Lesen und verschlingen
Henri Rousseau, Le nomade dormant (Schlafender Nomade), 1897
130 x 201 cm, Öl auf Leinwand, Museum of Modern Art, New York
Ein schönes Beispiel für den kannibalistischen Charakter der Vielleserei (siehe auch hier) finde ich im Ethik-Seminar, im Sprechen von Lacan, nicht auf der Ebene des ausgesagten Inhalts (der énoncé), sondern auf der des Äußerungsvorgangs (der éconciation).
„Während dieser Zeit der Sammlung, den Ferien, habe ich das Bedürfnis verspürt zu einer Exkursion in ein bestimmtes Gebiet aus dem englischen und französischen Satz an Literatur – quaerens, nicht quem devorem, sondern eher quod doceam vobis, was ich Sie lehren soll und wie, das Subjekt betreffend, auf das wir querfeldein zuhalten unter dem Titel der Ethik der Psychoanalyse.“1
In den Ferien hatte Lacan die psychoanalytische Literatur zur Sublimation durchgesehen. Vor seiner Hörerschaft – seinem Anderen – erläutert er nun sein Motiv. Er bedient sich dabei des Lateinischen: quaerens quod doceam vobis, „auf der Suche nach etwas, was ich Ihnen beibringen könnte“. Damit spielt er auf einen Satz aus der Vulgata an, aus der lateinischen Bibelübersetzung: Sicut leo rugiens circuit quaerens quem devoret, „Er geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen kann.“ (1. Petrus, Kapitel 5, Vers 8) Im Petrusbrief bezieht sich das auf den Teufel. Der Satzteil quaerens quem devoret (auf der Suche nach jemandem, den er verschlingen kann) hat sich verselbständigt; die Signifikantenkette ist zu einem geflügelten Wort geworden, sie bezeichnet heute ganz allgemein jemanden, der auf der Suche nach einem Opfer ist.
Lacan sagt von sich, er habe die Literatur gesichtet nicht auf der Suche nach jemandem, den er verschlingen könne, sondern auf der Suche nach etwas, das er seine Hörer lehren könne. Er konfrontiert seine Adressaten also mit derjenigen Form der Abwehr, die von Freud als Verneinung bezeichnet wird.2 In dem, was verneint wird, erscheint der verdrängte Wunsch. In diesem speziellen Fall verweist die Verneinung auf ein kannibalistisches, ein oralsadistisches Begehren.
Quaerens quem devoret, das ist Gebildetensprache, als Zitat und als lateinische Formulierung. Im selben Seminar gibt Lacan seinen Psychoanalytiker-Hörern einen technischen Rat zum Umgang mit solchen Sprachphänomenen.
“Ich werde Ihnen das auch im Detail der analytischen Erfahrung zeigen, und zwar an Merkmalen, die es Ihnen erlauben werden, wach zu sein in dem Augenblick, wo es in einer Analysesitzung auftritt. Sie können es mit der Sicherheit eines Geigerzählers in jenen Referenzen auf das ästhetische Register erkennen, die das Subjekt Ihnen in seinen Assoziationen gibt, in seinem aufgelösten, unterbrochenen Monolog, und wäre es in Form von Zitaten oder Schulerinnerungen. Sicher, Sie haben es nicht immer mit Schöpfern zu tun, aber doch mit Leuten, die einige Beziehungen gehabt haben zum, ich würde sagen, konventionellen Feld der Schönheit. Sie können sicher sein, daß diese Referenzen in dem Maße, wie sie eher sporadisch und als Unterbrechung auftauchen im Verhältnis zum Text des Diskurses, korrelativ sich auf etwas beziehen, das sich im Augenblick vergegenwärtigt und das immer ins Register eines Destruktionstriebs gehört. In dem Augenblick, wo bei einem Subjekt, bei der Erzählung eines Traums zum Beispiel, ein Gedanke offen auftritt, den man als aggressiv gegen einen der Grundterme seiner subjektiven Konstellation bezeichnet, wird es Ihnen je nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit ein Bibelzitat, eine Referenz auf einen Autor, einen klassischen oder nicht, eine musikalische Anspielung bringen.“3
Wenn in einem Monolog ein Zitat auftaucht, das wenig mit dem übrigen Text zu tun hat, manifestiert sich darin ein Destruktionstrieb, hier also der Trieb nach oraler Vernichtung.
Lacan hat einmal erklärt, in seinem Seminar habe er den Eindruck, eine Analyse zu machen.4 Vielleicht ist diese Verneinung – in der Schwebe zwischen Symptom und bewusster Selbstoffenbarung – ein Bruchstück dieser Analyse.
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Anmerkungen
- Seminar 7 von 1959/60, Die Ethik der Psychoanalyse, Version Miller/Haas, S. 109.
- Vgl. S. Freud: Die Verneinung (1925). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 371–377.
- Seminar 7, a.a.O., S. 287.
- Vgl. Elisabeth Roudinesco: Jacques Lacan. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1996, S. 123.