Das Nein der Buchhalterin
Das Video zeigt den Appell vom 18. Januar, den Aufruf, mit dem die Buchhalterin Asmaa Mahfouz am 18. Januar die Ägypter per Facebook dazu aufrief, sich am 25. Januar auf dem Tahrir-Platz zu versammeln. Am Schluss sagt sie: „Ich werde am 25. Januar hingehen und ich werde Nein sagen zur Korruption und Nein zu dieser Regierung.“
In der Vorlesung vom 18. Juni 1958 bezieht Lacan sich zu Beginn auf die Politik. Zunächst auf die große Politik, auf de Gaulles Appell vom 18. Juni , mit dem dieser 1940, damals ein unbekannter General, das französische Volk dazu aufgerufen hatte, sich nach der Niederlage gegen Deutschland hinter ihm zu versammeln und (im Gegensatz zu Pétain) den Krieg fortzusetzen. Dann auf die kleine Politik; er zieht eine Parallele zur Abspaltung einiger Psychoanalytiker von der Société psychoanalytique de Paris und zur Gründung der Société française de psychanalyse im Jahr 1953, zu Vorgängen also, an denen er stark beteiligt war.
„Wir haben den 18. Juni. Der Part des Signifikanten in der Politik – des Signifikanten des Nein, wenn alle Welt in ein niederträchtiges Einverständnis abrutscht – ist noch niemals untersucht worden. Der 18. Juni ist auch der Jahrestag der Gründung der Société française de psychoanalyse. Auch wir haben zu einem bestimmten Zeitpunkt Nein gesagt.“1
Die Rolle des Signifikanten in der Politik ist, in gewisser Nähe zu Lacan, von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe erforscht worden.2 Demnach zeichnet sich der politische Diskurs dadurch aus, dass in ihm versucht wird, die Neins unterschiedlicher Gruppen zu einer Überlagerung zu bringen – „Äquivalenzenketten“ zu bilden – und sie zu einem einzigen, überdeterminierten Super-Nein zusammenzufügen, beispielsweise zu diesem „Hau ab“:
„Hundreds of thousands of pro-democracy protesters continue to defy the curfew in Alexandria and are calling for Mubarak to step down. People are chanting: ‚Erhal, Erhal‘ (‚Leave, Leave‘). There are a mixture of people, men, woman old and young in the crowd.“3
Der Zweite arabische Aufstand, wie Wallerstein ihn getauft hat, legt es nahe, nicht nur nach der Rolle des Signifikanten in der Politik zu fragen, sondern auch nach der des Objekts a, des Partialobjekts. Das Objekt a ist für Lacan ein Abfallprodukt der Menschwerdung, ein Rest, den das Kind opfern muss, um ein Subjekt zu werden, ein Sprechwesen.
Am 4. Januar 2011 übergoss sich in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi mit Farblöser, zündete sich an und löste damit den Zweiten arabischen Aufstand aus. Am 11. Juni 1963 hatte sich in Saigon der Mönch Thích Quảng Đức von Kollegen mit Benzin übergießen lassen und sich angezündet; damit löste er die Widerstandsbewegung gegen das Diem-Regime aus. In der Sprache der Lacanschen Psychoanalyse ist die Selbstverbrennung eine passage à l’acte, eine Identifizierung mit dem Objekt a im Akt der Selbstzerstörung.4 Wie ist es möglich, dass die passage à l’acte, die sich gemeinhin gerade nicht an den Anderen richtet, zum öffentlichen Brandopfer (zum holokauston) und damit zum Signal für den Aufstand wird? Die Identifizierung mit dem Geopferten, in welcher Beziehung steht sie zum Signifikanten „Nein“? Warum beschleunigt die öffentliche Identifizierung eines einzelnen mit dem verlorenen Objekt die gesellschaftliche Bildung von Äquivalenzenketten? Ist es ein Zufall, dass die Massen auf das Selbstopfer eines Menschen, der sich an der Basis der sozialen Pyramide befindet, damit reagieren, dass sie von dem Menschen an der Spitze der Pyramide verlangen, (ebenfalls) zu verschwinden? Und dass einige von ihm fordern, sich in ein Stück Abfall zu verwandeln? Vom Tahrir-Platz berichtet Nicholas Kristof:
„One man stood in a trash heap with a sign showing an arrow pointed down and words directed at President Mubarak: ‚Sink into the trash heap of history.‘ “
Grafik: Ryan Waller, New York Times 3. Februar 2011
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Anmerkungen
- Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. S. 537.
- Laclau/Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus (1985). Passagen Verlag, Wien 3. Aufl. 2006.– Laclau: New reflections on the revolution of our time. Verso, London 1990.– Laclau: Emanzipation und Differenz (1996). Turia + Kant, Wien 2007.
- Al Jazeera Online Englisch vom 3. Februar 2011, https://blogs.aljazeera.net/middle-east/2011/02/02/live-blog-feb-3-egypt-protests.
- Vgl. Lacan: Das Seminar, Buch X. Die Angst. 1962-1963. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, Übersetzung durch Hans-Dieter Gondek. Turia + Kant, Wien 2010, v.a. Kapitel IX, Passage à l’acte und acting out, S. 145-164.