Crashkurs Lacan: Samurai Fiction
Heishiro Inukai (Mitsuru Fukikoshi) blutet die Nase
Standbild aus dem Film Samurai Fiction, Regie: Hiroyuki Nakano
Copyright: Pony Canyon, Japan 1998
Sound Recording Copyright: Rapid Eye Movies, Deutschland 2009
Kleine Anwendungsübung:
Was zeigt sich, wenn man die Handlung von Samurai Fiction durch die Lacan-Brille betrachtet?
Rahmendaten: Die in schwarzweiß gedrehte japanische Samurai-Komödie kam 1998 in die Kinos. Alternativtitel: SF: Episode One. Das Drehbuch schrieben Hiroshi Saitō und Hiroyuki Nakano, der auch Regie führte. DVD-Sprachen: japanisch, deutsch; deutsche Untertitel optional. Eine Transkription der Dialoge auf englisch findet man hier.
In einigen Rezensionen wird behauptet, die Handlung sei die Standardhandlung eines Samurai-Films. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen.
Die Handlung
Akteure
- Kanzen Inukai (gespielt von Taketoshi Naitô), Minister von Nagashima, Vater von Heishiro Inukai, Samurai
- Heishiro Inukai (Mitsuru Fukikoshi), Sohn von Kanzen Inukai, Samurai in Ausbildung
- Rannosuke Kazamatsuri (Tomoyasu Hotei), zunächst Schwerthüter von Nagashima, dann Samurai ohne Herrn = Rōnin
- Hanbei Mizoguchi (Morio Kazama), Samurai ohne Herrn = Rōnin, früher Lehrer der Kampfkunst, am Ende der Handlung Beamter im Dienste des Ministers
- Koharu Mizoguchi (Tamaki Ogawa), seine Adoptivtochter
- Ryunosuke Kuzumi (Fumiya Fujii), Koharus Vater, Samurai
- Okatsu (Mari Natsuki), Besitzerin einer Spielbank und eines Bordells
Japan, 1696. Dem Nagashima-Clan ist der wertvollste Besitz geraubt worden: das Prunkschwert; dabei wurde ein Mann getötet. Als der Schogun dem Clan die Herrschaft übertrug, war dies durch die Übergabe des Prunkschwerts besiegelt worden. Der Minister des Clans, Kanzen Inukai, ist vor allem deshalb in Sorge, weil das Schwert für das Fest der Mannbarkeit seines Sohnes benötigt wird. Die Position des Clan-Ministers ist erblich; wenn das Schwert beim Fest nicht präsentiert wird, könnte das für den Clan das Ende der Herrschaft bedeuten.
Den Titel „Minister“ verwendet die deutsche Synchronfassung. In der englischen Version heißt er chief councilor, also „Oberrat“ oder „Ratsvorsitzender“. Das Fest wird in der englischen Fassung als attainment ceremony bezeichnet, wörtlich „Erreichungs-Zeremonie“; gemeint ist vermutlich die Einsetzung in Status eines Voll-Samurai.
Der Dieb ist ausgerechnet der Schwerthüter: Rannosuke Kazamatsuri, ein Schwertkämpfer, dessen Künste den Minister beeindruckt haben. Durch den Diebstahl wird Kazamatsuri zu einem Rōnin, einem umherwandernden Samurai ohne Herrn, außerhalb der Ständeordnung. (Bilder zum Vergrößern anklicken.)
Der Minister erhält den Rat, eine Kopie des Schwerts anfertigen zu lassen; nach anfänglichem Zögern stimmt er zu. Sein Sohn, Heishiro Inukai, ist ganz und gar nicht einverstanden. Er will Kazamatsuri im Schwertkampf besiegen, auf diese Weise das Prunkschwert zurückerobern und damit zeigen, was er kann. Seinen Vater sieht er kritisch; der Minister predigt zwar den Weg des Samurai – die Leidenschaften bringen nur Unglück usw. –, in den Augen von Heishiro ist er jedoch ein unbesonnener Hitzkopf (und vom Regisseur wird er für den Blick des Zuschauers so inszeniert, wie er Heishiro erscheint). Von zwei Freunden begleitet, macht Heishiro sich auf den Weg, um Kazamatsuri zu suchen. Der Minister beauftragt seine Ninja – schattenhafte mörderische Spione –, Heishiro zu folgen, um ihn zu schützen und dem Dieb das Schwert abzujagen.
Die drei finden Kazamatsuri und fordern ihn zum Schwertkampf heraus. Er ist ihnen haushoch überlegen, bald hat er einen von Heishiros Freunden getötet. Als Kazamatsuri zum Schlag gegen Heishiro ausholt, wird er von einem Stein getroffen; dadurch überlebt Heishiro den Hieb, wenn auch schwer verwundet. Der Steinewerfer ist Hanbei Mizoguchi. Er ist Samurai und trägt deshalb ein Schwert; er setzt es jedoch nicht ein. Geschickt weicht er Kazamatsuris Angriffen aus und bittet ihn eindringlich, von der Gewalt abzulassen. Kazamatsuri geht.
Wie Kazamatsuri ist auch Mizoguchi ein Rōnin, allerdings sesshaft; mit seiner Tochter Koharu lebt er in einem Waldhaus. Früher war er Lehrer der Kampfkunst. Dem Töten hat er abgeschworen und sich Buddha zugewandt; er träumt davon, in den Dienst des Ministers zu treten und Regierungsbeamter zu werden.
Hanbei Mizoguchi nimmt den verletzten Heishiro bei sich auf. Koharu spielt die Krankenschwester und so dauerts nicht lang, bis Heishiro und Koharu sich ineinander verliebt haben.
Kazamatsuri, das Prunkschwert immer auf dem Rücken, geht in die nächstgelegene Stadt und quartiert sich bei Okatsu ein, Besitzerin eines Bordells und einer Spielbank; vom Regisseur wird sie als Chefin einer Yakuza-Gruppe inszeniert, als Boss der örtlichen Mafia. Sie versucht, ihn als Liebhaber zu gewinnen und bittet ihn, das Unternehmen mit ihr gemeinsam zu führen, er aber denkt nur an das eine: daran, mit Mizoguchi zu kämpfen. Die Friedenszeit unter dem Tokugawa-Schogunat verachtet er – in diesem Punkt zeigt er ausnahmsweise ein wenig Emotion. Ein Ninja, der für Heishiros Vater arbeitet, bezahlt Okatsu dafür, Kazamatsuri zu vergiften; Kazamatsuri vereitelt den Versuch und tötet Okatsu.
Auch der verwundete Heishiro denkt nur ans Kämpfen, sein Wunschgegner ist Kazamatsuri. Jetzt geht es ihm nicht mehr nur darum, das Prunkschwert zurückzugewinnen, er will auch den Tod seines Freundes rächen. Damit muss er allerdings warten, bis seine Wunde verheilt ist. Während der Genesungszeit begleitet er Koharu Mizoguchi beim Kräutersammeln. Für Momente entblößen sich Partien ihrer Haut: eine Wade wird sichtbar, der Ausschnitt ihres Kimonos öffnet sich; der Anblick versetzt Heishiro in sexuelle Erregung. Man sieht es deutlich: daran, dass ihm Blut aus der Nase läuft. Koharu bringt das zum Lachen; belustigt erzählt sie ihrem Vater von Heishiros Nasenbluten. Hanbei Mizoguchi und Koharu versuchen, Heishiro davon zu überzeugen, dass es besser ist, auf Rache zu verzichten; Buddha hat verkündet, sagt Hanbei, dass man nicht töten darf. Außerdem habe Heishiro im Schwertkampf gegen Kazamatsuri keine Chance. Hanbei zeigt Heishiro, wie er Kazamatsuri besiegen kann, ohne ihn zu töten: durch Steinwürfe.
Von Koharu erfährt Heishiro, dass Hanbei Mizoguchi nicht ihr leiblicher Vater ist; sie ist Waise, und Hanbei hat sie adoptiert. Hanbei erzählt Heishiro den anderen Teil der Geschichte: Koharus Vater, Ryunosuke Kuzumi, gehörte zu einem feindlichen Clan, und Hanbei hatte ihn im Schwertkampf getötet. Im Sterben hatte Kuzumi seinen Gegner Hanbei gebeten, sich um seine kleine Tochter zu kümmern. Hanbei Mizoguchi trat aus seinem Clan aus und nahm Koharu bei sich auf – um, wie er sagt, die Sünde, die er begangen hat, immer vor Augen haben. Seither übt er (meist) Gewaltverzicht.
Kazamatsuri entführt Koharu und zwingt auf diese Weise Hanbei Mizoguchi, mit ihm zu kämpfen. Ohne Mühe schlägt er Kazamatsuri die Schwerter aus der Hand, zunächst Kazamatsuris eigenes Schwert, dann das Prunkschwert. Es fliegt über den Rand einer Klippe und landet auf dem Grund eines Flusses.
Gedemütigt steht Kazamatsuri vor Hanbei Mizoguchi. Kazamatsuri lächelt Mizoguchi an, sagt: „Es war mir eine Ehre, mit Ihnen gekämpft zu haben“, und springt in den Abgrund. Später erfährt man, dass nie eine Spur von ihm gefunden wurde; der Sprung bleibt in der Schwebe zwischen Selbstmord wegen Schande und geheimnisvollem Verschwinden. (Man denkt an Sherlock Holmes, der beim Kampf mit Moriarty (zusammen mit seinem Gegner) in die Reichenbachfälle stürzte, dessen Leiche nie gefunden wurde und der deshalb für tot gehalten wurde, der sich aber dank der Beherrschung einer japanischen Kampfkunst retten konnte und sich lange versteckt hielt.)
Heishiro, der von sich sagt, er wisse nicht, ob er schwimmen könne, springt kopfüber in den Fluss (den Sprung Kazamtsuris gewissermaßen wiederholend) und holt das Prunkschwert herauf.
Als Voice-over-Stimme erzählt Heishiro das Happy End: Er wurde ein Samurai und heiratete Koharu; Hanbei Mizoguchi erhielt die ersehnte Beamtenstelle.
Von Lacan aus gesehen
Das Ich (moi) und das Idealich
Der Held der Geschichte ist Heishiro, der Sohn des Ministers. Heishiro hat ein Ideal, er möchte ein großer Schwertkämpfer sein. Dieses Ideal wird für ihn von Kazamatsuri verkörpert. Der Regisseur inszeniert Kazamatsuri für den Zuschauer so, wie dieser sich für Heishiro darstellt: vor allem als Körperbild. Ein wortkarger großer Mann, dessen Gesicht niemals Emotionen zeigt und der sich beim Gehen durch einen speziellen Samurai-Schritt auszeichnet: aufrechte Haltung, weit ausholender, langsamer Schritt, unbeirrtes Voranschreiten (dieser Gang wurde aus Filmen von Kurosawa übernommen, wie Hotei, der Kazamatsuri spielt, in einem Interview auf der DVD erwähnt). Indem Heishiro sich in Kazamatsuri spiegelt, erfährt er sich als körperliche Einheit; wenn diese Spiegelung misslingt, erlebt er sich in seiner Unkoordiniertheit. So, wie er sich dann fühlt, wird er vom Regisseur dem Zuschauer präsentiert: als Tollpatsch.
Die Niederlage gegen Kazamatsuri ist für Heishiro eine unerträgliche Schande. „Ich schämte mich so sehr, dass ich nur noch sterben wollte“, sagt seine Voice-over-Stimme. Zwischen ihm und seinem Ideal ist Koexistenz nicht möglich; entweder der andere stirbt oder er selbst.
Die Beziehung von Heishiro zu Kazamatsuri ist, in Lacanschen Begriffen, die zwischen dem Ich (moi) und dem Idealich (moi idéal), auch „Bild des imaginären anderen“ genannt (des mit kleinem a geschriebenen anderen). Das Ich konstituiert sich dadurch, dass es sich im Idealich spiegelt (vgl. hierzu diesen Blogartikel).
In Seminar 6 erläutert Lacan die Beziehung zwischen dem Ich und dem Idealich durch ein Fechtduell: durch den Kampf zwischen Hamlet und Laertes, in dem Hamlet die Position des Ichs einnimmt und Laertes die des Idealichs1 (vgl. hierzu diesen Blogartikel).
Dass es das Ideal ist, das getötet werden soll, war eines der frühesten Themen von Lacan, noch bevor er Psychoanalytiker wurde; er behandelt es in Über die paranoische Psychose und ihre Beziehung zur Persönlichkeit (1932).
Der einzelne Zug
Der Schwertkämpfer Kazamatsuri hat ein Gesetz übertreten, das man aus der Handlung erschließen kann: offenbar war es verboten, das Prunkschwert auch nur anzurühren, aber genau das tut er. Dabei tötet er einen Mann. Auch Heishiro, der Held der Geschichte, übertritt ein Verbot. Sein Vater will nicht, dass er das Schwert zurückerobert, aber genau das versucht er und zwar auf dem Wege, dass er sich bemüht, einen Mann zu töten. Heishiro übernimmt von seinem Ideal Kazamatsuri also ein isoliertes Merkmal, einen „einzigen Zug“, wie Freud sagt, mit Lacan: einen trait unaire, ein einzelnes Merkmal: das Übertreten eines vom Minister/Vater verhängten und über dem Schwert liegenden Verbots in Verbindung damit, jemanden zu töten.
Der reale Vater
Als der Minister Kanzen Inukai gegen seinen Sohn Heishiro im Spiel verliert, verschiebt er die Steine und behauptet, das Spiel sei unentschieden. Dieser Vater ist, wie Heishiro daraufhin zärtlich sagt, „nur ein kleiner Junge“. Verglichen mit dem Ideal, das Kanzen predigt, wirkt er auf Heishiro lächerlich.
Heishiros Kritik beruht auf einer starken Bindung. Nur widerstrebend hatte Kanzen sich dem Rat angeschlossen, eine Kopie des Schwerts anfertigen zu lassen. Als Heishiro sich auf den Weg macht, um das Schwert zurückzuerobern, erfüllt er den geheimen Wunsch des Vaters.
Lacan nennt den Vater, der die Rolle des idealen Vaters nicht ausfüllen kann, den realen Vater.
Die symbolischen Väter
Vater Kanzen interveniert in die Beziehung zwischen seinem Sohn Heishiro und dessen Ideal: er bemüht sich, Heishiro vom Kampf gegen Kazamatsuri abzubringen. Das gelingt ihm nicht. Der frühere Schwertkämpfer Hanbei Mizoguchi versucht dasselbe und hat Erfolg.
Hanbei hat dem Kämpfen – der imaginären Rivalität – abgeschworen und konzentriert sich ganz darauf, Koharus Vater zu sein. Er ist nicht ihr leiblicher Vater, sondern ihr Adoptivvater. Er verkörpert den symbolischen Charakter der Vaterschaft. Koharu sagt: „Es ist nicht wichtig, dass Eltern und Kinder blutsverwandt sind. Er und ich, wir fühlen füreinander wie Vater und Tochter.“
Mizoguchi ist nicht nur unter diessem Aspekt und in dieser Beziehung ein symbolischer Vater. Er ist für Heishiro auch derjenige, der ein Gesetz verkündet und es durchzusetzen versucht und der damit wirksam in die imaginäre Rivalitätsbeziehung eingreift.
Das Gesetz, das von Mizoguchi repräsentiert wird, lautet „Du sollst nicht töten“. Dafür beruft er sich auf Buddha, der für ihn die Position des symbolischen Anderen einnimmt, genauer gesagt: des Wahrheitsgaranten, des „Anderen des Anderen“, wie Lacan sagt.
Mizoguchi wünscht sich, Staatsbeamter zu werden. Damit bezieht er sich auf einen weiteren symbolischen Anderen, auf den Minister, Heishiros Vater, der ihm die Befehle erteilen wird. Auch in dieser Beziehung gibt es einen Anderen des Anderen, der das letzte Urteil spricht: den Schogun. Mizoguchi verkörpert die Illusion der Einheit der religiösen und der politischen Ordnung, der Harmonie zwischen dem Befehl, nicht zu töten, und dem Befehl zu töten, mit den Signifikanten „Buddha“ und „Schogun“ als Wahrheitsgarantien. (Die Wirklichkeit war anders. Während der Edo-Periode erlebte der Buddhismus einen Niedergang und der Konfuzianismus einen Aufstieg. Ende des 17. Jahrhunderts, also zum Zeitpunkt der Filmhandlung, war der Konfuzianismus zur herrschenden Ideologie geworden.2 )
Wie wurde Mizoguchi zum Repräsentanten des politisch-religiösen Gesetzes, wie wurde das Gesetz in ihm selbst verankert? Durch ein Damaskuserlebnis, wenn man so sagen darf; in einer Rückblende wird es von ihm erzählt. Ausgangspunkt ist ein Duell, also die klassische Form der imaginären Rivalität. Hierbei tötet er seinen Gegner, Ryunosuke Kuzumi. Sterbend bitet Kuzumi ihn, für seine Tochter zu sorgen.
Kuzumis Wunsch ist für Mizoguchi ein Mandat, ein Auftrag, durch den sich seine Position in der symbolischen Ordnung radikal verändert: er kündigt die Clan-Mitgliedschaft und schwört dem Töten ab. Die Bitte des sterbenden Rivalen ist für ihn ein „volles Sprechen“, wie Lacan es im Rom-Vortrag nennt.
Durch Mizoguchis Wandlung wird das Töten des Rivalen nachträglich zu einem Mord, zum Übertreten eines Verbots. Mizoguchi übernimmt das Gesetz also durch einen Vatermord. Von Freuds Lehre, dass die Übernahme des Verbots sich auf den Mord am Vater gründet, gibt es her eine kleine Abweichung: Mizoguchi bringt nicht seinen eigenen Vater um, sondern den seiner zukünftigen Tochter.
Für Mizoguchi ist der entscheidende symbolische Andere also Koharus Vater Kuzumi. Durch den Mord wird dieser zu einem Signifikanten und damit zu einem symbolischen Vater, der Mizoguchi das Mandat „Du bist ein Vater und du darfst nicht töten“ erteilt. Mizoguchi identifiziert sich mit diesem Vater-Signifikanten: er nimmt Kuzumis Stelle ein. Diese Identifizierung ermöglicht es ihm, sich den sozial herrschenden Gesetzen zu unterwerfen, dem Gesetz des Buddha und, wie er hofft, dem des Ministers und damit des Schogun.
Das Reale
Im Kampf mit dem Schwertkämpfer Kazamatsuri wird Heishiros Freund getötet und er selbst schwer verwundet, in der Sprache der Ärzte: er erleidet ein Trauma. Zwei Tage lang ist er bewusstlos. Als er aufwacht, ist seine erste Frage: „Wie geht es meinen beiden Freunden?“ Mizoguchis Antwort lautet: „Demjenigen, der Suzuki heißt, geht es gut.“ Heishiro erwidert: „Gut. Suzuki ist gerettet worden.“ Dass der andere Freund tot ist, darf nicht gesagt werden.
Der verwundete Heishiro will gegen Kazamtsuri in den Kampf ziehen, und Mizoguchis Tochter Koharu versucht, ihn davon abzubringen: „Wenn Sie jetzt gegen ihn kämpfen, wird er sie nur noch einmal schlagen.“ Ihr Vater geht dazwischen: „Es reicht, Koharu!“ Über die Niederlage, über das Trauma, das er empfangen hat, darf nicht gesprochen werden.
Für Freud ist das Trauma das, was nicht assimiliert werden kann und sich deshalb dem Erinnern widersetzt. Das Unbewusste – sagt , Freud – verfügt nicht über eine Vorstellung für den eigenen Tod. Lacan nennt das, was sich der Symbolisierung absolut widersetzt, das Reale. Das Trauma ist für ihn eine der Formen des Realen (vgl. diesen Blogbeitrag).
Im Film geht es nicht um die Unmöglichkeit, sich an das Trauma zu erinnern, sondern um ein Verbot. Von Lacan aus gesehen, wird damit die Unmöglichkeit in ein Verbot übersetzt: das Verbot verbietet das, was zu tun unmöglich ist.
Das Subjekt und sein Symptom
Heishiro, der Held, kann das von Mizoguchi repräsentierte Gesetz zunächst nicht annehmen. Er ist von der Rivalitätsbeziehung zu dem Schwertkämpfer Kazamatsuri gefesselt. Mit Lacan gesprochen: Das Imaginäre blockiert den Zugang zum Symbolischen.
Heishiro ist jedoch nicht nur ein Ich, das in eine Rivalität zu seinem Idealich verstrickt ist. Er ist zugleich ein Subjekt im Sinne von Lacan, ein Wesen, das auf zwei Ebenen gleichzeitig kommuniziert: auf der des sinnorientierten Sprechens und auf der des Wiederholungszwangs, der Symptombildung, der Produktion von Signifikanten, deren Sinn ihm entgeht. Heishiro ist ein gespaltenes Subjekt (vgl. hierzu diesen Blogartikel).
- Heishiro verlässt den Palast und lebt im Wald. Anders gesagt: Er versucht, außerhalb der symbolischen Ordnung zu leben.
- Er hat einen Wunsch, der nicht erfüllt wird und nicht erfüllt werden kann. Er möchte mit Kazamatsuri ein zweites Mal kämpfen, was ihm jedoch nicht gelingt und am Schluss auch nicht mehr gelingen kann, da Kazamatsuri sich in den Abgrund gestürzt hat. Mit Lacan gesprochen: Heishiro hat ein Begehren.
- Heishiro sucht einen Platz in der sozialen Ordnung, er möchte ein voll anerkannter Samurai werden. Das Subjekt ist auf der Suche nach einem Platz.
Das Subjekt ist für Lacan ein Produzent, und das, was vom Subjekt produziert wird, ist das Symptom.
Der Anblick von Koharus nacktem Bein und der Einblick in ihr Dekolleté haben zur Folge, dass seine Nase blutet. Der Zuschauer weiß, was das bedeutet: in den Manga ist das Nasenbluten ein stereotypes Symbol für sexuelle Erregung. Heishiro selbst nimmt das sich wiederholende Bluten nicht wahr; wenn Koharu ihn darauf aufmerksam macht, ist er verwirrt und verlegen (d.h. ein Subjekt).
Koharu muss über Heishiros blutende Nase lachen; in dieser Situation verkörpert sie für ihn das Idealich, die souveräne imaginäre andere.
Heishiro produziert also ein sich wiederholendes Symptom, genauer gesagt: ein Konversionssymptom, wie es für die klassische Hysterie typisch ist, ein Symptom, bei dem ein Körperteil, hier die Nase, und eine Körperfunktion, hier das Bluten, zu Signifikanten werden, deren Bedeutung ihm unzugänglich ist (zum Begriff des Signifikanten vgl. diesen Blogartikel).
Das Symptom interveniert auf der Ebene des Körperbilds, des Ichs.
Die Struktur, in die Heishiro verwickelt ist, wird von Lacan im sogenannten Schema L dargestellt.3
– Die Verhältnis zwischen Heishiro und Kazamatsuri entspricht der imaginären Beziehung zwischen a und a‘, zwischen dem Ich (moi) und dem anderen in der Position des Idealichs bzw. dem Bild des anderen (des anderem mit kleinem a).
– In diese Beziehung interveniert Mizoguchi als dritter, und zwar dadurch, dass er die Position des symbolischen Anderen einnimmt (des mit großem A geschriebenen Anderen).
– Mizoguchi artikuliert ein Gesetz, „Du darfst nicht töten“. Er wendet sich damit an Heishiro nicht als Ich, sondern als Subjekt. Im Schema wird die Artikulation des Gesetzes durch den von A ausgehenden Pfeil dargestellt, der sich auf den Punkt „(Es) S“ richtet, auf das Subjekt und den Trieb.
– Heishiro hört das Gesetz aus der Position des Schwertkämpfers heraus, als Ich. Dem entspricht im Schema der vom Anderen zum Ich führende waagerechte Pfeil.
– Damit wird Heishiros Beziehung zu Kazamatsuri ins Spiel gebracht, sie hat die Funktion, das Gesetz „Du sollst nicht töten“ abzuwehren. Die imaginäre Beziehung a‘-a blockiert den vom Anderen ausgehenden Appell an das Subjekt.
– Das von Mizoguchi vorgebrachte Gesetz wird durch die Rivalitätsbeziehung jedoch nicht unwirksam, sondern unbewusst (vgl. den vom Anderen ausgehenden, schräg nach „(Es) S“ führenden Pfeil). Als unbewusstes Gesetz erreicht es Heishiro qua Subjekt (dies entspricht dem gestrichelten zweiten Abschnitt der vom Anderen zum Punkt „(Es) S“ führenden Pfeilverbindung).
– Als Subjekt antwortet Heishiro auf das von Mizoguchi kommende Gesetz mit einem Symptom, dem Nasenbluten. Dieses Symptom wendet sich an Koharu: es ist das, was er ihr, unwillentlich, zeigt. Wenn sie es erblickt, reagiert sie überlegen; in dieser Situation ist sie für ihn das Idealich. Im Schema ist dies der waagerechte Pfeil, der von „(Es) S“ zum anderen führt.
– Das Symptom, das Nasenbluten, erzeugt im Körperbild einen Fleck; dies entspricht der schräg vom anderen (aꞌ) zum Ich (a) führenden Verbindung.
Auch Mizoguchi hat, wie erwähnt, ein Symptom: er futtert beständig provozierend vor sich hin, anfangs im Gehen auf der Straße, in der Schlussszene am Schreibtisch im Dienste des Ministers. (Hegel hätte gesagt: Er klammert sich an das Genießen, und dies hindert ihn daran, sein Leben aufs Spiel zu setzen.) Er leistet sich eine kleine Regelverletzung (das Essen auf der Straße ist in Japan bis heute verpönt, das Essen am Dienstschreibtisch auch in Deutschland), und dieser Tabubruch wiederholt sich. Mizoguchis Esserei erinnert daran, dass es nicht möglich ist, den mit der Integration in die symbolische Ordnung verbundenen Genussverlust (sei es an Kampflust oder an oralem Sadismus) ohne Rest anzunehmen, d.h. ohne dass sich eine Ersatzbefriedigung herausbildet, die mit dem Symptom verbundene „Mehrlust“, wie Lacan sagt. Anders als Heishiro ist Mizoguchi mit seinem Symptom jedoch glücklich; er verkörpert das Ideal, dass es einem gelingen könnte, das Symptom als Charakerzug ins Ich zu integrieren, als kleine Macke, mit der man einverstanden ist, so dass die mit ihm verbundene Befriedigung vom Ich nicht als Unlust registriert wird.
Warum nimmt bei Heishiro das Symptom die Form des Nasenblutens an? Das Austreten einer Flüssigkeit aus einem herausragenden Organ verweist auf die Ejakulation, die sich wiederholende Blutung auf die Menstruation, insgesamt artikuliert das Symptom demnach die der Hysterie zugrundeliegende Frage „Was heißt es, ein Mann oder eine Frau zu sein?“ Dieses Problem ist ein großes Thema der japanischen Populärkultur.
Jedes Symptom ist überdeterminiert. Das Blut ist ein nahezu universales Symbol für das Leben, sicherlich auch in Japan. Die Nase dient dem Atmen; auch der Atem ist ein Lebenssymbol. Das vom Anderen, von Hanbei Mizoguchi, kommende Gesetz bezieht sich auf das Leben: „Du sollst nicht töten“. Am Schluss des Films wird die Voice-over-Stimme von Heishiro es so formulieren: „Das Wichtigste ist, sein Leben mit aller Kraft zu leben, bis man es aushaucht.“ „Aushaucht“: das Leben wird hier direkt mit dem Atmen verbunden. Mit dem Nasenbluten artikuliert Heishiro nicht nur seine Frage, er symbolisiert damit auch das Gesetz des Lebens, ein Gesetz, das er abwehrt, das er aber gleichwohl artikulieren muss: als Symptom. Lacans Formel hierfür lautet: „Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen“ (vgl. hierzu diesen Blogartikel).
Dritte Bedeutung: Heishiro ist verwundet. Über sein Trauma darf nicht gesprochen werden. Dies führt dazu, dass die Verwundung sich wiederholt: Heishiro blutet.
Warum kann Heishiro die genitale Erregung, die ihn beim Anblick gewisser Körperteile von Koharu erfasst, nicht akzeptieren? Weil er keinen Signifikanten dafür hat.
Imaginärer und symbolischer Phallus
Das Langschwert der Samurai, das Katana, ist im Film eine gefährliche Waffe, deren Handhabung an die Körperbeherrschung gebunden ist, an das Ich. In ihm konzentriert sich die Aggressivität. Melanie Klein zufolge ist der Penis in den Phantasien des Kindes eine tödliche Waffe. In Lacanscher Begrifflichkeit: das Katana fungiert als imaginärer Phallus.
Von den Samuraischwertern ist das Prunkschwert zu unterscheiden. Seine aggressive Funktion ist stillgelegt, es repräsentiert die Macht des Herrschers, und diese Macht hat die Funktion, die tödliche Rivalität zwischen den Clans zu überwinden. Mizoguchi wiederholt diese Stilllegung. Er trägt zwar ein Katana, aber er verwendet es nicht; für ihn ist das Schwert, das er trägt, nur ein Standessymbol. (Bis auf ein paar Ausnahmen: zum Schwert greift er, wenn es darum geht, anderen zu helfen; am Schluss, um Koharu zu befreien, davor, um das Geld zu verdienen, das er benötigt, um Heishiro ein Pferd zu kaufen, damit dieser seinen angeblich kranken Vater besuchen kann.)
Die Wiederbelebung der aggressiven Funktion des Prunkschwerts hat tödliche Folgen. Kazamatsuri stirbt genau in dem Moment, in dem er das Prunkschwert in ein Kampfschwert verwandelt.
Bis auf diesen kurzen Augenblick interessiert das Prunkschwert in der Filmhandlung jedoch nur unter einem Gesichtspunkt: ob es gestohlen wurde oder ob es zurückgewonnen wurde, ob es abwesend ist oder anwesend. Anders gesagt: das Prunkschwert fungiert als Signifikant.
Es repräsentiert die Übertragung von Macht, damit aber, unausgesprochen, zugleich den Machtverlust. Zu Beginn der Edo-Zeit (der Errichtung des Zentralstaats) war das Schwert vom Schogun (dem obersten Herrscher) an Heishiros Clan übertragen worden; es erinnert nicht nur an diese Machtübergabe, sondern indirekt auch an die Unterordnung des Clans unter den Shogun: an den Machtverlust.
Zugleich hat das Prunkschwert eine sexuelle Bedeutung. Es wird für Heishiros Mannbarkeitsritual benötigt, also dafür, dass er als heiratsfähiger Mann und als vollgültiger Samurai sozial anerkannt wird.
Die politische und die sexuelle Funktion des Prunkschwerts werden im Film parallelisiert. So wie die Übertragung der politischen Macht die Kehrseite einer sozialen Entmachtung ist, beruht auch die Übertragung der sozialen Mannbarkeit an Heishiro auf einem Verlust: darauf, dass er eine bestimmte Lust opfert, eine Lust jenseits des Lustprinzips: den Genuss am tödlichen Kämpfen. Das Prunkschwert, dessen Existenzweise darin besteht, abwesend oder anwesend zu sein, repräsentiert zugleich den Machtverlust des Clans wie den Genussverlust, der Heishiro zugemutet wird.
Damit hat das Prunkschwert die Funktion des symbolischen Phallus. Der symbolische Phallus ist ein Signifikant, der einzig unter dem Gesichtspunkt relevant ist, ob er abwesend oder anwesend ist. Die Bedeutung des symbolischen Phallus ist die Urverdrängung, das Reale, d.h. der mit der Unterordnung unter die symbolische Ordnung einhergehende unaufhebbare Lustmangel (vgl. hierzu diesen Blogartikel).
Für Heishiro hat das Prunkschwert zunächst eine andere Funktion. Es ist gestohlen worden; damit wird es für ihn zum Objekt des Begehrens im Sinne von Lacan – zu einem Objekt, das er einzig deswegen haben will, weil es im Besitz des Rivalen ist und womit das verkörpert wird, was ihm fehlt.
Dadurch, dass am Schluss der Handlung das Prunkschwert ins Wasser fällt, wird die Wiederbeschaffung des Schwerts von der Beziehung zum Rivalen abgekoppelt. Als Heishiro nach dem Schwert taucht, bezieht er sich nicht mehr auf ein Objekt des Begehrens, sondern auf einen Signifikanten im Spiel von Abwesenheit und Anwesenheit.
Damit ist klar, warum die genitale Erregung bei Heishiro zur Symptombildung geführt hatte. Die phallische Lust hat traumatischen Charakter. Um sie zu integrieren, benötigt das Subjekt einen Signifikanten, den symbolischen Phallus. Über ihn verfügt Heishiro erst in dem Moment, in dem er – jenseits der Rivalitätsbeziehung – den Sprung ins Wasser wagt.
Der imaginäre Vater
Während des Schlussduells zwischen Hanbei Mizoguchi und Kazamatsuri macht Heishiro Koharu einen Heiratsantrag, der folgendermaßen lautet: „Euer Vater siegt auf jeden Fall. Und dann werdet Ihr, Fräulein Koharu, meine Frau. Und dann soll Herr Mizoguchi mein Vater werden.“ Heishiro kann das von Mizoguchi repräsentierte Gesetz schließlich annehmen, aber um den Preis, dass er ihn idealisiert. Heishiro heiratet letztlich zwei Herren, nicht nur Koharu, sondern auch Mizoguchi, einen Vater, dem er unterstellt, immer zu gewinnen.
Heishiro ist Neurotiker, der Mangel im symbolischen Anderen ist für ihn unerträglich, er bezieht sich auf den Anderen als denjenigen, der ganz ist, der sein Begehren beherrscht (also keines hat), und um sicher zu gehen, wählt er sich gleich zwei Andere ohne Mangel (zum Mangel im Anderen vgl. diesen Blogartikel).
Diskurs des Herrn
Als müsse die duale Beziehung sich noch einmal verdoppeln, wiederholt sich die Rivalitätsbeziehung von des Helden Heishiro zum Schwertkämpfer Kazamatsuri in der Beziehung des aktiven Schwertkämpfers Kazamatsuri zu dem ehemaligen Schwertkämpfer Mizoguchi. Für Kazamatsuri ist es Mizoguchi, der das Ideal verkörpert, und auch für Kazamatsuri besteht die Alternative darin, das Ideal zu töten oder von ihm getötet zu werden.
Da Mizoguchi die Herausforderung zum Kampf ablehnt, muss Kazamatsuri sich verwandeln: in einen Herrn, der Mizoguchi einen Befehl erteilt. Damit wird er zum Protagonisten einer Welt, in der die Samurai keinem Herrn unterworfen sind, keinem Schogun. Er wird zum Kämpfer für eine verlorene Sache.
Der Befehl – in Lacans Terminologie: der Herrensignifikant – lautet: „Du musst mit mir kämpfen“, seine Befolgung wird mit Gewalt durchgesetzt, durch die Entführung von Mizoguchis Tochter. Für einen Moment wird Mizoguchi, einst Lehrer der Kampfkunst, zu Kazamatsuris Kampf-Sklaven. Wie bei Hegel gewinnt der Herr – Kazamatsuri – sein Selbstbewusstsein nur dadurch, dass er vom Knecht anerkannt wird. Anders als bei Hegel stirbt der Herr in diesem Kampf (oder er verschwindet), und der Knecht wählt sich einen anderen Herrn: einen Meister, dem er sich kampflos unterwirft, um für ihn die (Schreibtisch-)Arbeit zu leisten, den Minister.
Das phallischen Genießen ist Kazamatsuri nicht zugänglich – an Okatsu und den anderen Frauen des Bordells hat er kein sexuelles Interesse. In Lacans Terminologie: Der Herr ist kastriert.
Mizoguchi wird zum Kämpfen gezwungen. Das gibt ihm, frei von Schuldgefühlen, die Möglichkeit, die Lust zu befriedigen, die er sich verboten hat: die Kampflust, und von der sonst nur ein kleines Symptom zeugt, das Essen-am-falschen-Ort.
Sofern Kazamatsuri als Herr auftritt, lässt sich seine Position mit Lacans Formel des Herrendiskurses (rechts) darstellen.4
– Kazamatsuri erteilt Mizoguchi den Befehl: „Kämpfe mit mir!“ Dies ist der Herrensignifikant (S1) am Platz des Agenten oben links.
– Das bereits vorhandene Savoir faire von Mizoguchi, einem früheren Kampfkunstlehrer, steht während des Kampfes im Dienst des Befehlsgebers. In der Formel wird dies dargestellt durch des Wissen (S2) am Platz des Anderen oben rechts.
– Im Kampf befriedigt Mizoguchi die Kampflust, die er sich verboten hat. Dies wird repräsentiert durch die Mehrlust (a) am Platz der Produktion unten rechts.
– Katzamatsuri ist impotent; die Wahrheit des Herrn besteht darin, dass er kastriert ist. Das gespaltene Subjekt ($) steht am Platz der Wahrheit des Herrn (unten links).
– Es war für Kazamatsuri unmöglich, Mizoguchi durch eine Befehl zum Kämpfen zu bringen, er musste Gewalt anwenden. In Formel wird diese Unmöglichkeit durch den von S1 zu S2 führenden Pfeil repräsentiert.
Der Befehl „Kämpfe mit mir!“ ist derjenige Signifikant (S1), der für einen anderen Signifikanten, für das Wissen (S2), das kastrierte Subjekt ($) repräsentiert.
Diskurs des Hysterikers
Heishiro präsentiert sein Symptom Koharu, deren Reaktion ihn verwirrt und die amüsiert Geschichten darüber erzählt. Dies entspricht der oberen Zeile im Diskurs des Hysterikers (Formel rechts). Das gespaltene Subjekt ($), d.h. der Symptomproduzent, wendet sich an die Andere als Herrensignifikant (S1), als diejenige, die ganz ist, die ihr Begehren unter Kontrolle hat und in der Lage ist, die Situation zu definieren.5
Diese Funktion hatte Koharu bereits früher mehrmals wahrgenommen. Als er krank im Bett liegt, sagt sie ihm, was er zu essen hat. Als er sich weigert, auf den Kampf mit Kazamatsuri zu verzichten, faucht sie ihn an: „Wie verbohrt!“ Für einen Moment lässt sie – sonst immernurlächelnd – die Maske fallen.
In der Schlussszene („Ein Jahr später“) hat sie das Kommando: sie führt Heishiro, der jetzt ihr Ehemann ist, die Hände, mit denen dieser seinem reizbaren Vater den Rücken massiert.
Heishiro wendet sich an Koharu nicht nur als Herrin, sondern auch als Wissende. Als er sie beim Waldspaziergang begleitet, erklärt sie ihm die verschiedenen Pflanzen: das darf man nicht anfassen, und das da stinkt und das gibt eine gute Medizin. Er ruft aus: „Sie wissen ja alles, Fräulein Koharu!“ In der Formel vom Diskurs des Hysterikers wird dies durch das Wissen (S2) am Platz unten rechts dargestellt. Der Hysteriker bezieht sich auf die Andere als Herrin, damit sie ein Wissen produziert.
In der Schluss-Szene wird diese Doppelfunktion verdichtet: sie führt ihm die Hände, hat also das Kommando. Damit setzt sie zugleich ihr Wissen ein, diesmal in Bezug auf die Kunst der Massage.
Heishiro leidet: zunächst liegt er krank im Bett, später produziert er ein Symptom, das ihn verwirrt. Damit wendet er sich an seine Herrin, an Koharu. Sein Leiden hat die Funktion, ihr Begehren wachzurufen, so dass er zum Objekt ihres Begehrens wird. Das Leiden ist in Lacans Begrifflichkeit die Mehrlust, das Objekt a. Im Diskurs des Hysterikers wird dieser Zusammenhang durch das Objekt a am Platz der Wahrheit (unten links) dargestellt: Die unbewusste Wahrheit des Hysterikers besteht darin, dass er begehrt werden will und sich dafür mit dem Objekt a identifiziert, mit dem Restobjekt.
Objekt a
Die Edo-Zeit, in der die Handlung spielt, ist mit einer Vier-Stände-Ordnung verbunden: unten die Händler, die Handwerker und die Bauern, darüber, als herrschende Klasse, die Krieger, also die Samurai. Außerhalb dieses Ständesystems leben die Ehrlosen; dazu gehören beispielsweise die Prostituierten, aber auch die Rōnin, herrenlosen Samurai wie Kazamatsuri und Mizoguchi. Es ist kein Zufall, dass Kazamatsuri bei der Spielbank- und Bordellunternehmerin Okatsu unterkommt.
Das sieht nach einer klaren Innen-Außen-Trennung aus, die im Film auch durch eine räumliche Anordnung dargestellt wird. Hier die Ehrbaren: der Palast des Ministers, dort die Ehrlosen: die Spielbank, das Bordell, dazwischen eine Art Niemandsland: der Wald. Das Zwei-Welten-Schema ist charakteristisch für die Reise des Helden. Wenn Heishiro Kazamatsuri folgt, begibt er sich in eine fremde Welt, in ein Außen, er geht auf Fahrt, er stürzt sich ins Abenteuer.
Diese Topik wird von den Ninja untergraben. Als Spione des Ministers beobachten sie unablässig die Aktivitäten von Heishiro und von Kazamatsuri. Von Zeit zu Zeit greifen sie ein: werfen ein Messer und treffen den Falschen, reichen eine Nachricht weiter, die sich als Lüge herausstellt, oder geben einen Mord in Auftrag.
Die Ninja sind überall und nirgends. Ihr Meister wohnt auf dem Dachboden des Ministers; wird er gerufen, erscheint er durch einen Sprung von der Decke. Während des Kampfes von Heishiro mit Kazamatsuri sind die Ninja hinter den Bäumen versteckt. Das Bordell-Variété wird von ihnen duch ein Loch in der Decke beobachtet. Als Kazamatsuri das Meer bewundert, hängen sie unter ihm an der Klippe.
Die Ninja sind ehrlos wie die Rōnin und wie die Prostituierten. Anders als diese stehen sie jedoch im Dienste des Fürsten. Die Ninja sind die Ehrlosen im Herzen der Ehrbarkeit.
Die Ninja sind der Staat im Staate, der „tiefe Staat“, wie man in der Türkei sagt. Mit Lacan: Die Ninja sind das Objekt a, der von der symbolischen Ordnung ausgestoßene Rest, der im Inneren dieser Ordnung einen Fremdkörper bildet, sie aber genau dadurch in Gang hält.
Um welchen Typ von Objekt a handelt es sich? Die Ninja sind Spione, von denen alles beobachtet wird. Meist sind sie unsichtbar, aber man weiß, dass sie da sind; überraschend tauchen sie auf, werfen ein Messer und sind bereits wieder verschwunden. Ihr Gesicht ist verhüllt, nur die Augen sind zu sehen. In einer Szene charakterisiert der Regisseur sie durch eine Detailaufnahme: durch die sich drehende Spirale eines Bohrers, ein Zitat aus Hitchcocks Vertigo. Ihre Bewegungen sind so schnell, dass den Minister, wenn er sie anschaut, der Schwindel überfällt. Die Ninja sind das Objekt a als Blick – als Blick, der einen verfolgt und tötet, aber auch als Befriedigung des Schautriebs bei der Beobachtung des Treibens im Bordell (zum Blick vgl. diesen Blogartikel).
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Kazamatsuri springt von der Klippe und keine Spur wird von ihm gefunden wird. wird er dadurch zum verschwundenen Objekt, zum Objekt a als Stütze des Begehrens? Nicht auf der Ebene der Handlung. Hier gibt es kein Begehren, das sich auf dieses Verschwinden stützt, keinen Versuch des Zurückgewinnens. Die Suche nach Kazamatsuri wird knapp erwähnt, jedoch nicht als Handlung in Szene gesetzt. Im Gegenteil, nachdem Kazamatsuri verschwunden ist, beziehen die Akteure in einer Schlussszene allesamt akkurat ihren Platz in der großen Samurai-Ordnung (mit den kleinen sozial tolerierten Abweichungen, die das erträglich machen: der Minister ist noch immer unbeherrscht, Hanbei Mizoguchi mampft weiterhin am falschen Ort, jetzt am Schreibtisch, und er realisiert damit eine Mehrlust, die von seinem Herrn nicht angeeignet werden kann). Sicher, Kazamatsuri ist verschwunden, aber er fungiert nicht als verschwundenes Objekt im Sinne der Psychoanalyse.
Dies gilt auf der Ebene der Handlung. Für den Zuschauer kann das anders sein. Das Bild von Kazamatsuri, wie er zum Sprung in den Abgrund ansetzt, bleibt haften. Der Betrachter kann sich die Frage stellen, was aus Kazamatsuri geworden ist, er kann Indizien zusammenstellen, die für die eine oder die andere Lösung sprechen. Für den Zuschauer kann Kazamatsuri zum verschwundenen Objekt werden, zum Objekt a.
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Anmerkungen
- Vgl. Seminar 6, Version Miller, S. 390 f., 394.
- Vgl. hier.
- Zuerst in Seminar 2; Abbildung aus Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 310.
- Abbildung aus Lacan: Radiophonie. Television. Quadriga, Berlin 1988, S. 49.
- Die Formel des Hysterikers wird zuerst in Seminar 17 von 1969/70 entwickelt, Die Kehrseite der Psychoanalyse.