Der zweite Tod – ein Beispiel
Lacan unterscheidet zwei Arten des Todes. Der erste Tod ist der physische Tod. Unter dem zweiten Tod (seconde mort) versteht er den Tod, der das letzte Ziel des Destruktionsstrebens ist, den vom Todestrieb angezielten Tod.
Der zweite Tod ist, Lacan zufolge, abhängig von der Sprache. Der Todestrieb strebt danach, zum absoluten Nullpunkt des Symbolischen zurückzukehren, vor der Einschreibung von Signifikanten, zu dem Nichts, aus dem die Signifikanten hervorgegangen sind – um von hier aus etwas ganz Neues zu schaffen (vgl. diesen Blogartikel).
Ein anschauliches Beispiel gibt er in dem Aufsatz Kant mit Sade.
„Was Sade angeht, das $ (das durchgestrichene S), sieht man schließlich, dass es sein Verschwinden ist, womit er unterzeichnet, als die Dinge an ihr Ende gekommen waren. Unglaublicherweise verschwindet Sade, ohne dass uns irgendetwas, weniger noch als von Shakespeare, von seinem Bild bleibt, nachdem er in seinem Testament verfügt hatte, ein Dickicht solle den Namen, der sein Schicksal besiegelt hatte, auf dem Stein spurlos auslöschen.“1
Das ist nicht superkorrekt – Sade hatte nur verfügt, dass die Spuren seines Grabes verschwinden sollen, vom Auslöschen des Namens auf dem Stein ist bei ihm nicht die Rede.2 Lacan deutet das Testament: Es zielt auf die Vernichtung des eigenen Namens.
Diese Interpretation macht klar, was er unter dem zweiten Tod versteht. Der zweite Tod kann etwa darin bestehen, dass ein Eigenname zum Verschwinden gebracht wird, diese elementare Verankerung eines Subjekts in der Sprache und der Sprache im Subjekt; der Todestrieb ist dann das, was dieses Zum-Verschwinden-Bringen des Namens antreibt (genauer: der Dispositionsbegriff, mit dem dieses Verhalten erklärt wird und wie alle Dispositionsbegriffe ein in logischer Hinsicht tückischer Begriff – ein Mythos, wie Freud sagt). Falls Sie planen, sich anonym bestatten zu lassen, zielen Sie möglicherweise auf den zweiten Tod. Falls Sie durch Heirat endlich Ihren Familiennamen loswerden wollen, vielleicht auch.
Immer habe ich mir ein weiteres Beispiel gewünscht, eines, das noch banaler ist, noch gewöhnlicher. Vor einiger Zeit lief es mir über den Weg, besser gesagt: Ich saß mittendrin.
Ich bin in einer Gesprächsrunde. Diskussionsleiterin ist P. Geschickt wechselt sie zwischen Moderation und eigenen (wohlüberlegten) Beiträgen. In einem Nebensatz betont sie die besondere Offenheit, die in diesem Kreise herrscht. Sie begreift sich als Kreative, auch das deutet sie an. Eine Weile geht’s gut. Denn schneidet sie, zu meinem Erstaunen, einer Teilnehmerin schroff das Wort ab. Die Diskussion kommt trotzdem wieder in Schwung. Fünf Minuten später redet sie einen anderen Teilnehmer nieder – längere Zeit reden tatsächlich zwei Menschen gleichzeitig aufeinander ein, ich verstehe kein Wort; schließlich gibt der andere auf, und P. führt einen interessanten Gedanken aus. Diese Art von perlokutorischem Fingerhakeln habe ich danach wieder in einer Fernsehdiskussion der republikanischen Präsidentschaftsbewerber in den USA gesehen; in der Presse wurde das „shouting match“ genannt.3 So geht es noch öfter. Schließlich protestiert jemand, und P. entschuldigt sich wortreich.
Später höre ich, dass das häufig passiert und, nächste Überraschung, dass P. unter ihrem Verhalten leidet. Es ist ihr peinlich, sie möchte die Diskussionen auf andere Weise moderieren, aber immer wieder geht es mit ihr durch.
Ich fange an zu begreifen. P. verhält sich regelmäßig anders, als sie sich verhalten möchte, und sie leidet darunter – sie hat mich in dieser Sitzung mit ihrem Wiederholungszwang konfrontiert, mit ihrem Symptom.
Worum geht es bei dieser Wiederholung? Ein Sprechen soll vernichtet werden, durch Wortabschneiden und durch Niederreden. Auf den ersten Blick stellt sich das als Kritik dar, aber das ist nur eine Tarnung. Wenn ich kritisiere – wenn ich sage, „das und das finde ich falsch“ –, bewahre ich „das und das“ auf, ich halte es am Leben. P. geht es um etwas anderes, um Annihilierung, um Ungeschehenmachen, darum, einen Zustand herzustellen, als wäre etwas nie gesagt worden.
Also ist hier vermutlich der Lacan’sche Todestrieb am Werk: das Bestreben, den Nullpunkt des Symbolischen zu erreichen. Anders als bei Sade ist der Trieb hier nach außen gewendet, gegen andere.
Das Herbeiführen eines symbolischen Nullpunkts ist für P. die Bedingung, um etwas Neues sagen zu können – ihre Kreativität verwirklicht sich als creatio ex nihilo, als Schöpfung aus dem Nichts, das sie zunächst herstellen muss.
Das vollzieht sich in einer Rivalitätssituation; von Lacan aus gesehen, ist dies der imaginäre Aspekt. Entscheidend aber ist das enjeu, der Einsatz, um den es in diesen Duellen geht: dass ein Sprechen den zweiten Tod erleidet.
Verwandte Artikel
- „Zweiter Tod“ und „Zwischen-zwei-Toden“ in Jacques Lacans Seminar über die Ethik der Psychoanalyse
- Das sadistische Begehren
Anmerkungen
- Kant mit Sade (1963). In: Ders.: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek, S. 289–321, hier S. 306 f., Übersetzung geändert
- Die entsprechende Passage in Sades Testament lautet:
„Wenn die Grube wieder bedeckt ist, soll sie oben mit Eicheln besät werden, damit in der Folge, wenn die Grube wieder mit Erde gefüllt ist und das Dickicht sich wieder ausbreitet wie zuvor, die Spuren meines Grabes von der Oberfläche der Erde verschwinden, da ich mir schmeichle, dass die Erinnerung an mich aus dem Geist der Menschen ausgelöscht werden wird, mit Ausnahme allerdings der kleinen Anzahl jener, die mich bis zum letzten Augenblick haben lieben wollen und an die ich eine süße Erinnerung mit ins Grab nehme.“ - Das shouting match war charakteristisch für die Arbeitsweise der Bourbaki-Gruppe: oft wurden drei oder vier Monologe, mit lauter Stimme, gleichzeitig vorgebracht; vgl. Armand Borel: Twenty-five years with Nicolas Bourbaki, 1949–1973. In: Notices of the American Mathematical Society, 45. Jg. (1998), S. 373–380, hier: S. 375; im Internet hier.