Mein imaginärer Vater und der Weihnachtsmann
Rembrandt van Rijn, Die Anbetung der Hirten, 1654, Radierung, 12,8 x 10,5 cm
Nr. 45 im Katalog von Adam von Bartsch, Nouvelle édition
Das Geheimnis
Mein imaginärer Vater: das ist der Vater, der uns Kindern verraten hat, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Uns Kindern, das heißt, mir und meinen beiden Schwestern. Unserem jüngeren Bruder und unseren Schulkameraden – ich war in der ersten Klasse – durften wir’s nicht weitersagen. Ich war stolz auf dieses Geheimwissen, aber auch auf meinen Vater. Durch seine Offenbarung hatte er in die Welt eine Teilung eingeführt, zwischen denjenigen, die Bescheid wussten, und denjenigen, die noch an den Weihnachtsmann glaubten, das binäre Schema der Aufklärung.
Der imaginäre Vater ist, Lacan zufolge, der Agent der Privation, derjenige, der dafür sorgt, dass das Kind zu der Auffassung kommt, dass nur Männer einen Penis haben, nicht aber Frauen.1 In der Fallgeschichte vom kleinen Hans bringt Freud den Vater von Hans dazu, diese Rolle zu übernehmen. Lacan beschreibt den Vorgang so:
„Sie werden ihm sagen, dass dieser begehrte Phallus nicht existiert. Das wird so von Freud zu Beginn der Krankengeschichte artikuliert, auf den Seiten 263 und 264 der Gesammelten Werke. Für eine Intervention des imaginären Vaters wird man schwerlich besseres finden. Derjenige, der die Welt ordnet, sagt, dass es hier nichts zu suchen gebe.“2
Der imaginäre Vater ist derjenige, der die Welt ordnet, indem er sagt, dass es hier nichts zu suchen gibt. Er ist eine bestimmte Gestalt des lieben Gottes: der allmächtige Vater, der absolute Herr3; er ist der allwissende Vater, der weiß, dass Frauen keinen Penis haben und dass es keinen Weihnachtsmann gibt.
Der Vater des kleinen Hans war nicht in der Lage, diese Rolle auszufüllen: er sagte es Hans, aber das Kind glaubte ihm nicht. Mein Vater hatte damit keine Schwierigkeiten. Er sagte es uns, und wir wussten, dass er recht hatte.
Der imaginäre Vater, das ist auch die Figur, an der mein Gottesglaube sich abgearbeitet hat. Lange Zeit beschäftigte mich folgendes Problem (ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt): Wenn Gott allwissend ist, dann weiß er, dass ich jetzt darüber nachdenke, ob er allwissend ist und er kennt den Ausgang meines Nachdenkens über sein Allwissen im Voraus. Wenn er allmächtig ist, dann ist er es, der das Ergebnis meines Nachdenkens über seine Allmacht bestimmen kann; er kann also dafür sorgen, dass ich denke, dass er nicht allmächtig ist, obwohl er allmächtig ist. Das erschien mir als eine Paradoxie. Um sie zu aufzulösen, kam ich zu dem Ergebnis: Gott gibt es nicht, so wenig wie den Weihnachtsmann. Mit vierzehn Jahren war ich Atheist und bin’s geblieben. Man könnte auch sagen: Um den Narzissmus meines Denkens zu schützen, wurde Gott für mich unbewusst.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Einsichten, dass hier nichts zu suchen ist – dass Frauen keinen Penis haben und dass es keinen Weihnachtsmann gibt? Die erste Assoziation, die mir kommt, ist der Klapperstorch. Statt „Der glaubt noch an den Weihnachtsmann“ sagt man auch „Der glaubt noch an den Klapperstorch“, dazwischen wechselt man hin und her. Ist „Es gibt keinen Weihnachtsmann“ meine Deckerinnerung für „Es gibt keinen Klapperstorch“?
Eine zweite Assoziation stellt sich ein: Sankt Martin. Genauer: Der Sanktmartin, so habe ich ihn im Kopf. Ich weiß nicht, was er mit dem Weihnachtsmann zu schaffen hat, aber der Gedanke ist aufdringlich; je mehr ich ihn zurückzuweisen versuche, desto plastischer wird er. Als mein Vater uns über den Weihnachtsmann aufklärte, lebten wir im katholischen Alsdorf. Am Martinstag machten die Schulkinder abends einen Laternenumzug. Wir sangen: „Im Schnee saß, im Schnee saß, im Schnee da saß ein armer Mann, hat Kleider nicht, nur Lumpen an.“ Unwillkürlich murmle ich das vor mich hin und verfalle in den rheinischen Tonfall meiner Klassenkameraden: [klæɪ̯dɔ]. Ich hörte drei getrennte Sätze und konnte das Lied nicht verstehen. „Hat Kleider nicht.“ Was meinte das? „Nur Lumpen an.“ Was sollte das heißen? Meine Mutter wehrte die Frage ab, „Das glauben die Katholischen“, gab mir aber trotzdem Auskunft: er hatte keine Kleider an, er trug Lumpen. Er war also nackt? Und er trug Fetzen von Stoff? Er war zugleich nackt und bekleidet? Diese Vorstellung verwirrte mich, im Unterschied zum kleinen Hans, der mit Lust phantasierte, die Mutter sei ganz nackt und im Hemd.4 Wie kann man Lumpen anhaben? Die fallen doch runter.
Die Inexistenz des Weihnachtsmanns führt mich zum Bettler, der zugleich nackt und bekleidet ist, und der vom Sanktmartin ein Geschenk erhält – aha, da ist die Verbindung mit Weihnachten. Jetzt fällt mir ein, wie der Penis genannt wurde, als ich klein war: Pillemann. Das Wort ist mir so fremd geworden, dass ich mir nicht sicher bin; ich schaue im Internet nach, es stimmt, in manchen Gegenden sagt man so. Bedeckte er seinen Pillemann mit einem Lumpen? Wie hielt denn das?
Sankt Martin verbindet die Gabe mit dem imaginären Phallus, mit dem Penis, der zugleich zu sehen ist und nicht zu sehen ist.5 Abwehr der Privation? Verbindung des Phallus mit der Struktur der Gabe?
Und der symbolische Vater?
Der imaginäre Vater ist eine der Gestalten, in denen das Kind dem symbolischen Vater begegnet. Der symbolische Vater ist kein Individuum, sondern ein Titel: der Verwandtschaftsname „Vater“, der „Name des Vaters“, wie Lacan auch sagt. Dieser Signifikant verankert im Unbewussten das Inzesttabu; damit bildet er den Kern des Über-Ichs. Wie also hielt mein imaginärer Vater es mit dem symbolischen Vater?
Es ist Heiligabend und wir Kinder sind aufgeregt. Die Feier läuft nach einem festen Schema ab.
– Erster Akt: Das Überschreiten der Schwelle. Wir haben uns fein gemacht und dürfen endlich das Wohnzimmer betreten. Auch die Eltern sind schick; im Baum brennen die Kerzen. Die Geschenke liegen auf dem Tisch, sind aber durch eine weiße Tischdecke verhüllt.
– Zweiter Akt: Mein Vater liest aus einer großen Bibel die Weihnachtsgeschichte vor, „Es begab sich aber zu der Zeit …“. Wir Kinder kennen sie auswendig und hätten sie vortragen könnten, Heiligabend jedoch muss sie vom Vater vorgelesen werden.
– Dritter Akt: Mein Vater spricht ein unendlich langes Gebet, das frei formuliert ist, das wir allerdings von früheren Heiligabenden her schon weitgehend kennen. Es enthält die Wendung „ … dass Du uns behütet hast in Bombenterror und Kriegsgeschrei …“; diese poetischen Worte aus dem Munde meines Vaters verblüffen mich jedes Mal. Danach sprechen wir alle das Vaterunser.
– Vierter Akt: Wir Kinder machen Musik, tragen Gedichte vor, führen vielleicht sogar eine kleine Szene auf. Das kann dauern.
– Fünfter Akt: Wir machen uns über die Geschenke her, die auf dem Tisch liegen, und überreichen den Eltern unsere eigenen, Dinge, die unbedingt selbstgemacht sein müssen. Danach gibt es kein Gesetz mehr: wir dürfen so lange aufbleiben, wie wir wollen, länger als die Eltern.
Das Familienidyll wurde von meinem Vater also um die Geburtserzählung und um das Gebet herum arrangiert. Bei der Weihnachtsgeschichte geht es um den symbolischen Charakter der Vaterschaft und um ihre Verbindung mit dem Gesetz und dem Glauben. Jesus wird geboren, und sein Vater ist ein Gott, der mit der Sterblichen, die schwanger wurde, keinen sexuellen Verkehr hatte und bei dem solche Dinge, anders als bei den Göttern Griechenlands, auch nicht auf dem Programm stehen; trotzdem ist er der Vater. Jesus ist derjenige, der ein neues Gesetz erlassen wird; er wird sagen: „Es steht geschrieben, ich aber sage euch.“6 Das Theologem von der asexuellen Vaterschaft Gottes widerspricht der Erfahrung, man kann es nur glauben; nach der Vergegenwärtigung des Mythos durch Vorlesen vollzog die Familie performativ, durch Gebete, den Glauben an den symbolischen Vater und damit an den rein symbolischen Charakter der Vaterschaft.
Mein Vater sicherte die Identität von Christus und Christkind. Sein patriarchalisches Ritual sorgte dafür, dass es an Weihnachten nicht um den Weihnachtsmann ging, sondern darum, dass die beiden Achsen der symbolischen Ordnung sich kreuzten, das Gesetz und der Tausch. Der Seitenwechsel der Weihnachtsgeschenke – der rituelle Tausch – wurde in den Dienst des Glaubens an einen Vater gestellt, der ein neues Gesetz erlassen hatte und dessen biologische Vaterschaft undenkbar war.
Die Funktion des symbolischen Vaters kann von keinem empirischen Vater realisiert werden. Als Instanz, die das Gesetz begründet, steht der symbolische Vater außerhalb aller Regeln7; diese exterritoriale Position ist einem konkreten Individuum nicht zugänglich. Mein Vater fungierte nicht als symbolischer Vater, er machte sich zu dessen Agenten und wiederholte damit den Gründungsakt des Protestantismus: an die Stelle des Papstes tritt der Hausvater.
Mein Vater hatte einen Sinn dafür, dass es sich bei dem Wort „Vater“ um einen Titel handelt. Während alle anderen Kinder ihre Väter mit „Vatti“ anredeten, verlangte er von uns, dass wir ihn „Vati“ nannten; das klang für uns vornehm und vermutlich auch für ihn. Wenn wir ins ortsübliche „Vatti“ verfielen, wurde er wütend, sehr sogar; der imaginäre Vater in der Version des tyrannischen, schrecklichen Vaters war seine Lieblingsrolle; in dieser Verschleierung trat uns die Funktion des symbolischen Vaters für gewöhnlich gegenüber. Von seinen Enkeln erwartete er, dass sie ihn „Großvater“ titulierten. Meiner Mutter war die Anrede gleichgültig; ihre Kindeskinder hatten eine „Oma“ und einen „Großvater“.
Mein Vater litt darunter, dass er drei Vornamen hatte, die sich allesamt auf Verwandte bezogen: Wilhelm Walter Rudolph. Um der Verwandtschaftsbindung zu entgehen, ließ er sich „Willi“ nennen und schrieb sich auch so. Er gab sich selbst seinen Namen.
Die Kinder sollten es besser haben, meine Eltern gaben uns deshalb Vornamen, die mit der Verwandtschaftsverpflichtung gebrochen hatten. In meinem Fall war das also einfach nur „Rolf“, knapp und damals modern. Tatsächlich steckt mein Name in den Vornamen meines Vaters; „Rolf“ ist die Kurzform von „Rudolph“. Meine Urgroßmutter sprach gelegentlich von ihrem verstorbenen Mann; sie kam aus Pommern und sagte faszinierenderweise „Rüdolph“; ich habe es noch im Ohr.
Als mein Vater starb, war das letzte Wort, das er an mich richtete (mit rasselnden Atem, der Krebs hatte die Lungen erreicht): „Rubens“. Ich wusste sofort, was er meinte, er verdichtete „Ruben“ und „Rubens“. Rubens – mein Vater glaubte, an mir sei ein Maler verlorengegangen. Ruben, so heißt der älteste Sohn Jakobs. Mein Vater begriff sich als Stammvater, als symbolischer Vater.
Zum Bild zu Beginn des Artikels
Eine an Jacques Lacan orientierte Analyse von Rembrandts Radierung bietet Bernard Baas in seiner Monografie Die Anbetung der Hirten oder Über die Würde eines Helldunkels. Turia + Kant, Wien 1999.
Baas macht darauf aufmerksam, was geschieht, wenn man das Bild mit unscharfem Blick betrachtet: man sieht einen Totenschädel. Dabei handelt es sich nicht um eine Anamorphose; das Zweitbild entsteht also nicht dadurch, dass man einen vom Künstler berechneten dezentrierten Geometralpunkt besetzt.8 Rembrandt bezieht Jesu Geburt auf seinen Tod und damit auf die Erlösung.
Der Mythos vom toten Vater verweist darauf, dass der symbolische Vater ein Signifikant ist, sagt Lacan. Das Bild deutet an, dass der Sohn, der das neue Gesetz erlassen wird, ein Toter ist, ein Signifikant, der die Ordnung dessen, was mit klarem Blick gesehen werden kann, strukturiert.
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Anmerkungen
- Zum Begriff der Privation vgl. diesen und diesen Blogartikel.
- Jacques Lacan, Seminar 4, Version Miller/Gondek, S. 330.
Freud: „Ferner schlug ich dem Vater vor, den Weg der sexuellen Aufklärung zu betreten. Da wir nach der Vorgeschichte des Kleinen annehmen durften, seine Libido hafte am Wunsche, den Wiwimacher der Mama zu sehen, so solle er ihm dieses Ziel durch die Mitteilung entziehen, daß die Mama und alle anderen weiblichen Wesen, wie er ja von der Hanna wissen könne – einen Wiwimacher überhaupt nicht besitzen. Letztere Aufklärung sei bei passender Gelegenheit im Anschlusse an irgendeine Frage oder Äußerung von Hans zu erteilen.“ (Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (1909). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 8. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 30) - Vgl. Seminar 4, Version Miller/Gondek, S. 324, 325, 331.
- Hans sagt: „Ich habe den Finger ganz wenig zum Wiwimacher gegeben. Da hab’ ich die Mammi ganz nackt im Hemde gesehen, und sie hat den Wiwimacher sehen lassen.“ Sein Vater erzählt: „Auf meinen Einwand, es kann nur heißen: im Hemd oder ganz nackt, sagt Hans: ‚Sie war im Hemd, aber das Hemd war so kurz, dass ich den Wiwimacher gesehen hab.‘“ (Analyse der Phobie, a.a.O., S. 33)
Lacan kommentiert die Passage in Seminar 4, Version Miller/Gondek, S. 330 f. - Das Konzept des imaginären Phallus als das, was zugleich da ist und nicht da ist, wird von Lacan ausführlich in Seminar 4 entwickelt, bei der Rekonstruktion der Fallgeschichte des „kleinen Hans“; vgl. Version Miller/Gondek, S. 243, 247, 284. In Seminar 6, bei der Reinterpretation des Traums eines Patienten von Ella Sharpe, kommt er darauf zurück; vgl. die Sitzungen vom 14. Januar 1959 bis einschließlich 11. Februar 1959.
- Bergpredigt, Matthäus 5, 21-48.
- Vgl. Seminar 4, Version Miller/Gondek, S. 248, 325.
- Vgl. Baas, a.a.O., Kapitel 6, „Vanitas“.