlichte Darstellung der Theorie des Spiegelstadiums.21 Lacan operiert hier mit den Begriffen des moi, des idéal du moi und des surmoi, also des Ichs, des Ichideals und des Über-Ichs; das Ichideal bildet sich, Lacan zufolge, zusammen mit dem Über-Ich am Ende der ödipalen Krise heraus (63). Der Begriff des Idealichs wird hier nicht verwendet, und auch das je tritt nicht in Erscheinung.
Die Identifizierung mit dem eigenen Spiegelbild, die sich ab dem sechsten Monat herstellt, erklärt, warum sich das Subjekt als Einheit begreift (59). Diese Identifizierung ist keine Urform des moi, sondern gehört in eine Entwicklungsphase, die davor liegt.
„Das Ich (moi) konstituiert sich zur selben Zeit wie der andere im Drama der Eifersucht.“ (60) Es erlangt seine „Wesenskonstitution“ nicht vor dem Alter von drei Jahren (61). Die Grundlage des moi ist eine archaische Form der Identifizierung mit einem anderen, der Transitivismus22; das erste Modell des moi wird von den Geschwistern geliefert. Mit dieser Konzeption des moi lässt sich die Aggressivität gegenüber dem Ebenbild erklären: sie beruht auf Identifizierung.
Die früheste Form des moi entspricht also dem, was Lacan im Aufsatz über das Spiegelstadium von 1949 als „je social“ bezeichnet, als soziales Ich. Für die davor liegende a-soziale Identifizierung mit dem Spiegelbild verwendet er in der Arbeit über die Familie keinen eigenen Ich-Begriff.
Im Vortrag über die psychische Kausalität von 1946 wird das Moi (das hier ausnahmsweise großgeschrieben wird) ähnlich dargestellt: es besteht aus einem System von Identifizierungen; das, woran die Identifizierung des Subjekts sich vollzieht, sind Bilder, Imagos; das „Urbild“ des Moi – genauer gesagt: „die Matrix des Urbildes des Ich (Moi)“ – entsteht in der Phase des Transitivismus durch die Identifizierung mit Gleichaltrigen. Die Identifizierung mit dem eigenen Spiegelbild wird skizziert und auch hier vor der Herausbildung der Urform des Moi angesiedelt.23
Der (nicht übersetzte) Aufsatz L’aggressivité en psychanalyse (Die Aggressivität in der Psychoanalyse) von 1948 enthält eine weitere Darstellung des Spiegelstadiums. Das moi erscheint hier, wie in den vorhergehenden Schriften, als Instanz der Persönlichkeit; es beruht nicht, im Gegensatz zu dem, was Freud annimmt, auf dem System Wahrnehmung-Bewusstsein, sondern entsteht durch Identifizierung mit Imagos – Bildern vom Gestalt-Typ; es ist eine Instanz der Abwehr und der Aggressivität. Auch hier gilt als Ursprung des moi die Identifizierung mit den ähnlichen anderen.24 Als charakteristisches Merkmal des moi wird die Verneinung herausgestellt.
In dieser Arbeit hat auch das je wieder einen Auftritt:
“ (…) wir bezeichnen mit dem Ich (moi) diesen Kern, der dem Bewusstsein gegeben ist, der aber für die Reflexion undurchdringlich ist, und der von all den Zweideutigkeiten gekennzeichnet ist, die – von der Nachsicht bis zur Unaufrichtigkeit – beim menschlichen Subjekt das affektive Erleben strukturieren; dieses ‚ich‘ (‚je‘), das, um der existentiellen Kritik ihre Faktizität zuzugestehen, der konkreten Problematik der Verwirklichung des Subjekts seine irreduzible Trägheit der Ambitionen und des Verkennens entgegensetzt.“25
Das je dient hier zur Erläuterung des moi. Dabei fungiert nur der Terminus moi als Begriff der Theorie; das je steht in Anführungszeichen, der Ausdruck ist, anders als in Jenseits des „Realitätsprizips“ von 1936 und im Spiegelstadium-Vortrag von 1949, kein Bestandteil der von Lacan akzeptierten Begriffsapparatur.
Der Satz des Bororo-Indianers „Je suis un ara“ („Ich bin ein Ara“), über den der Ethnologe Karl von den Steinen sich so gewundert hatte26, ist nicht erstaunlicher, schreibt Lacan hier, als der Satz „Je suis médecin“ („Ich bin Arzt“), weil letztlich gilt: „Je est un autre“ („Ich ist ein anderer“), wie es bei Rimbaud heißt.27 Auch in diesen Formulierungen hat das je die Funktion, das moi zu erläutern. Das je – verstanden als Personalpronomen der ersten Person Singular – gilt im Aufsatz von 1948 als Erscheinungsform des moi auf der Ebene des Sprechens.
Im selben Aufsatz heißt es weiter unten:
„Wer, wenn nicht wir, wird den objektiven Status dieses ‚ich‘ (‚je‘) wieder in Frage stellen, das eine historische Entwicklung, die unserer Kultur eigen ist, mit dem Subjekt zu vermengen neigt? Es wäre lohnend, diese Anomalie in ihren jeweiligen Auswirkungen auf allen Ebenen der Sprache (langage) aufzuzeigen, zunächst in diesem grammatischen Subjekt der ersten Person unserer Sprachen (langues), in diesem ‚Ich liebe‘ (‚J’aime‘), das in einem Subjekt die Strebung hypostasiert, das sie negiert. Ein Trugbild, das in Sprachformen unmöglich ist, zu denen die ältesten gehören und in denen das Subjekt grundlegend in der Position des Determinativums oder des Instrumentalis der Handlung erscheint.“28
Das „je“ hat nicht den Status eines Objekts und es darf nicht mit dem Subjekt vermengt werden. Lacan spielt hier auf Nietzsches Sprachkritik an29: die Illusion, dass es sich beim „Ich“ („je“) oder beim Subjekt um ein Objekt handelt, wird durch einen Typ der Grammatik gestützt, in der der Sprecher als grammatisches Subjekt des Verbs erscheint, wie in „ich liebe“. Es gibt Sprachen, in denen der Sprecher anders ausgewiesen wird, durch den Instrumentalis oder das Determinativum des Verbs; der Liebessatz wird dann etwa so konstruiert: „Es gibt ein durch mich geliebt werden“; die Illusion der Objekthaftigkeit des „Ichs“ („je“) oder des Subjekts stellt sich hier nicht ein.
Die Theorie des Spiegelstadiums wird hier ergänzt. Dass sich das Subjekt als Einheit begreift, als stabile Entität, als Substanz (statt als das Werden, das es in Wahrheit ist), beruht nicht nur auf der Identifizierung mit dem Spiegelbild. Ihr liegt auch ein sprachliches Phänomen zugrunde, die Repräsentation des Sprechers durch das grammatische Subjekt des Verbs. Das Problem, das Lacan hier beschäftigt, ist das des Verhältnisses zwischen den bildhaften und den sprachlichen Aspekten der Ich-Illusion. Diese Frage liegt, unausgesprochen, bereits dem Aufsatz Jenseits des „Realitätsprinzips“ von 1936 zugrunde, in dem das Subjekt zunächst durch die Verneinung charakterisiert wird, dann durch die Identifizierung mit Bildern.30
Um es zusammenzufassen:
(1) Vor 1949 erklärt Lacan durchgängig, dass das moi seinen Ursprung in der Identifizierung mit dem anderen hat. Die Identifizierung mit dem Spiegelbild wird zeitlich vor der Identifizierung mit dem anderen angesiedelt, also vor der Entstehung des moi. Die Identifizierung mit dem Spiegelbild führt nicht dazu, dass sich eine frühe Form des moi herausbildet. Das Spiegelstadium gehört für Lacan zur Vorgeschichte des moi, nicht zu seiner Frühgeschichte. Vor 1949 behauptet er auch nicht, dass die Spiegelidentifizierung das Idealich erzeugt.
(2) Diese Entkoppelung der Spiegelidentifizierung vom moi hängt damit zusammen, dass die Theorie des Spiegelstadiums eine andere Aufgabe zu lösen hat als die Theorie der sozialen Identifizierung. Die Theorie der Spiegelidentifizierung antwortet auf die Frage, warum das Subjekt sich als Einheit begreift, die Theorie der sozialen Identifizierung erklärt den Zusammenhang zwischen der Idealbildung und der Aggressivität.
(3) Der Ausdruck je dient 1936 als Begriff für das Subjekt, sofern dieses sich als mit sich identisch erkennt. An der Frage, wie das möglich ist, hält Lacan fest; die Antwort ist zunächst die Identifizierung mit dem Spiegelbild. Das je erscheint ein zweites Mal 1948, diesmal zur Erläuterung des moi: im Personalpronomen je erscheint das moi des Sprechers; diese grammatische Form ist ein Grund dafür, warum sich das Subjekt als stabiles Objekt erscheint. Die Erklärung des Identitätseffekts durch die Identifizierung mit dem Spiegelbild wird durch ein linguistisches Argument ergänzt.
Wie stellt sich von hier aus das je/moi-Problem im Aufsatz von 1949 über das Spiegelstadium dar?
Die meisten Elemente dieses Aufsatzes findet man bereits in früheren Veröffentlichungen. Die wesentliche Neuerung ist terminologischer Art. Vor 1949 arbeitet Lacan mit einer viergliedrigen Ich-Terminologie: moi, je, Über-Ich und Ichideal (idéal du moi). Der Identifizierung mit dem Spiegelbild wird kein Ich-Begriff zugeordnet. Im Aufsatz über das Spiegelstadium wird die Ich-Terminologie um einen fünften Terminus erweitert, um den des Idealichs (je-idéal), damit gibt es auch bei Lacan die Opposition von Ichideal und Idealich, wie sie zum ersten Mal 1932 von Hermann Nunberg systematisch entwickelt wurde.31 Vor 1949 bleibt der Status des je entweder unbestimmt (1936) oder wird sprachlich gefasst (1948), im Aufsatz von 1949 wird das je erstmals mit der Spiegelbild-Identifizierung zusammengebracht. Die Neueinführung des je-idéal und die Neuverknüpfung des je mit der Spiegelidentifizierung werden kombiniert: das je müsste eher je-idéal heißen, schreibt Lacan.
Der Begriff des je verbindet im Aufsatz über das Spiegelstadium drei Entwicklungsstufen: am Anfang steht das je spéculaire, darauf folgt das je social, die Entwicklung schließt mit dem Spracherwerb ab und demnach – so kann man den Aufsatz von 1949 durch den von 1948 ergänzen – mit der Verwendung des Personalpronomens je, zumindest im Französischen und in ähnlich gebauten Sprachen. Diese Terminologie begründet eine neue genetische Konzeption, der entscheidende Einschnitt liegt hier bei der Spiegelidentifizierung, nicht mehr bei der sozialen Identifizierung.
Da Lacan im Spiegelstadium-Aufsatz die bis dahin vertretene These über die soziale Identifizierung als Ursprung des moi nicht ausdrücklich revidiert, ist es legitim, sie auch für diesen Text vorauszusetzen. Mit der Spiegelidentifizierung, so kann man annehmen, bildet sich eine erste Form des je heraus, des Idealichs, nicht aber schon eine Urform des moi; Idealich und Ich (moi) müssen unterschieden werden.
Der Rückblick zeigt auch, was Lacan dazu gebracht haben könnte, im Spiegelstadium-Aufsatz eine doppelte Ich-Terminologie zu verwenden. Das je verbindet sich bei ihm ab 1936 mit der Frage, wie sich erklären lässt, dass sich das Subjekt für ein stabiles Objekt hält, für eine Substanz; diese Frage beantwortet er, ebenfalls ab 1936, zunächst mit dem Spiegelstadium, ab 1948 zusätzlich, im Anschluss an Nietzsche, mit dem Hinweis auf das Personalpronomen je. Im Spiegelstadium-Aufsatz soll, so vermute ich, der Begriff des je diese beiden Thesen zusammenschließen: die illusorische Subjekt-Einheit entsteht erstens durch die Spiegelidentifizierung und zweitens durch das Personalpronomen. Dazwischen liegt die soziale Identifizierung und damit der Ursprung des moi, d.h. des Apparats der Abwehr und des Verkennens.
Mutmaßliche Beziehung zwischen Je- und Moi-Entwicklung (1949)
Das Verhältnis zwischen der Entwicklung des je und der des moi stellt sich für Lacan 1949 möglicherweise so dar wie in dieser Zeichnung (die von unten nach oben zu lesen ist). Die Entwicklung des moi zweigt von der des je ab, sie beginnt am Punkt der sozialen Identifizierung; insgesamt ergibt sich hierdurch ein Y-förmiges Entwicklungsschema. Die soziale Identifizierung hat eine Doppelfunktion: der andere liefert dem Subjekt ein Bild der Einheit, insofern ist die Identifizierung mit ihm auf der je-Linie zu verorten. Die Beziehung zu diesem Ideal ist zugleich der Ursprung der Aggressivität, insofern beginnt hier die moi-Linie. Mit dem Spracherwerb wird auf dieser Linie die Aggressivität – gewissermaßen eine affektive Form der Negativität – durch die sprachliche Negation ergänzt und überformt.
Das Spiegelstadium nach 1949
Im Jahr 1951 hält Lacan einen (nicht ins Deutsche übersetzten) Vortrag vor der British Psycho-Analytical Society; er hält ihn auf Englisch, der Titel ist Some reflections on the ego, der Inhalt überlappt sich stark mit dem des Aufsatzes über das Spiegelstadium.32
Ziel ist eine genetische Theorie des ego. Das Idealich (ideal ego) wird nicht erwähnt, wohl aber, einmal am Rande, das Ichideal (ego ideal) (12). Alle Merkmale, die im Aufsatz über das Spiegelstadium dem moi zugeschrieben wurden, kehren hier wieder, als Merkmale des ego: die Abwehr (15), die Verkennung (12) und die Verneinung (12).
Und die Charakteristika, die im Aufsatz von 1949 mit dem je in Verbindung gebracht wurden? Auch sie erscheinen im Vortrag vor den britischen Psychoanalytikern, und zwar ebenfalls als Attribute des ego: Das ego entsteht durch die Identifizierung mit dem Spiegelbild (14), eine der Formen des ego ist die Identifizierung mit dem anderen in der Form des Transitivsmus (15), die Identifizierung mit dem Körperbild verleiht dem ego seine Dauer (12), das ego ist gekennzeichnet durch Aggressivität (12, 16) sowie durch Trägheit (12), das ego erscheint im Traum in Gestalt eines Stadions (15).
Damit dürfte bewiesen sein: Die Synonymitätsthese stimmt. Das Schema der Y-förmigen Beziehung von je- und moi-Entwicklung ist eine haltlose Spekulation. Im Aufsatz über das Spiegelstadium sind die Ausdrücke je und moi tatsächlich austauschbar. Wie anders soll man erklären, dass Lacan zwei Jahre nach diesem Aufsatz in einem ganz ähnlichen Text für je und moi gleichermaßen den Ausdruck ego einsetzt?
Das heißt aber auch: Im Aufsatz über das Spiegelstadium ist das Ich – ob nun als moi oder als je bezeichnet – identisch mit dem Idealich. Je = je-idéal = moi.
Die Gründe dafür, warum ein sprachbewusster Autor wie Lacan zwischen den Ausdrücken je und moi hin und her pendelt, bleiben bei dieser Lösung allerdings im Dunkeln.
Es gibt ein weiteres irritierendes Detail. Die Sprache, so erläutert Lacan zu Beginn des Vortrags Some reflections on the ego, hat eine Art Rückwirkungseffekt in Bezug darauf, was letztlich als real gilt33; damit werde die Kritik an Melanie Kleins Eingriffen in das Präverbale hinfällig. Und dann fährt er fort:
„Nun gibt uns die Struktur der Sprache aber einen Hinweis auf die Funktion des ego. Das ego kann entweder das Subjekt des Verbs sein oder das Verb qualifizieren. Es gibt zwei Arten von Sprachen: In der einen sagt man ‚Ich (I) schlage den Hund‘, und in der anderen ‚Es gibt ein Geschlagenwerden des Hundes durch mich (by me)‘. Aber, das ist hier festzuhalten, die Person, die spricht – ob sie im Satz als Subjekt des Verbs erscheint oder als das, wodurch das Verb qualifiziert wird –, bejaht sich in beiden Fällen als ein Objekt, das in eine bestimmte Beziehung verwickelt ist, sei es eine des Fühlens oder des Tuns.“ (12, meine Übersetzung)
Hier wird das Grammatik-Argument aus dem Aufsatz von 1948 über die Aggressivität aufgegriffen, und auch die Termini je und moi aus dem Aufsatz von 1949 erscheinen wieder, jetzt als I und me. Das ego wird, zumindest vorübergehend, mit dem Sprecher gleichgesetzt, und die Frage lautet, wie der Sprecher, also das ego, in der Sprache repräsentiert wird. Es gibt zwei Sprachtypen, in einigen Sprachen figuriert der Sprecher als I, allgemein gesagt: als Subjekt des Verbs, in anderen Sprachen tritt er als me auf, als Größe, die dazu dient, das Verb zu qualifizieren, als Determinativum. Auch in solchen Sprachen, in denen der Sprecher als Determinativum erscheint, bejaht er sich als ein Objekt. Im Aufsatz über die Aggressivität wurde der Objektivierungseffekt auf Sprachen beschränkt, in denen der Sprecher als Subjekt des Verbs erscheint. Diese These wird zurückgenommen – in beiden Sprachtypen wird der Sprecher zum Objekt.
Muss man das je und das moi im Aufsatz über das Spiegelstadium also auf diese beiden grammatischen Sprecher-Positionen beziehen? Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Oder geht es um die am Schluss der zitierten Passage angesprochene Unterscheidung zwischen dem Leiden (dem „Fühlen“) und dem Tun? Ist das moi das Ich in seinen aktiven Funktionen, insofern es Abwehrmaßnahmen durchführt, die Wirklichkeit verkennt und verneint? Und ist das je das Ich, insofern ihm etwas widerfährt, nämlich die Entfremdung durch ein Bild? Auch das lässt sich durch den Text des Spiegelstadium-Aufsatzes nicht stützen – und wenn dies gemeint wäre, wäre die umgekehrte Terminologie passender.
Immerhin lässt sich dieser Passage entnehmen, dass Lacan das je hier, wie schon drei Jahre zuvor im Aufsatz über Aggressivität, als sprachliche Größe auffasst und als Personalpronomen begreift. Das stärkt die Vermutung, dass die Verwendung des Ausdrucks je im Aufsatz über das Spiegelstadium von der letzten Stufe der je-Entwicklung her begriffen werden muss, von der Sprecher-Repräsentation durch das Personalpronomen, und dass es darum ging, eine Genealogie des Ich(je)-Sagens zu konstruieren.
Der linguistische Argumentationsgang wird im Vortrag vor den britischen Psychoanalytikern noch einen Schritt weitergeführt. Charakteristisch für das ego ist die Verneinung und damit das Verkennen; das ego stellt den Realitätsbezug also durch eine sprachliche Funktion her.34 Danach bricht die sprachbezogene Darlegung ab, und Lacan geht dazu über, den Zusammenhang zwischen dem ego und den Körperbildern zu erläutern. Wie hat man sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Aspekten des ego vorzustellen, zwischen dem sprachlichen ego als „I“ bzw. als „me“ sowie als Verneinung und dem bildhaften ego als System von Körperbildern, mit denen das Subjekt sich identifiziert hat? Auf diese Frage steuert der Vortrag zu, sie wird aber nicht ausdrücklich formuliert, geschweige denn beantwortet.
Das Problem wird in Funktion und Feld des Sprechen und des Sprache in der Psychoanalyse von 1953 aufgegriffen, wo es beispielsweise heißt, das ego sei „durch einen sprachlichen Kern geformt“35.
Und auch in Seminar 1 von 1953/54 ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen der symbolischen und der imaginären Seite des Ichs eine der Hauptfragen. Zum Verständis des folgenden Zitats muss man wissen, dass das Freudsche Ich im Französischen manchmal mit moi, manchmal aber auch, nach dem Vorbild der Engländer, mit ego übersetzt wird, auch von Lacan:
„Was heißt es, Ich (Je) zu sagen? Ist es dasselbe wie das Ego, der analytische Begriff? Von da muß man ausgehen.“36
Diese Problemstellung führt im ersten Seminar zur Unterscheidung zwischen zwei Formen des Sprechens, dem Sprechen des moi als „Vermittlung“ und dem Sprechen des Subjekts als „Enthüllung“ (65 f.), analog zur Unterscheidung zwischen dem leeren und dem vollen Sprechen in Funktion und Feld der Sprache und des Sprechens, also zu einer These über die Einwirkung des Imaginären auf das Symbolische. Eine andere Verarbeitung des Problems ist die Unterscheidung zwischen dem imaginären Idealich (moi idéal) und dem symbolischen Ichideal (idéal du moi) (167 ff.).
Im Lichte der hier interessierenden Frage nach dem Verhältnis zwichen je/je-idéal und moi sowie zwischen dem Idealich und dem Ich (moi) ist vor allem die folgende Bemerkung von Interesse. Man müsse sich, so heißt es bezogen auf einen speziellen Zusammenhang, auf die Konstitution des Ideal-Ichs beziehen, im Unterschied zu der des Ich-Ideals,
„anders gesagt auf den fundamental imaginären spekularen Ursprung des Ich (moi)“37.
Das moi idéal ist demnach der imaginäre und spekulare – der bild- und spiegelhafte – Ursprung des moi. Das moi und das moi idéal sind keineswegs identisch, die beiden Ausdrücke werden nicht synonym verwendet. Der Zusammenhang zwischen den beiden Größen ist einer des Ursprungs: das Idealich ist der Ursprung des Ichs, das Ich besteht aus dem Ursprung des Ichs – dem Idealich – und aus dem, was daraus hervorgeht. Hier wird die vor 1949 vertretene Entwicklungskonzeption – Urbild des moi ist die Identifizierung mit dem anderen – um eine Etappe nach vorn verlegt: das moi entsteht bereits mit der Spiegelidentifizierung, die jetzt erstmals als moi idéal bezeichnet wird und nicht, wie 1949, als je-idéal.
Man kann also doch behaupten, dass die Ausdrücke je und moi im Aufsatz über das Spiegelstadium eine unterschiedliche Bedeutung haben. Das je bzw. je-idéal bildet den Ursprung des moi. Das moi besteht aus dem je bzw. je-idéal und aus dem daraus Entsprungenen. Man muss nur hinzufügen: So wird es gewesen sein. Im Rückblick.
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Anmerkungen
- Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Übersetzt von Peter Stehlin. In: Ders.: Schriften I. Hg. v. Norbert Haas. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, S. 61-70; Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je telle qu’elle nous est révélée dans l’experience psychanalytique. In: Ders.: Écrits. Le Seuil, Paris 1966, S. 93-100. Im Internet findet man den französischen Text z.B. hier.
- Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, S. 64, Übersetzung geändert; Ecrits, S. 94.
- Vgl. Michael Ermann: Psychoanalyse in den Jahren nach Freud. Entwicklungen 1940-1975. Kohlhammer, Stuttgart 2009, S. 102-104. Vgl. hierzu auch den diesen Blogeintrag.
- Vgl. Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego (1936). In: Ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939.Rowohlt, Reinbek 1994, S. 39-96.
- Dany Nobus: Life and death in the glass: A new look at the mirror stage. In: Ders. (Hg.): Key concepts of Lacanian psychoanalysis. Other Press, New York 1998, S. 101-138, hier: S. 133 Fn. 54.
- Vgl. Nobus, a.a.O. , S. 135 Fn. 77.
- Vgl. Freud: Zur Einführung des Narzissmus In: Ders: Studienausgabe, Bd. 3. S. Fischer, Frankfurt am Main 2000, S. 37-68, hier: S. 60 f.
- Jacques Lacan, Das Seminar, Buch 1 (1953-1954). Freuds technische Schriften.Übersetzt von Werner Hamacher. Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau 1978, S. 172, Übersetzung geändert.
- Spiegelstadium, S. 64, Übersetzung geändert.
- Ich deute hier die „Ich-Prüfungen“ im Lichte einer Formulierung in dem Aufsatz: Jacques Lacan, Some reflecions on the ego, einem Vortrag von 1951, der 1953 veröffentlicht wurde. In: International Journal of Psychoanalysis, 34. Jg. (1953), S. 11-17, hier: S. 12: „It is by this process that we are led to see our objects as identifiable egos, having unity, permanence, and substantiality; this implies an element of inertia, so that the recognition of objects and of the ego itself must be subjected to constant revision in an endless dialectical process.“
- Spiegelstadium, S. 68, 69 f.
- Der Zusatz „(je)“ fehlt hier in der Übersetzung.
- So erläutert Lacan den Begriff der Trägheit in Some reflections on the ego, a.a.O, S. 12, eine Anspielung auf Sartres Begriff der Trägheit in Das Sein und das Nichts von 1943.
- Jacques Lacan: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften zur Paranoia. Passagen Verlag, Wien 2. überarb. Aufl. 2012.
- Vgl. hierzu auch Elisabeth Roudinesco: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996, Kapitel 2.I, „Marguerites Geschichte“. Darian Leader: What is madness? Hamish Hamilton, London 2011, Kapitel 9, „Aimée“.
- Auf diese Kontinuitätslinie verweist Lacan in der Einleitung zu den frühen Aufsätzen – darunter dem über das Spiegelstadium – in den Écrits von 1966. Vgl. Jacques Lacan, Von dem, was uns vorausging (1966). In: Ders.: Schriften III.Hg. v. Norbert Haas. Walter Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau 1975, S. 7-14, hier: S. 9 f.
- Vgl. E.R.: The mirror stage: an obliterated archive. In: Jean-Michel Rabaté (Hg.): The Cambridge companion to Lacan. Cambridge University Press, Cambridge 2003, S. 25-34, hier: S. 26 f.
- Übersetzt von Franz Kaltenbeck in: Schriften III, S. 15-37, hier: S. 36; Écrits 1966, S. 73-92, hier: S. 92.
- Jenseits des „Realitätsprinzips, S. 36; Écrits, S. 92.
- In der deutschen Ausgabe, in der die beide Ausdrücke gleichermaßen ohne Zusatz mit „Ich“ übersetzt werden, ist das nicht zu erkennen.
- Übersetzt von Friedrich A. Kittler in Schriften III, S. 39-100.
- Beim Transitivismus hat die Identifizierung die Form der Verwechslung mit dem anderen in einer aktuellen Interaktionsbeziehung auf der Grundlage von zwei Komplementärrollen: A schlägt B und beschwert sich darüber, von B geschlagen zu sein – ohne dabei zu lügen. Das Konzept stammt von Charlotte Bühler: Die ersten sozialen Verhaltensweisen des Kindes. In: Dies., Hildegard Hetzer, Beatrix Tudor-Hart: Soziologische und psychologische Studien über das erste Lebensjahr. Jena 1927, S. 59 f.- Lacan bezieht sich auf diese Studie auf S. 55 des Aufsatzes über die Familie.
- Übersetzt von Hans-Joachim Metzger in: Schriften III, S. 123-172, hier vor allem: S. 157. Der Vortrag wurde 1946 gehalten und 1950 veröffentlicht.
- Jacques Lacan, Écrits 1966, S. 101-124, hier: S. 113.
- Écrits, S. 109, meine Übersetzung.
- In: von den Steinen: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Reiseschilderungen und Ergebnisse der Zweiten Schingú-Expedition 1887-1888. Reimer, Berlin 1894.
- Écrits, S. 117 f.– Brief von Arthur Rimbaud an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, sogenannter zweiter Seherbrief.
- Écrits, S. 118.
- Nietzsche: „Unsre Unart, ein Erinnerungszeichen, eine abkürzende Formel als Wesen zu nehmen, schließlich als Ursache, z. B. vom Blitz zu sagen: ‚er leuchtet‘. Oder gar das Wörtchen ‚ich‘. Eine Art von Perspektive im Sehen wieder als Ursache des Sehens selbst zu setzen: das war das Kunststück in der Erfindung des ‚Subjekts‘, des ‚Ichs‘!“ Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre. In: Nietzsche: Werke. Hg. v. Karl Schlechta. Hanser, München 1969, Bd. 3, S. 480.
- Vgl. Schriften III, S. 27 ff.
- Vgl. Hermann Nunberg: Allgemeine Neurosenlehre auf psychoanalytischer Grundlage. Mit einem Geleitwort von Sigmund Freud. Hans Huber, Bern 1932.
- A.a.O., im Internet findet man den Text hier.
- „Language has, if you care to put it like that, a sort of retrospective effect in determining what is ultimately decided to be real.“ A.a.O., S. 12.
- Der Hinweis auf Sprachlichkeit der Psychoanalyse und auf die Verneinung findet sich bereits in Jenseits des „Realitätsprinzips“ von 1936, vgl. a.a.O., S. 27.
- In: Schriften I, S. 71-171, hier: S. 147.
- Seminar 1, S. 213.
- Seminar 1, S. 212.
Verstehe ich nicht.
„Moi“ scheint sich auf das Sein zu beziehen, „je“ auf das Handeln. Nicht umsonst heißt es „Je t’aime“.