Geneviève Morel
Franz Kaltenbeck: die Psychoanalyse seit Beckett
David Neilson (Hamm) und Chris Gascoyne (Clov) in Endspiel von Samuel Beckett
Citizens Theatre Glasgow 2016
Bühnenbild und Kostüme: Tom Piper. Foto: Tim Morozzo
Für Franz Kaltenbeck1 ist Beckett ein für die Psychoanalyse genauso entscheidender Schriftsteller wie Sophokles, Shakespeare oder Joyce.
Beckett beginnt Anfang der 30er Jahre, nach dem Tod seines Vaters, an den er stark gebunden war, eine Analyse mit Wilfred Bion. Er liest aufmerksam Freud und interessiert sich für den umstrittenen Begriff des Todestriebs; Lacan wird später daraus eine wesentliche Stütze des Genießens (jouissance) machen, aufgefasst als ein Jenseits des Freud’schen Lustprinzips, als einen Exzess der Lust (plaisir) oder des Leidens. Der Dichter verbindet seine „Liebe zu den Steinen“ ausdrücklich mit dem Bestreben, zu einem mineralischen Zustand zurückzukehren, das Freud den Lebewesen zugeschrieben hatte.2
Franz Kaltenbeck weist darauf hin, dass Molloy in dem gleichnamigen Roman durch das Problem der Permutation der sechzehn zu lutschenden Steine dazu gebracht wird, die Weite des Ozeans zu evozieren, als einem Objekt, von dem das Begehren geködert wird. Im Roman heißt es:
„Allerdings, man näherte sich ihm, um zu sehen, was es da gab, ob es sich vielleicht um eine wertvolle Sache handele, die von einem Schiffbruch stammte und vom Sturm an den Strand geworfen war. Aber sobald man bemerkte, dass dieses Strandgut lebte und angemessen, wenn auch dürftig bekleidet war, kehrte man ihm den Rücken.“3
Dieses rätselhafte Objekt, zugleich anziehend und abstoßend – antizipiert es nicht das berühmte Objekt a, das Lacan als Ursache des Begehrens definiert hat? Gegenstand der Angst oder des Genießens, je nach Kontext, Erbe des Begriffs das Ding, der dunkle Teil meines Nächsten oder von mir selbst, dem ich, Freud zufolge, nicht ins Auge sehen und das ich nicht identifizieren kann.
Wenn man Franz Kaltenbeck folgt, handelt es sich nicht nur um eine Vorwegnahme von Lacan durch Beckett, sondern auch um eine Modifikation, ja um eine Korrektur. Er zeigt das ausgehend von Watt, einem Text, der überwiegend zwischen 1942 und 1945 geschriebenen wurde, in Roussillon, wo Beckett sich vor der Gestapo versteckt hielt. Watt wird mit Arsene konfrontiert, seinem Vorgänger im Dienste von Mr Knott, in der Kette der Namen der aufeinanderfolgenden Diener, einer Kette, die ins Nichts führt. Ihm wird dann klar, dass er sich zwischen zwei Toden befindet – jenseits einer bestimmten Grenze sind die Namen seiner Vorgänger verloren, und er wird dasselbe Schicksal erleiden und vergessen werden. Einzig die Schrift wird das Nichts abwenden können. Es ist nicht erstaunlich, dass Watt sieht, wie Arsene sich, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, verdoppelt, in der Morgendämmerung des Tages, an dem er seinen Dienst antritt. Der anbrechende Tag wird wie eine Substanz beschrieben, die überall einsickert. Franz Kaltenbeck sieht darin eine besonders gelungene Evozierung des Dings:
„Wie so oft in seinem Werk arbeitet Beckett auch hier mit einem Understatement. Das Ding wird nicht in einem transzendenten Raum lokalisiert, der Mensch ist nicht scharf davon getrennt. Dies im Gegensatz zu dem, was man glauben könnte, wenn man das Seminar Die Ethik der Psychoanalyse liest, worin Lacan das Ding an einem Ort ansiedelt, der verboten ist und der für jede Repräsentation durch Signifikanten unzugänglich ist.“4
„Sieht aus wie ein Knabe“
Franz Kaltenbeck hat Personen begleitet, die im Gefängnis saßen, weil sie ein Kind gefoltert und schließlich getötet hatten. Er wollte vor allem begreifen, warum Eltern eines ihrer Kinder zerstört hatten, während sie sich paradoxerweise um andere kümmerten. Was bedeutete dieses Kind für sie?
Beckett hat eigenartige Kinder in Szene gesetzt und damit Hinweise gegeben; dazu gehört etwa das Botenkind in Warten auf Godot, das mit einer Stimme sprechen soll, die den Anschein erweckt, als käme es aus einer anderen Welt.
Noch geisterhafter ist das Kind in Endspiel, einem Stück, dass er während der Trauer um seinen Bruder geschrieben hat. Zum Stück gehören vier Personen. Nell und Hagg, die beide in einem Mülleimer leben, sind die Eltern von Hamm, und Clov ist Hamms Diener. Hamm begreift sich als Adoptivvater von Clov, der jedoch nur anerkennt, dass Hamm ihm „dazu“ gedient hat (warum kann er nicht sagen, „als Vater“?).
Nun ist das Stück von der rätselhaften „Geschichte“ über ein Kind durchzogen, die von Hamm erzählt wird. Darin geht es um einen Vater, der auf dem Bauch kriecht und der Hamm bittet, ihn und sein Kind aufzunehmen. Hamm hätte den Vater in seine Dienste genommen; da sein „Roman“ jedoch immer wieder unterbrochen wird, erfährt man nicht, was aus dem Kind schließlich geworden ist.
Am Ende des Stücks verlangt Hamm von Clov, auf eine Leiter zu steigen, um ihm das Außen zu schildern. Das Endspiel setzt das Ende der Welt voraus oder zumindest eine schwere ökologische Krise – das Licht ist grau, die Erde überflutet. Clov betrachtet diesen „Ekel“, stößt danach einen Schrei aus, wendet sich zu Hamm und sagt „mit Entsetzen“: „Sieht aus wie ein Knabe (môme)“.
Woher könnte dieser „Knabe“ wohl kommen, wenn nicht aus dem „Roman“, den Hamm erzählt? Das Kind im Außen, das von Clov gesehen wird, der es als „potentiellen Erzeuger“ bezeichnet (vielleicht eine Anspielung auf seine verschiedenen Väter), ist ein Kind, das man „auslöschen“ müsste, wie das endgültige Wort von Hamm lautet. Als Gefangener von Hamms unterbrochener Erzählung wird Clov, der adoptierte Sohn, das Kind halluziniert haben, von dem das Haus desjenigen belagert wird, der vor allem Clovs Herr geworden ist. Clov sieht im Außen das Kind, das er gewesen ist, das bis in Hamms Fiktion hinein zurückgewiesen worden ist, das also aus dem Symbolischen verworfen ist und im Realen wiederkehrt, wie Lacans Formel lautet.
Diese Deutung wird durch die Hinweise gestützt, die Beckett zur Inszenierung gegeben hat: Der „Roman“ von Hamm ruft in Erinnerung, wie Clov als Kind in sein Haus kam. Clov ist wahrscheinlich eine Zeitlang völlig allein gewesen, da sein Vater auf dem Weg gestorben war. Diese Ereignisse der Vergangenheit haben das Entsetzen hervorgerufen, in dem das gesamte Stück badet.
Der halluzinierte „Knabe“, der Clov erscheint, dieser „potentielle Erzeuger“, den er so sehr fürchtet, antwortet also auf den Bruch der zerbrochenen „Geschichte“ des von Hamm verworfenen Kindes.
„Das ist keine Fiktion mehr. Es gehört zum Realen.“5
Und dieses Kind wird von Hamm ein weiteres Mal dem Tode geweiht. Das Beckett’sche Kind, das zunächst allein gelassen wurde und dann von demjenigen verworfen wurde, der sich gleichwohl als sein Adoptivvater ausgibt, dieses Kind, das im Realen als Halluzination wiederkehrt, erschreckend für seine Eltern aber vielleicht auch für sich selbst, dieses Kind könnte, Franz Kaltenbeck zufolge, den dunklen Status derjenigen aufhellen, die für ihre kriminellen Eltern „überhaupt nicht zu dieser Welt gehören“.
Übersetzt von Rolf Nemitz
Eine frühere Fassung dieses Textes erschien unter dem Titel „Ce qu’il apprend aux psychanalystes“ in Le Nouveau Magazine Littéraire, Heft 6, Juni 2018, S. 90 f., in einem Themenheft zu Beckett.
Urheberrechte für diesen Beitrag bei Geneviève Morel und Le Nouveau Magazine Littéraire
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Anmerkungen
- Franz Kaltenbeck (1944–2018), Psychoanalytiker in Lille sowie in Paris, wohin er in den 70er Jahren gezogen war, um bei Lacan eine Analyse zu machen. Er war Psychoanalytiker in der Haftanstalt von Sequedin und er leitete ein Seminar für Kriminologie am Centre Hospitalier Régional Universitaire von Lille. Er war Chefredakteur der Zeitschrift Savoirs et clinique (érès).
- Vgl. J. Knowlson, Beckett, Babel, 2007, S. 76 und Anmerkung 146 zu Kapitel 1.
- Samuel Beckett: Molloy. Roman. Übersetzt aus dem Französischen von Erich Franzen. In: Ders.: Molloy. Malone stirbt. Der Namenlose. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, S. 103. Originalausgabe: Molloy. Les Éditions de Minuit, Paris 1951.
- F. Kaltenbeck: La psychanalyse depuis Samuel Beckett. In: Savoirs et clinique, Heft 6, 2005/1, S. 191–200, im Internet hier.
- F. Kaltenbeck, „On dirait un môme“. In: Savoirs et clinique, Heft 21, 2016/2, S. 44–54. Vgl. auf dieser Website: F. Kaltenbeck: Verstoßene Kinder. Veröffentlicht am 23. April 2016, hier.