Erik Porge
Der topologische Raum
René Magritte: La reproduction interdite. 1937, Öl auf Leinwand, 81 x 65 cm
Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam
Übersetzung von: L’espace topologique. Kapitel 11 von: Erik Porge: Des fondements de la clinique psychanalytique (Grundlagen der psychoanalytischen Klinik). Éditions érès, Ramonville Saint-Agne 2008, S. 101–117. Übersetzt von Rolf Nemitz.
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Weitere Übersetzungen aus diesem Buch auf dieser Website:
– Einleitung: Schnitt und Wiederkehr als Grundlagen der psychoanalytischen Klinik, hier
– Kapitel 5: Die Regel der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, das Gegenstück zur Grundregel, hier
– Kapitel 6: Das Zurückbringen des Anspruchs zum Trieb, hier
– Kapitel 12: Das Qualitative (de)chiffrieren, hier.
– Kapitel 13: Schnitte, hier
Der topologische Raum
Der Bezug auf die Topologie erscheint bei Lacan sehr früh. Seit seinem Rom-Vortrag von 1953 wird der Torus als Struktur dargestellt, die darauf antwortet, „dass der tödliche Sinn im Sprechen ein der Sprache äußerliches Zentrum offenbart“1. Von Anfang an schreibt sich die Topologie ein als der Versuch, das nicht Aufschreibbare aufzuschreiben, das Unsagbare, das Nichts zu sagen, das Unvorstellbare bildlich darzustellen, das Unerträgliche – den Tod, die Lust (jouissance)2 – zu ertragen, nicht ohne die Sprache. Die Topologie wird ihn nicht mehr verlassen und sie wird von seiner Lehre untrennbar, sie wohnt ihr inne. Sein Vokabular ist von ihr durchzogen. So sehr, dass ein Aggiornamento des psychoanalytischen Vokabulars vorgenommen werden sollte, in Übereinstimmung mit dem Bezug auf die Topologie.
In den letzten Seminaren endet der Unterricht von Lacan bisweilen damit, sich mit seinem Weg durch die Topologie zu vermischen. Deshalb kann die Topologie, was den Gebrauch angeht, den Lacan von ihr macht, nicht als Modell oder Illustration oder Schematismus oder didaktisches Hilfsmittel aufgefasst werden. Für Lacan ist die Topologie gleichwertig mit der Struktur: mit der Struktur des Subjekts als Schnitt, mit der Struktur des Begehrens in seinem Verhältnis zum Mangel, mit der Struktur der Lust in ihrem Verhältnis zum Ort. Die Verbindung zwischen dem Begehren, der Lust und dem Subjekt ist ihrer Struktur nach topologisch.
Lacan hat nie aufgehört, zu zeigen, wie das Begehren sich mit dem Buchstaben verbindet, etwa in dem Aufsatz Gides Jugend oder Buchstabe, Brief und Begehren3. Nun steht aber der Buchstabe, wie der Gestohlene Brief/Buchstabe zeigt (La lettre volée)4, in einem sehr engen Beziehung zum Ort. Zu einem nicht spiegelhaften, nicht repräsentierbaren Ort, der von der Polizei nicht durchkämmt werden kann. Dieser Ort ist der des Anderen, der Ort des Insistierens der Instanz des Signifikanten und er ist seiner Natur nach topologisch, denn seine Koordinaten sind nicht metrisch, sondern qualitativ und solche des Verhältnisses.
.„Muss unter all den Objekten der Brief / der Buchstabe [der gestohlene Brief] mit der Eigenschaft einer Nullibietät begabt sein?“5 Dieser Terminus ist das Gegenteil von „Ubiquität“ und kennzeichnet das „Nirgendwo“. Roget verweist hierfür in seinem Thesaurus auf Bischof John Wilkins, der davon in seiner semiologischen Utopie einer enzyklopädischen analytischen Sprache Gebrauch macht. Jorge Luis Borges hat der Nullibietät einen seiner Aufsätze gewidmet. Nachdem der Terminus dazu gedient hat, nach dem Ort des Briefes bzw. des Buchstabens zu fragen, bedient Lacan sich seiner, um die Lust anzugehen: „Das System von Nirgendwo, dieses System müssen wir darlegen. Hier würde die Utopie schließlich ihren Sinn erhalten, diesmal jedoch vom richtigen Ende her realisiert. Die alte Nullibietät, der ich früher einmal den Glanz wiederverliehen habe, den sie verdient, da sie von Bischof Wilkins erfunden wurde, und welche die Qualität dessen bezeichnet, was nirgendwo ist – was ist das? Es handelt sich um die Lust.“6 Dieses System des Nirgendwo zu erkunden, darum geht es in Lacans Topologie.
Lacan hat die Topologie auf seine Weise und in seinem Rhythmus verarbeitet, wobei er sich von ihr bearbeiten ließ. Auf den Gebrauch und die Deutung bestimmter Objekte, etwa des Möbiusbandes, kommt er mehrfach zurück, nimmt Eigenschaften vorweg, verändert die Darstellungen, täuscht sich dabei, widerspricht sich, all dies in Abhängigkeit von seinen Untersuchungen und seiner Vertrautheit mit den topologischen Objekten, in Abhängigkeit von seinen Begegnungen und von dem, was bei der psychoanalytischen Kur institutionell und persönlich auf dem Spiel steht. Die Topologie nötigt eine bestimmte Zeitlichkeit auf: die Zeit um zu begreifen, den Augenblick des Sehens und den Moment des Schließens.
Wenn man alle Probleme zusammentrüge, die von Lacan aufgeworfen wurden, und außerdem sämtliche Ergebnisse, hätte man das Material für eine umfangreiche Abhandlung. Das von Lacan abgedeckte Feld – von der Topologie der Flächen bis zur Topologie der Knoten – ist weit. Bisweilen hat seine Forschung ein systematisches Ausmaß angenommen und hatte es selbst für die damalige Mathematik den Wert einer Pionierarbeit. In Übereinstimmung mit seinem Versuch, das Reale der Struktur zu definieren und es möglichst eng einzukreisen, wollte das topologische Vorgehen von Lacan stets mathematisch sein, auch wenn es Wege einschlug, die von professionellen Mathematikern nicht immer begangen wurden – wobei unter diesen die Strömungen allerdings wechselten.
Nun kann man sich tatsächlich die Frage stellen, ob es mathematisch legitim ist, dass Lacan die von ihm behandelten Objekte nahezu ausschließlich durch Zeichnungen und Manipulationen dargestellt hat. Auf eine Weise also, die das Imaginäre ins Spiel bringt, das durch die mathematischen Symbole im Prinzip ausgeräumt wird. Um darauf zu antworten, möchten wir festhalten, dass viele Mathematiker (etwa die der sogenannten kombinatorischen Topologie) in ihren Beweisführungen auf Figuren zurückgreifen. Die topologischen Zeichnungen sind keine Kritzeleien und sie können identifiziert werden, nicht nur durch Abbildungen, sondern auch durch eine Reihe von algebraischen oder kombinatorischen Kennwerten. Von daher spricht nichts dagegen, dass man für die Zwecke der Beweisführung auf Figuren zurückgreift statt auf Gleichungen. Das ist nicht verboten und es ist sogar angeraten, wenn man den Leser nicht auf illusorische Weise vor den besonderen Schwierigkeiten schützen will, die die Topologie für die Identifizierung von Singularitäten und für die Imagination mit sich bringt. Lacan dekretiert nicht den Ausschluss der Imagination. Oft behandelt er intrinsische (strukturelle, nicht sichtbare) Eigenschaften von Flächen so, dass er sich auf die mathematische Äquivalenz stützt, die mit ihren extrinsischen Eigenschaften bewiesen wurde.
Die Freiheit, die sich durch die Verwendung von Zeichnungen bietet, durch die Verschiedenheit der Darstellungen, diese Freiheit ermöglicht es übrigens hin und wieder, Probleme ans Tageslicht zu bringen, die durch die Algebraisierung noch nicht gelöst sind, ja nicht einmal gestellt wurden. Dazu gehören Probleme, wie sie durch Umkehrungen von der Art aufgeworfen werden, wie sie sich in einem Spiegel herstellen. Ich denke an die algebraische Klassifikation der Knoten von Milnor, die es zu dem Zeitpunkt, als Lacan arbeitete, nicht gestattete, die beiden spiegelbildlichen Formen des Kleeblattknotens, rechtshändig und linkshändig, zu differenzieren. Der borromäische Knoten bringt Lacan auch dazu, die Dimensionen des Raumes als dit-mensions neu zu benennen.7
Schließlich ist es wichtig, zu begreifen, dass Lacans topologische Zeichnungen nicht als Probleme der Vorstellung (représentation) zu behandeln sind, sondern der Darstellung (présentation), um eine Freud’sche Unterscheidung aufzugreifen. Die Darstellung ist eine Modalität der Schrift. Die Existenz einer Darstellung im Traum bringt Freud dazu, im Gefolge von Champollion den Traum als Hieroglyphenschrift zu definieren. Die topologischen Zeichnungen bilden insofern eine Schrift, als sie die Plättung8, die Immersion und die Einbettung der Figuren voneinander unterscheiden. In eine Ebene oder in eine Sphäre eingetragen, überschneidet sich die gezeichnete Linie eines Kleeblattknotens mit sich selbst: man kann ihn dann durch eine Plättung darstellen, welche die Überkreuzungen in der Weise berücksichtigt, dass der Strich an der Überkreuzungsstelle unterbrochen wird, oder aber durch eine Immersion, worin der Strich nicht unterbrochen wird. Im Falle der Plättung muss man also darauf achten, genau anzugeben, welcher Strich über oder unter dem anderen verläuft. Wenn man hingegen eine Knotenlinie auf einen Torus zeichnet, überkreuzt sich die Linie nicht mit sich selbst, sie ist in den Torus eingebettet. Wenn man nun das Gesamte (also die Einzeichnung des Knotens auf den Torus) auf einer Ebene darstellt, tauchen alle Probleme der Plättung des Knotens sowie des Torus (die nicht dieselben sind) von Neuem auf. Generell erfordert die Plättung einer topologischen Figur auf einer Ebene genaue Konventionen, diejenigen einer mathematischen Schrift. Sie ermöglichen Identifizierungen, Berechnungen und ein Entziffern, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden.9
Jedoch geht, im Gegensatz zur mathematischen Verwendung, die Verschiedenheit der Darstellungen etwa eines Knotens in Richtung auf eine Nicht-Identität des Buchstabens mit sich selbst, was bereits in der Formalisierung des Gestohlenen Briefs enthalten war.10
Der Terminus présentation, „Darstellung“, ist von Lacan als etwas vorgebracht worden, das in den Bereich des Objekts a gehört: „Es gibt das, was ich nicht als Repräsentation, sondern als Präsentation des Objekts artikulieren möchte. Die Präsentation ist das, was ich hierbei als Objekt a bezeichne. Es ist von äußerster Komplexität.“11
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Wenn Lacan an der Herkulesaufgabe einer Mathematik der Psychoanalyse hat festhalten können, einer durch die Psychoanalyse informieren Mathematik, bei der die Psychoanalyse nicht unangemessenen geometrischen und algebraischen Zwängen unterworfen wird, dann deshalb, weil er nicht alleine arbeitete. Er verstand es, Umgebung, Freunde, Familie und Analysanten an die Arbeit zu setzen und eine Art Strudel hervorzurufen. Knoten lagen verstreut auf dem Boden seines Praxisraums, über die er hinwegsteigen musste, um zur Couch zu gelangen.
Er hatte bedeutende mathematische Gesprächspartner wie Georges-Théodule Guilbaud, Jacques Riguet und andere, und in den letzten Jahren Pierre Soury, Michel Thomé, Christian Leger, Jean-Claude Terrasson und Jean-Michel Vappereau. Einige von ihnen, vor allem Soury, haben sich an seinem Seminar beteiligt, und Lacan wiederum besuchte die Seminare von Soury in der Universität Pierre et Marie Curie in Jussieu. Ein Teil der Korrespondenz mit Soury ist veröffentlicht worden und es hat sich herausgestellt, dass Lacan täglich mehrere Sendungen Rohrpost schickte (das gab es damals noch). Für ihn gehörte die Topologie zu einem bestimmten Lebensstil. Diese Arbeitsbeziehungen waren so eng, dass sie zwangsläufig zu wichtigen Übertragungen führten.
Definition
Die Geschichte der Topologie beginnt im 17. Jahrhundert mit dem lyoneser Mathematiker Girard Desargues und seinem Theorem über die beiden perspektivischen Dreiecke im Raum, wie auch mit der Behauptung, dass die unendliche Gerade und der Kreis zwei Arten derselben Gattung sind12; im 18. Jahrhundert spricht Leibniz von analysis situs, und im 19. Jahrhundert nimmt die Topologie dann ihren vollen Aufschwung.13 Der erste, der den Ausdruck „Topologie“ verwendete, war Johan Listing.14
Die Topologie ist eine Geometrie, die sich nicht auf die metrischen quantitativen Eigenschaften der Figuren bezieht, sondern auf ihre qualitativen Eigenschaften. Sie unterscheidet die Transformationen durch kontinuierliche Verformung ohne Zerreißen und ohne Überlappung, wie man sie durch Verlängern oder Stauchen erhält, von denjenigen Transformationen, die auf diskontinuierliche Weise herbeigeführt werden. Es geht hier um eine elastische Geometrie – ein Rechteck ist einem Kreis gleichwertig, ein Rettungsring einem Kaffebecher.15 Bei den Formveränderungen bleiben die Eigenschaften der Nachbarschaft erhalten. Das bewahrheitet sich beispielsweise bei der chromatischen Zahl: Auf einer Karte ist die maximale Anzahl von angrenzenden Bereichen mit unterschiedlichen Farben bei einer Fläche, die einer Sphäre analog ist, vier, und bei einer Fläche, die einem Torus analog ist, sieben.
Die Eigenschaften, die bei den Transformationen konstant bleiben, werden als topologische Invarianten bezeichnet. Sie bilden die Grundlage für die Identifizierung von Figuren, die nach dieser Transformation äquivalent sind.
Maurice Fréchet und Ky Fan16 unterscheiden zwei topologische Ansätze in der Mathematik (die von einigen Mathematikern bestritten werden können): die mengenorientierte Topologie, auch „allgemeine Topologie“ genannt, die auf der (auf Cantor zurückgehenden) Theorie der Punktmengen beruht, und die kombinatorische Topologie, in der die Flächen als Schemata von kurvilinearen Polygonen aufgefasst werden, mit Eckpunkten, Kanten und Seiten. Diese Art der Topologie untersucht die Kombinatorik dieser Schemata, sie gehört zur linearen Algebra oder Gruppentheorie. Jean-Michel Vappereau (der die kombinatorische Topologie „Lineare Räume in Stücken“ nennt und der den Zweig der differentiellen Topologie hinzufügt) erklärt, dass es sich bei der kombinatorischen Topologie um die handelt, mit der Lacan die Flächen und die Knoten angeht.
Der mengenorientierten Topologie zufolge gibt die umfassende Kategorie des Homöomorphismus Aufschluss über die Eigenschaften der Invarianz bei kontinuierlicher Deformation.17 Es handelt sich um die bi-univoke und bi-kontinuierliche Transformation, die dafür sorgt, dass jedem Punkt der einen Figur ein Punkt der anderen entspricht, und bei welcher zwei benachbarte Punkte der einen Figur zwei Punkten der anderen entsprechen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Torus (links) dem Torusknoten in Form eines Kleeblattknotens (rechts) homöomorph:Es ist allerdings zu sehen, dass diese Definition ihre Grenzen hat. Die kontinuierliche Deformation des Torus, die einen Kleeblattknoten ergibt, ist im dreidimensionalen Raum nicht möglich. Die beiden Figuren sind also homöomorph, jedoch nicht isotop. Außer, man akzeptiert eine Selbstdurchdringung.
Andererseits bringt die Kategorie des Homöomorphismus die Nachbarschaft von Punkten ins Spiel, und das beschwört die Messung herauf. Die Mathematiker lösen das Problem, indem sie die Kategorie der kontinuierlichen Funktion ins Spiel bringen, die es ermöglicht, auf die Kategorie der Nachbarschaft zu verzichten.
Ein anderer Raum
Man sollte hervorheben, dass das Praktizieren der Topologie uns dazu bringt, die Vorurteile unserer intuitiven oder kantianischen Auffassung des Raumes zu „revidieren“, also des Raumes als etwas, das ausgedehnt ist, kontinuierlich, partes extra partes, messbar, definiert durch die Koordinaten der Länge, Breite und Höhe.
Für ein Sprechwesen (parlêtre), also für ein Subjekt, dessen Sein (être) durch die Sprache bestimmt ist und das in den Körper und das Imaginäre verwickelt ist und durch sie, ist der Raum keine Abstraktion und keine geometrische Transzendenz, die mit einer Säge zerteilt werden könnte, er ist vielmehr etwas, das er mit der Dimension des Sagens erfasst, er ist eine „dit-mension“, ein Ort, der vom Gesagten (dit) und vom Körper bewohnt wird. Von daher die cordes, die Schnüre, welche „corps de“ sind, „Körper von“. Der Raum enthält einen Ort des Unheimlichen18, der nicht auf rein spiegelhafte Weise erfassbar ist und über den nur eine Topologie Auskunft geben kann. Einen Ort, den man insofern als vierte Dimension bezeichnen kann, als er der Vorstellung entgeht. „Der Raum scheint zum Unbewussten zu gehören, das wie eine Sprache strukturiert ist.“19
Für die algebraische Topologie ist der topologische Raum eine Menge, deren Elemente Punkte sind sowie die Untermengen der Nachbarschaften eines Punktes p.20 Um den metrischen Bezug zu umgehen, der in der Kategorie der Nachbarschaft enthalten ist, bedient sich die Topologie des Kalküls der kontinuierlichen Funktionen.
Die Sprache der Mathematik gelangt dazu, einen Raum zu konstruieren, mit dem sich operieren lässt, ohne in Widerspruch zum metrischen euklidischen Raum zu geraten. Die Theorie der Zahlen und die Algebraisierung schreiben die euklidischen Räume in eine Stufenleiter der Variationen von Dimensionen ein, die von Null bis Unendlich gehen. Hier findet die algebraische Topologie ihren Platz.
Die Algebra ermöglicht es, Dimensionen des Raumes zu behandeln, die jenseits der drei Dimensionen liegen, die wir uns vorstellen können. Ein euklidischer Raum mit der Dimension n ist die Menge aller n-Tupel von reellen Zahlen (Dezimalzahlen, ganze Zahlen, Brüche, rationale Zahlen, irrationale Zahlen usw.), wobei jedes solches n-Tupel ein Punkt des Raumes ist.21 Der Raum mit der Dimension Null ist der Punkt. Der Raum mit der Dimension 1, die Gerade, ist die Menge der reellen Zahlen. Derjenige mit der Dimension 2 ist die Fläche (Scheibe, gelochte Sphäre, Kugeloberfläche), der Raum mit der Dimension 3 ist das Volumen (Sphäre S3). Danach kommen die Hypervolumen.
Auch wenn der Zugang zum Raum durch die Algebra in gewisser Weise vereinheitlicht wird, ist er nicht homogen. Das Kalkül ermöglicht Übergänge von einer Dimension in eine andere, es bleiben jedoch Unmöglichkeiten, die an den Unterschied zwischen den Dimensionen gebunden sind. Das zeigt die Geschichte der Lösung der Poincaré-Vermutung (1904), wonach eine Sphäre der einzige zwei- oder dreidimensionale geschlossene Raum ohne Loch ist, in dem ein Kreis zu einem Punkt zusammengezogen werden kann. Diese Eigenschaft war für mehr als drei Dimensionen bewiesen worden. Man musste bis zum Jahr 2003 warten, damit der Mathematiker Grigori Perelman sie für die Dimension 2 der Sphäre bewies. Dafür erhielt er 2006 die Fields-Medaille. Er lehnte sie ab und sagte: „Jeder begreift, dass keine Anerkennung nötig ist, wenn meine Beweisführung stimmt.“ Wer Ohren hat zu hören, der höre!
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Für die Konsequenzen des Unterschieds zwischen den Dimensionen gibt es weitere Beispiele. Felix Klein hat entdeckt, dass es in Dimension vier keine Knoten geben kann. Desgleichen „sind die nicht-orientierbaren Flächen in R4 eingebettet (Raum mit vier Dimensionen), nicht jedoch in R3 (Raum mit drei Dimensionen)“22, wo sie immergiert sind, wie man sagt. Oder auch: In R1 kann man zwei äquidistante Punkte durch eine Linie repräsentieren; in R2 bilden drei äquidistante Punkte ein Dreieck; in R3 gibt es nicht mehr als vier äquidistante Punkte, nämlich die Ecken eines Tetraeders. Ab R5 ist das nicht mehr vorstellbar, es lässt sich jedoch algebraisch berechnen und existiert topologisch.
Unsere Raumintuition ist strukturiert durch die von der mathematischen Sprache zugelassenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Die mathematischen Dimensionen (dimensions) bleiben mentions oder mansions du dit, „Erwähnungen“ oder „Häuser“ des „Gesagten“.
Beim Subjekt haben wir es mit Durchdringungen und Verknotungen von Dimensionen zu tun, die oft ungewusst bleiben.
Der Dimensionenübergang ist strukturierend für das Körperbild. Er liegt dem Spiegelstadium zugrunde, d.h. der antizipierten und entfremdeten Identifizierung des Ichs (moi) mit seinem Spiegelbild. Man nimmt an, dass der Spiegel die rechte und die linke Seite vertauscht, Ost und West. Das stimmt jedoch nicht. Der Spiegel vertauscht vorne und hinten, Nord und Süd. Wenn ich mich vor einen Spiegel stelle und nach Norden schaue, schaut das Bild nach Süden. Wenn ich hingegen den östlichen Arm bewege, bewegt das Bild ebenfalls den östlichen Arm.23
Man glaubt deshalb, dass es sich um eine Rechts-links-Vertauschung handelt, weil man das Bild an die eigene Stelle setzt. Anders gesagt, man invertiert das Bild, indem man es in Gedanken aus dem Spiegel kommen lässt. Wenn man das tut, geht man von der Dimension zwei der Bildebene, auf einer Fläche, zur Dimension drei über, zu der des Volumens, was für das Vollziehen der Vertauschung und der Deckungsgleichheit mit sich selbst nötig ist (wenn man in zwei Dimensionen bleibt, können die Bilder nicht deckungsgleich sein). Wenn man akzeptiert, dass die Identifizierung das Gesamt des dreidimensionalen Körpers betrifft (wenn sich die Identifizierung nicht auf das Volumen bezieht, heißt das, dass wir im Grunde mit Hampelmännern identifiziert bleiben oder mit den Schatten eines Schattentheaters), dann macht sie den Durchgang durch eine vierte Dimension notwendig. Einen Durchgang, der nicht gewusst wird, der nicht vorstellbar ist, der jedoch notwendigerweise angenommen werden muss, um über die Identifizierung Auskunft zu geben. Die Identifizierung vergegenwärtigt, was in einer vierten Dimension impliziert ist. Diese vierte Dimension ist genau diejenige, mit der man in der Topologie arbeitet. Die Links-rechts-Vertauschung im Spiegel geht aus einer Möbius’schen Umkehrung hervor, hervorgegangen aus dem Durchlaufen eines Möbiusbandes. Bei der Identifizierung spielt sich alles so ab, als ob das Subjekt ein Möbiusband durchlaufen hätte. Dieser Durchlauf ist gleichwertig mit dem Durchgang durch eine vierte Dimension des Raumes.
Die Rechts-links-Verortung beruht auf dem Verkennen dieses Vorgangs und der vom Spiegel in Wirklichkeit herbeigeführten Vertauschung. Im Gegensatz zu dem, was Kant mit seinem Beispiel von der Hand behauptete24, sind rechts und links nicht in einem absoluten und ursprünglichen Raum fixiert.
Lange war man davon überzeugt, dass es nicht möglich sei, an Wesen eines anderen Planeten durch die Sprache eine Definition der linken und der rechten Seite zu übermitteln. Dafür müsse man gemeinsam eine bestimmte asymmetrische Struktur beobachten können. Martin Gardner hat dies das Ozma-Problem genannt, nach dem Namen eines Programms zum Abhören von Radiobotschaften aus einer anderen Welt, das 1960 eingeführt wurde. Diese Überzeugung beruhte auf dem Gesetz von der Erhaltung der Parität, das heißt auf der Annahme, dass die Natur in ihren Gesetzen keine Präferenz für die rechte oder die linke Seite zeige. Dieses Gesetz macht es ohne vorherige Übereinstimmung über ein asymmetrisches Objekt unmöglich, die Bedeutung der rechten und der linken Seite durch die Sprache zu übermitteln. Im Jahre 1957 bewiesen zwei Physiker das Nichtfunktionieren der Parität, wenn auch nur für unsere Galaxie und mit sehr raffinierten Berechnungen. Das ist mit etwas zusammenzubringen, das Lacan sagte: „Die Illusion, dass wir an transplanetarische Wesen nichts von der Spezifik von rechts und links übermitteln können, schien mir stets glücklich zu sein, da sie die Unterscheidung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen fundiert.“25
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des érès-Verlags und des Autors. Alle Rechte beim érès-Verlag.
Über Erik Porge
Erik Porge ist Psychoanalytiker in Paris. Als Krankenhausarzt in Teilzeit war er für ein medizinisch-psychologisches Zentrum für Kinder und Erwachsene verantwortlich. Er war Mitglied der École freudienne de Paris bis zu deren Auflösung, gegenwärtig ist er Mitglied der Association de psychanalyse Encore. Er war Mitgründer der Zeitschrift Littoral und gibt die Zeitschrift Essaim heraus.
Zu seinen Veröffentlichungen gehören: Se compter trois. Le temps logique de Lacan (1989) ; Schöne Paranoia. Wilhelm Fließ, sein Plagiat und Freud (frz. 1994, dt. 2005); Freud, Fließ. Mythe et chimère de l’auto-analyse (1996); Le moment cartésien de la psychanalyse. Lacan, Descartes, le sujet (Hg. zusammen mit Antonia Soulez) (1996); Les noms du père chez Jacques Lacan (1997); Jacques Lacan, un psychanalyste. Parcours d’un enseignement (2000, überarbeitete und aktualisierte Auflage 2014); Transmettre la clinique psychanalytique (2005); Des fondements de la clinique psychanalytique (2008); Lettres du symptôme. Versions de l’identification (2010); Voix de l’écho (2012); Le ravissement de Lacan. Marguerite Duras à la lettre (2015); Truth and knowledge in the clinic. Working with Freud and Lacan (2016); La sublimation, une érotique pour la psychanalyse (2018).
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Anmerkungen
- Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache. In: Ders.: Schriften. Band I. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2016, S. 278–381, hier: S. 379, Übersetzung geändert.
- Anmerkung des Übersetzers: „Lust“ steht im Folgenden immer für jouissance.
- In: Jacques Lacan: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 257–288.
- Vgl. Jacques Lacan: Das Seminar über „Der gestohlene Brief“. In: Ders.: Schriften. Band I. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2016, S. 12–72.
- Der gestohlene Brief, a.a.O., S. 27, Übersetzung geändert.
- Jacques Lacan: Le séminaire, livre XVI (1968–69). D’un Autre à l’autre. Le Seuil, Paris 2006, S. 327.
- A.d.Ü.: Mension ist eine Zusammenballung aus mention (Erwähnung) und mansion (Haus). Dit-mensions meint also in etwa „erwähnte Behausungen des Gesagten“.
- A.d.Ü.: „Plättung“ (la mis à plat) ist Lacans Terminus für die Projektion eines Knotens in die Ebene; der übliche Ausdruck ist „Diagramm“, aber auch Mathematiker sprechen vom „Plätten“.
- A.d.Ü.: Vgl. Kapitel Das Qualitative (de)chiffrieren, Übersetzung hier.
- Vgl. Jean Allouch: Lettre pour lettre. Transcrire, traduire, translittérer. Éditions érès, Toulouse 1984, S. 264.
- Jacques Lacan: Le rêve de l’Aristote. In: M. A. Sinaceur (Hg.): Aristote aujourd’hui. Érès, Toulouse 1988, S. 22.
- René Taton, L’œuvre mathématique de G. Desargues, Vrin, Paris 1981, reproduziert in Originalform die Texte des Brouillon Project d’une atteinte aux événements des rencontres du cône avec un plan (1639) von Girard Desargues.
- Vgl. Jean-Claude Pont: La topologie algébrique des origines à Poincaré. PUF, Paris 1974. Er zitiert nicht G. Desargues.
- Vgl. Johan Benedict Listing: Vorstudien zur Topologie. In: Göttinger Studien, 1847, S. 810–875.
- Vgl. William G. Chinn und Norman Earl Steenrod: Topologie élementaire. Dunod, Paris 1970, S. 67.
- Vgl. Maurice Fréchet, Ky Fan: Introduction à la topologie combinatoire. Vuibert, Paris 1946.
- Vgl. Andrew-H. Wallace: Introduction à la topologie algébrique. Gauthier-Villars, Paris 1973, S. 49–54.
- A.d.Ü.: Im Original deutsch.
- Jacques Lacan. Das Seminar, Buch XX (1972/73). Encore. Übersetzt von Norbert Haas u.a. Quadriga, Weinheim 1986, S. 85 f., und Jacques Lacan: L’étourdit. In: Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 472.
- Vgl. Wallace, a.a.O., S. 17.
- Vgl. Wallace, a.a.O., S. 6.
- André Gramain: Topologie des surfaces. PUF, Paris 1971, S. 113.
- Vgl. Martin Gardner: Das gespiegelte Universum . Links, rechts – und der Sturz der Parität. Vieweg & Teubner, Wiesbaden 1964, Kapitel 17.
- Vgl. Immanuel Kant: Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (1768). In: Ders.: Werke in zwölf Bänden. Band 2. Hg. v. W. Weischedel. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1968, S. 993–1000, hier: S. 997 f.
- Encore, Übersetzung Haas u.a., a.a.O., S. 143, Übersetzung geändert.