Speisereste
Vittore Carpaccio, Sankt Georg und der Drache, 1502 oder 1507,
Tempera auf Holz, 141×360 cm
Scuola di San Giorgio degli Schiavoni in Venedig
Der Begriff des Partialobjekts oder Teilobjekts, von Melanie Klein eingeführt, ist problematisch. Der Ausdruck impliziert, dass dieses Objekt danach verlangt, zum Totalobjekt zu werden, zum hochgeschätzten Gegenstand unserer Liebe und unserer Zärtlichkeit.1
Gegen diese Auffassung betont Lacan, dass das Partialobjekt „mit Notwendigkeit in einem Zustand von Unabhängigkeit ist“2.
Er verweist hierfür auf ein Gemälde von Vittore Carpaccio, Sankt Georg und der Drache (wenn man das Bild zu Beginn des Artikels anklickt, bekommt man eine Vergrößerung).3 Es zeigt die klassische imaginäre Szene, ein Duell. Am rechten Bildrand sieht man den Kampfeinsatz, die Prinzessin; sie ist das Objekt des Begehrens und zugleich die Beobachterin. Es gibt noch eine zweite Beobachterin: die vom Drachen beherrschte Stadt, ein Blick ohne Augen.
Wie hat man Drache und Ritter zuzuordnen? Orientiert man sich am dargestellten Stand der Erzählung, entspricht der Ritter dem Ich und der Drache dem kleinen anderen. In dieser Perspektive ist der Drache für Georg der Rivale, der über das Objekt verfügt und es dadurch für den Ritter zum Objekt des Begehrens werden lässt. Hält man sich an Komposition und Malweise, muss man umgekehrt klassifizieren. Carpaccio hat den Drachen klein, blass und hässlich dargestellt, im Gegensatz zur prunkvollen Präsentation von Ritter und Dame; und er hat die Prinzessin auf der Seite des Ritters platziert, als gehörte sie ihm bereits. In dieser Perspektive erblickt der Drache im Ritter sein Idealich, das ihn des Objekts beraubt.
Beim zweiten Hinsehen bemerkt man, dass die Lanze des Ritters zerbrochen ist und dass die Konfrontation sich an einem Ort der Verwesung ereignet. Der Boden ist übersät mit Menschen-Abfall, mit verstümmelten Leibern, abgetrennten Gliedmaßen, verstreuten Knochen.4 Der Grund, auf dem sich der Kampf abspielt, ist ein Abgrund; von ihm muss ein unerträglicher Gestank ausgehen.
Die Überbleibsel der Drachenmahlzeiten liefern Lacan das Modell für die Deutung des Partialobjekts, also für die Entität, die er ab Seminar 9 als Objekt a bezeichnen wird. Die Körperreste sind, bezogen auf den Drachen und den Ritter, in einem Zustand von Unabhängigkeit. Das Partialobjekt ist ein Rest des menschlichen Körpers, erzeugt durch den Drachenbiss. Das Partialobjekt entsteht durch eine Abtrennung, einen Schnitt.
Nachtrag vom 23.3.2013: J. schreibt mir als Antwort auf diesen Blogeintrag, sie werde noch herauszufinden versuchen, was es mit den „Partizipialobjekten“ auf sich hat. Mit diesem Überraschungsgast aus dem Reich der Grammatik kann man es so formulieren: Das Problem des Terminus „Partialobjekt“ besteht darin, dass das Objekt als eines suggeriert wird, das an einer Totalität partizipiert: als Partizipialobjekt.
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Anmerkungen
- Vgl. Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 244 f.
- ebd., S. 244
- Auf dieses Bild hatte Lacan sich bereits in Seminar 2 bezogen, Version Miller/Metzger, S. 312.
- Der Drache erhebt sich inmitten eines charnier, sagt Lacan, eines Massengrabes, einer Leichengrube, nicht, wie Metzger auf S. 245 übersetzt, eines „Beinhauses“. „Beinhaus“ wäre ossuaire.