Jakobson über Freud und wie Lacan daran anschließt
René Magritte, La Durée poignardée (Die erdolchte Dauer), 1938,
Öl auf Leinwand, 147 x 99 cm
Art Institute of Chicago
In dem Seminar über die Psychosen (Seminar 3 von 1955/56) und in dem Aufsatz Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud (1957)1 entwickelt Lacan das Begriffspaar Metapher und Metonymie Er stützt sich hierfür ausdrücklich auf Roman Jakobson, und das ist bekannt. In Sean Homers Lacan-Einführung liest sich das so:
“Lacan sah in Jakobsons strukturalem Modell von Metapher und Metonymie eine direkte Entsprechung zu Freuds Prozessen der Traumarbeit: Verdichtung und Verschiebung.“2
Das ist nicht falsch, aber irreführend. Der Satz legt nahe, dass Jakobson eine Beziehung zwischen Metapher und Metonymie und Freuds Begriffen der Verdichtung und der Verschiebung nicht selbst hergestellt hat und dass erst Lacan diesen Schritt gegangen ist. Das aber stimmt nicht. Jakobson bezieht sich in seinem Aufsatz über Metapher und Metonymie ausdrücklich auf Freuds Verdichtung und Verschiebung – und auf weitere Freudsche Kategorien.
Was Jakobson über Freud schreibt
Was genau behauptet Jakobson über Freud? Die Passage, um die es geht, findet sich in Jakobsons Aufsatz Two aspects of language and two types of aphasic disturbances (1956). Hier kann man lesen:
„A competition between both devices, metonymic and metaphoric, is manifest in any symbolic process, either intrapersonal or social. Thus in an inquiry into the structure of dreams, the decisive question is, whether the symbols and the temporal sequences used are based on contiguity (Freud’s metonymic ‚displacement‘ and synecdochic ‚condensation‘) or on similarity (Freud’s ‚identification and symbolism‘).“3
Die veröffentlichte deutsche Übersetzung hat den Titel Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen.4 Leider enthält die Übersetzung der zitierten Passage einen groben Fehler: displacement wird hier mit „Verdrängung“ statt mit „Verschiebung“ ins Deutsche gebracht („Verdrängung“ wäre repression).5
Hier meine Übersetzung:
„Eine Rivalität zwischen den beiden Mechanismen, metonymischen und metaphorischen, manifestiert sich in jedem symbolischen Prozess, sei er intrapersonal oder sozial. So lautet bei der Erforschung der Struktur der Träume die entscheidende Frage, ob die Symbole und die verwendeten zeitlichen Sequenzen auf Kontiguität beruhen (Freuds metonymische ‚Verschiebung‘ und synekdocheische ‚Verdichtung‘) oder auf Similarität (Freuds ‚Identifizierung und Symbolik‘).“
Die Anführungszeichen um „Identifizierung und Symbolik“, die man so im Original findet, sind vermutlich ein Schreib- oder Satzfehler; ein Begriffspaar „Identifizierung und Symbolik“ gibt es bei Freud nicht. Plausibler ist die Schreibung „Freuds ‚Identifizierung‘ und ‚Symbolik‘“.
Jakobson über Metapher und Metonymie
Will man Jakobsons Bezugnahme auf Freud nachvollziehen, muss man rekonstruieren, wie er in seinem Aufsatz diese Begriffspaare verwendet: Kombination und Selektion; Kontiguität und Similarität; metonymischer und metaphorischer Weg und schließlich Metonymie und Synekdoche.
Jedes sprachliche Zeichen gehört – so behauptet Jakobson in Zwei Seiten der Sprache – gleichzeitig zu zwei unterschiedlichen Ordnungen. Es beruht immer auf der Operation der Kombination und zugleich auf der Operation der Selektion. Die Kombination, das ist etwa die Operation, durch welche etwa die Phoneme „s“, „a“, „f“ und „t“ zu „Saft“ verbunden werden. Die Operation der Selektion (oder Substitution) besteht darin, dass an einer bestimmten Stelle beispielsweise ein „s“ ausgewählt wird und dass Alternativen wie „h“ oder „p“ oder „r“ oder „sch“ oder „t“ zurückgewiesen werden – ich sage „Saft“ statt „Haft“ oder „pafft“ oder „rafft“ oder „Schaft“ oder „Taft“.
Die Kombination wird aber nicht nur im zeitlichen Nacheinander hergestellt, sondern auch in der Achse der Gleichzeitigkeit. Ein Phonem besteht aus einem Bündel von distinktiven Merkmalen, diese Merkmale haben die Form binärer Oppositionen: z.B. stimmhaft/stimmlos, nasal/nicht-nasal, Reibelaut/Verschlusslaut, und diese Merkmale werden gleichzeitig realisiert. Das ist der entscheidende Unterschied zu Saussures Unterscheidung von paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen. Unter den paradigmatischen (oder assoziativen) Beziehungen versteht Saussure, wie Jakobson unter „Selektion“, die Auswahl aus einem Reservoir von Möglichkeiten. Die syntagmatischen Beziehungen beschränken sich für Saussure auf die sprachlichen Elemente in ihrem zeitlichen Nacheinander.6 Diese Abkehr von Saussure wurde also erzwungen durch Jakobsons große Entdeckung, durch die Freilegung des Systems der distinktiven Merkmale.
Kombination und Selektion sind auf sämtichen Ebenen der Sprache wirksam: der Phoneme, der Morpheme, der Sätze, der Erzählungen usw.
Kombination und Selektion werden von Jakobson einem weiteren Begriffspaar zugeordnet: Kontiguität und Similarität. Die Kombination bezieht sich auf Elemente, insofern sie in einem Verhältnis der Kontiguität stehen, insofern sie gewissermaßen benachbart sind. Die Selektion bezieht sich auf Elemente, insofern sie in einer Beziehung der Similarität stehen, der Gleichartigkeit und der Verschiedenheit.
Auch diese beiden Beziehungen, Kontiguität und Similarität, sind auf sämtlichen Ebenen der Sprache wirksam. Wenn ich, beispielsweise, eine Geschichte erzählte, bringe ich die Bausteine des Erzählens in ein Verhältnis der Nachbarschaft – ich spule die Geschichte ab, könnte man sagen –, und ich wähle dabei zwischen mehr oder weniger ähnlichen narrativen Einheiten.
Ausgehend von dieser gedoppelten Begriffsopposition – also Kombination-Kontiguität versus Selektion-Similarität – unterscheidet Jakobson zwei Formen der Aphasie, d.h. der auf einer Schädigung des Gehirns beruhenden Sprachstörung. Bei der einen Form ist die Fähigkeit stark eingeschränkt, durch Kombination Beziehungen der Kontiguität hervorzubringen, anders gesagt: der Kranke ist nicht dazu in der Lage, Sätze zu bilden. Er verwendet meist Ein-Wort-Sätze; um in meinem Beispiel zu bleiben, er sagt „Saft“, und das kann dann heißen, dass er Saft trinken möchte oder dass jemand anders Saft verschüttet hat usw. Bei der zweiten Form der Aphasie ist es dem Kranken nicht möglich, eine Beziehung zwischen ähnlichen Wörtern herzustellen; beispielsweise kann er die Frage „Was ist ein Junggeselle?“ nicht mit „Ein unverheirateter Mann“ beantworten. Es gibt also eine Form der Aphasie, bei der die Störung darin besteht, dass die Herstellung von Kontiguität blockiert ist, und es gibt eine andere Form der Aphasie, bei der es dem Kranken nicht möglich ist, zwischen Einheiten auszuwählen, die in Beziehungen der Similarität zueinander stehen.
Im nächsten Argumentatiosschritt bezieht Jakobson seinen Dualismus auf die Opposition von Metapher und Metonymie. Er fragt, wie sich der Gegenstand einer Rede verändern kann, und seine Antwort lautet: Es ist möglich, den Gegenstand der Rede durch eine Operation der Similarität und durch eine Operation der Kontiguität in einen anderen Gegenstand zu überführen. Den ersten Weg bezeichnet er als den metaphorischen Weg, den zweiten als den metonymischen Weg. Warum? Weil diese Wege durch die Metapher bzw. die Metonymie am besten zum Ausdruck gebracht werden.7 Auf das Stichwort „Hütte“ reagiert das eine Kind mit „abgebrannt“, das andere mit „kleines Haus“. Das erste Kind orientiert sich an syntaktischer Kontiguität (an der Abfolge der Wörter in einem Satz) und verfolgt damit den metonymischen Weg; das zweite Kind fragt nach semantischer Similarität und beschreitet damit den metaphorischen Weg.
Von hier aus unterscheidet Jakobson zwei Typen von poetischen Texten. Bei dem einen Typ ist die Kontiguität vorherrschend, also der metonymische Weg, beim anderen Typ ist die Similarität bestimmend, also das metaphorische Verfahren. Im realistischen Roman wechselt der Gegenstand meist dadurch, dass zu etwas Benachbartem übergegangen wird, etwa von einer Person zu dem Raum, in dem sie sich befindet; das entspricht dem metonymischen Weg. In bestimmten Formen der Lyrik wechselt der Gegenstand vor allem durch den Übergang zu etwas Ähnlichem, etwa so, dass dasselbe mit anderen Worten beschrieben wird; diese Art von Texten ist auf dem metaphorischen Weg.
Jakobson über Freud, noch einmal
Vor diesem Hintergrund macht Jakobson seine Bemerkung über die Traumstrukturen. Ich zitiere sie noch einmal:
„Eine Rivalität zwischen den beiden Mechanismen, metonymischen und metaphorischen, manifestiert sich in jedem symbolischen Prozess, sei er intrapersonal oder sozial. So lautet bei der Erforschung der Struktur der Träume die entscheidende Frage, ob die Symbole und die verwendeten zeitlichen Sequenzen auf Kontiguität beruhen (Freuds metonymische ‚Verschiebung‘ und synekdocheische ‚Verdichtung‘) oder auf Similarität (Freuds ‚Identifizierung‘ und ‚Symbolik‘).“
Jakobson stellt also folgende Bezüge zu Freud her:
Metonymischer Mechanismus – Symbole und Sequenzen beruhen auf Kontiguität
– Verschiebung, metonymisch
– Verdichtung, synekdocheisch
Metaphorischer Mechanismus – Symbole und Sequenzen beruhen auf Similarität
– Identifizierung
– Symbolik
Sowohl bei der Verschiebung als auch bei der Verdichtung geht es demnach um Kontiguität statt um Similarität, um Nachbarschaft statt um Ähnlichkeit; Verschiebung und Verdichtung beruhen beide auf dem metonymischen Mechanismus. Was könnte das heißen?
Freud entwickelt die Begriffe der Verschiebung und der Verdichtung zuerst in seiner Theorie des Traums. Demnach besteht der Traum einer Art Übersetzungsvorgang: ein latenter Traumgedanke wird in einen manifesten Trauminhalt übersetzt, also in den Traum, der erinnnert und erzählt wird.8 Die Verschiebung besteht in einer Art Akzentwechsel: Das, was im latenten Traum wichtig ist, wird im manifesten Traum zu einer Nebensache (oder verschwindet ganz); die „Besetzungsenergie“, die „psychische Intensität“, mit der ein latentes Element versehen ist, wird, unter dem Einfluss der Verdrängung, im manifesten Traum von einem wichtigen auf ein unwichtiges Element verschoben. Für die Deutung heißt das: Das sinnlich hervorstechende Element des erzählten Traums dient möglicherweise der Irreführung, ein unauffälliges Randphänomen könnte das entscheidende Element sein. Die Verdichtung besteht darin, dass in einem Element des manifesten Traums mehrere Assoziationsketten zusammenlaufen, beispielsweise steht eine Person oder ein Wort des geträumten und erzählten Traums für eine ganze Reihe von Personen oder Wörtern, die darin verdichtet sind. Freud verwendet Verdichtung aber auch für den umgekehrten Vorgang: mehrere Elemente des manifesten Traums repräsentieren ein einziges Element des latenten Traums.
Inwiefern beruht die Verschiebung auf Kontiguität und damit auf dem metonymischen Mechanismus? Wohl insofern, als man den latenten Traum als einen Traumgedanken auffassen kann und damit als eine Kette von Vorstellungen, die in einer Beziehung der Nachbarschaft zueinander stehen. Die Verschiebung besteht dann darin, dass beim Wechsel von der latenten zur manifesten Ebene der Akzent von einem Element der Kette auf ein anderes übergeht, das benachbart ist und nicht auf eines, das ähnlich ist. Das entspricht der Akzentverschiebung in einem Wort oder Satz, beispielsweise dem Wechsel von „übersetzen“ zu „übersetzen“, oder von „Ich sehe sie morgen im Café!“ zu „Ich sehe sie morgen im Café!“.
Was hat die Verdichtung mit Kontiguität zu tun? Vielleicht orientiert Jakobson sich hier am Beispiel des Phonems. Ein Phonem ist ein gleichzeitig realisiertes Bündel von distinktiven Merkmalen; ähnlich ist eine Person des manifesten Traums ein Bündel der Merkmale verschiedener Personen. Die Kontiguität hat hier die Form der gleichzeitigen Aktualisierung bestimmter Merkmale.
Jakobson charakterisiert die Verdichtung als synekdocheisch und die Verschiebung als metonymisch. Der „metonymische Mechanismus“, auf dem beide beruhen, kann demnach zwei Formen annehmen, die der Synekdoche und die der Metonymie. Offenbar wird hier der Begriff der Metonymie in zwei Bedeutungen verwendet, einer weiten und einer engen.
Unter einer Synekdoche versteht man in der antiken Rhetorik den Austausch eines Wortes durch einen Oberbegriff oder durch einen Unterbegriff, etwa des Ganzen durch den Teil oder des Teils durch das Ganze. Beispiel sind die Ersetzung von „EU“ durch „Brüssel“ (der Teil für das Ganze) oder „viel trinken“ für „viel Akohol trinken“ (das Ganze für den Teil). Die Verdichtung ist synekdocheisch, das könnte also heißen, wieder für den Fall der Verdichtung mehrerer Personen zu einer einzigen Traumperson: Die verschiedenen Personen des latenten Traumgedankens sind in der verdichteten Person des manifesten Traums durch ein bestimmtes Merkmal vertreten, der Träumer etwa durch seinen Namen, seine Mutter durch ihre Frisur – also beruht die Verdichtung auf Synekdochen vom Typ Teil fürs Ganze.
Die Verdichtung gehört zum metonymischen Weg und hat synekdocheischen Charakter, das könnte also heißen: Bei der Verdichtung werden Merkmale in einem bestimmten Traumelement gleichzeitig realisiert (Kombination vom Typ der Gleichzeitigkeit beruhend auf dem Prinzip der Kontiguität), und diese Merkmale wiederum beruhen auf der Bildung von Synekdochen, etwa Teil fürs Ganze.
Die Verschiebung beruht auf dem metonymischen Mechanismus und hat metonymischen Charakter; mir ist nicht klar, wie sich diese Doppelung aufschlüsseln lässt.
Den Begriff der Identifizierung versteht Jakobson so, wie Freud ihn in der Traumdeutung verwendet. Dort wird der Begriff so erläutert:
„Ähnlichkeit, Übereinstimmung, Gemeinsamkeit wird vom Traum ganz allgemein dargestellt durch Zusammenziehung zu einer Einheit, welche entweder bereits im Traummaterial vorgefunden oder neu gebildet wird. Den ersten Fall kann man als Identifizierung, den zweiten als Mischbildung benennen. Die Identifizierung kommt zur Anwendung, wo es sich um Personen handelt; die Mischbildung, wo Dinge das Material der Vereinigung sind, doch werden Mischbildungen auch von Personen hergestellt. Örtlichkeiten werden oft wie Personen behandelt.
Die Identifizierung besteht darin, dass nur eine der durch ein Gemeinsames verknüpften Personen im Trauminhalt zur Darstellung gelangt, während die zweite oder die anderen Personen für den Traum unterdrückt scheinen. Diese eine deckende Person geht aber im Traum in alle die Beziehungen und Situationen ein, welche sich von ihr oder von den gedeckten Personen ableiten.“9
Die Identifizierung wird von Freud also ausdrücklich der Ähnlichkeit zugeordnet, Jakobson braucht das nur aufzulesen.
Unter Symbolik versteht Freud starre Koordinationen zwischen Vorstellungen und Bedeutungen, unabhängig von den Assoziationen des Patienten. Beispielsweise ist das Steigen auf einer Stiege, Leiter oder Treppe, Freud zufolge, ein Symbol für den Geschlechtsakt. Er schreibt hierzu:
„Die Grundlage der Vergleichung ist nicht schwer aufzufinden: in rhythmischen Absätzen, unter zunehmender Atemnot kommt man auf eine Höhe und kann dann in ein paar raschen Sprüngen wieder unten sein. So findet sich der Rhythmus des Koitus im Stiegensteigen wieder.“10
Die Beziehng zwischen dem Symbol und dem Symbolisierten beruht demnach auf Ähnlichkeit.
Metapher als Identifizierung und Symbolik – bei Lacan
Jakobson und Lacan stellen also unterschiedliche Beziehungen her zwischen Verdichtung/Verschiebung und Metapher/Metonymie.
Für Jakobson sind Verdichtung und Verschiebung zwei Formen der Metonymie; die Metapher bringt er nicht mit Verdichtung und Verschiebung zusammen, sondern mit Identifizierung und Symbolbildung.
Für Lacan hingegen ist die Verdichtung eine Metapher und die Verschiebung eine Metonymie.
Hat Lacan also Jakobsons Zuordnung der Metapher zu Identifizierung und Symbolik unbeachtet gelassen? Ich glaube nicht, im Gegenteil, diese Verbindung ist meines Erachtens ein entscheidendes Merkmal von Lacans Metaphernbegriff.
Die von Lacan am stärksten ausgearbeitete Konzeption der Metapher ist das Theorem von der Vatermetapher. Die Formel dieser Metapher wird von ihm in dem Aufsatz Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht (1958) eingeführt.11 Sie sieht so aus:
Die Formel stellt eine Verbindung her zwischen dem Namen-des-Vaters und dem Phallus: Dadurch, dass der Signifikant Name-des-Vaters an die Stelle des Signifikanten Begehren der Mutter gesetzt wird (linke Seite der Formel), kommt es dazu, dass der Phallus als Signifikant des Begehrens des Anderen (A) installiert wird (rechte Seite der Formel).
Nun meint aber „Name-des-Vaters“ die Identifizierung mit dem Vater als Repräsentanten des Gesetzes. Und welches Gebilde hätte ein Anrecht auf den Titel des Symbols, wenn nicht der Phallus? Die Formel der Vatermetapher stellt also eine Verbindung her zwischen der Identifizierung (mit dem Namen-des-Vaters) und der Symbolik (des Phallus).
Die Identifizierung erscheint in der Formel der Vatermetapher so, wie sie von Freud in der Traumdeutung definiert wird: zwei Personen sind durch ein Gemeinsames verknüpft (bei Lacan: Begehren der Mutter, Name-des-Vaters, verknüpft durch den Phallus), nur eine dieser Personen gelangt zur Darstellung, während die zweite Person unterdrückt scheint (bei Lacan: der Signifikant „Name-des-Vaters“ elidiert den Signifikanten „Begehren der Mutter“).
Also stützt sich Lacans Konzeption der Vatermetapher letztlich auf Jakobsons kleine Idee: der Metapher entspricht bei Freud die Identifizierung und die Symbolik.
Jakobson & Lacan – zur Genealogie
In Das Drängen des Buchstabens notiert Lacan in einer Fußnote:
„Wir wollen hier Roman Jakobson ehren, dem wir in dieser Formulierung einiges verdanken, wir meinen seine Arbeiten, die für den Analytiker jederzeit eine Hilfe zur Strukturierung seiner Erfahrung darstellen und die jene ‚persönlichen Mitteilungen‘ überflüssig machen, die wir so gut wie einer vorzeigen könnten.“12
Der Seitenhieb gilt vermutlich Rudolph Loewenstein, der in dem Artikel Some remarks on the role of speech in psychoanalytic technique (1956)13 auf eine „persönliche Mitteilung“ von Jakobson verwiesen hatte14 – auf Loewensteins Artikel bezieht Lacan sich etwas später in derselben Fußnote.
In Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung, sagt Lacan:
„Was die Originalität der Passage von Monsieur Jakobson angeht, so rechne ich tatsächlich mit der stärksten Bezugnahme. Man muss sagen, dass in diesem Fall – ich glaube, dass ich angefangen habe, die Metapher und die Metonymie in unserer Theorie nach vorne zu bringen, irgendwo neben dem Romvortrag, der erschienen ist15 –, als ich mit Jakobson sprach, hat er mir gesagt: ‚Aber sicher, diese Geschichte von Metapher und Metonymie, das haben wir gemeinsam gedreht, erinnern Sie sich, am 14. Juli 1950.‘“16
Offenbar bezieht sich Lacans Bemerkung über die persönliche Mitteilung, die er selbst ebenso vorzeigen könnte, auf dieses Gespräch.
Falls Lacans Hinweis stimmt, wäre dies die Genealogie von Lacans Aufsatz:
- Am 14. Juli 1950 (also am französischen Nationalfeiertag) sprechen Jakobson und Lacan über Metapher und Metonymie, Verdichtung und Verschiebung.
- 1956 erscheint Jakobsons Aufsatz Two aspects of language and two types of aphasic disturbances.
– Am 2. und 9. Mai 1956 spricht Lacan in seinem Seminar Die Psychosen über Metapher und Metonymie. Er verweist hier ausdrücklich auf Jakobsons Aufsatz über die zwei Seiten der Aphasie.
– Am 9. Mai 1957 hält er den Vortrag L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud im Hörsaal Descartes der Sorbonne, auf Einladung der Groupe de philosophie de la Fédération des étudiants des Lettres.
– Lacan redigiert den Vortragstext vom 14. bis zum 16. Mai 1957.17 Er verweist ausdrücklich auf Jakobsons Arbeit über die beiden Formen der Aphasie.
– Der Aufsatz erscheint in: La Psychanalyse, 2. Jg. (1957), S. 47-81.
Zum Bild zum Beginn des Artikels
In Zwei Seiten der Sprache schreibt Jakobson über Metonymie und Metapher:
„Das Vorhandensein des einen oder des anderen der beiden Prozesse ist keineswegs auf die Wortkunst beschränkt. Es tritt auch in nicht-sprachlichen Zeichensystemen auf. Ein illustratives Beispiel aus der Geschichte der Malerei bietet die ganz offensichtlich metonymische Orientierung des Kubismus, wo das Objekt in ein Gefüge von Synekdochen aufgelöst ist. Die surrealistischen Maler dagegen zeigen eine offensichtlich metaphorische Einstellung.“18
Magrittes surrealistisches Kaminbild lässt mich an eine Passage der Traumdeutung über Symbolik denken. Freud schreibt hier:
„Alle in die Länge reichenden Objekte (…) wollen das männliche Glied vertreten. (…) Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke, Öfen entsprechen dem Frauenleib (…).“19
Dies wiederum erinnert mich an eine Kaminszene in Edgar Allen Poes Entwendetem Brief und an Lacans Kommentar zu dieser Stelle.
In Poes Erzählung berichtet Dupin, der Meisterdetektiv, über seine Aktivitäten im Zimmer des Diebs, d.h. des Ministers:
„At length my eyes, in going the circuit of the room, fell upon a trumpery filigree card-rack of pasteboard, that hung dangling by a dirty blue ribbon, from a little brass knob just beneath the middle of the mantlepiece. In this rack, which had three or four compartments, were five or six visiting cards and a solitary letter. (…) No sooner had I glanced at this letter than I concluded it to be that of which I was in search.“
In Wollschlägers Übersetzung:
„Schließlich fielen meine Blicke, die das Zimmer im Kreise durchschweiften, auf ein schäbiges Filigran-Gestell aus Pappkarton, das an einem schmutzigen blauen Band von einem kleinen Messingknopf just in der Mitte unter dem Kaminsims baumelte. In diesem Gestell, das drei oder vier Fächer hatte, befanden sich fünf oder sechs Visitenkarten und ein einzelner Brief. (…) Kaum war mir dieser Brief vor den Blick gekommen, so wußte ich schon, was ich suchte.“20
Dupin sucht den Minister ein zweites Mal auf und inszeniert ein Ablenkungsmanöver, das den Gastgeber veranlasst, ans Fenster zu treten.
„Derweilen trat ich zu dem Kartengestell, nahm den Brief, steckte ihn in die Tasche und ersetzte ihn durch eine – was das Äußere betraf – getreue Nachbildung, die ich zuvor in meiner Wohnung sorgfältig hergestellt hatte (…).“21
Lacan schreibt hierzu:
„Und deshalb, ohne es nötig oder, und das aus guten Gründen, die Gelegenheit dazu gehabt zu haben, geht er [Dupin] schnurstracks dahin, wo das, was der Körper verstecken muß, liegt und lagert, in irgendeiner schönen Mitte, in die der Blick hineingleitet, wahrlich an jenem Ort, den die Verführer das Schloß Sainte-Ange in der einfältigen Einbildung nennen, mit der sie sich versichern, sie könnten von daher die Stadt überlisten. Da haben Sie’s! Zwischen den Sockeln des Kamins befindet sich das Objekt, das mit der Hand erreichbar ist, die der Räuber nur noch auszustrecken braucht …
Die Frage, ob er es auf dem Kaminsims, wie Baudelaire übersetzt, oder unter ihm ergreift, wie es im ursprünglichen Text steht, kann ohne Schaden den Schlussfolgerungen der Interpretationsküche überlassen werden. (Anm. von Lacan:) Und sogar der Köchin.“22
Mit chateaux Saint-Ange (Kastell Heiliger Engel) spielt Lacan auf das antike Baudenkmal Castel Sant’Angelo in Rom an; die zu erobernde Stadt ist also – auf einer der Ebenen der Bedeutung – Rom. 23
Die „Köchin“ ist vermutlich Marie Bonaparte (so der Hinweis des deutschen Übersetzers, Rodolphe Gasché). In ihrer Poe-Studie hatte Bonaparte den fehlenden Brief so gedeutet, dass dass Poe hier sein Bedauern über das Fehlen des mütterlichen Phallus artikuliert und der Mutter vorwirft, ihn verloren zu haben. Die zitierte Stelle wird von ihr so gedeutet:
„Wir bemerken zuerst, daß der Brief, ein regelrechtes Symbol für den mütterlichen Penis, über dem Feuerherd des Kamins ‚hängt‘, so wie der Penis der Frau – wenn sie einen hätte! – über der Kloake hängen würde, die hier, wie in den vorhergehenden Geschichten, unter dem häufig verwendeten Symbol eines Kamins dargestellt wird. Wir haben hier gleichsam ein Bild aus der topographischen Anatomie vor uns, bei dem selbst der Knopf (knob), die Klitoris nicht fehlt. Aber an diesem Knopf sollte wohl etwas anderes hängen!„24
Verwandte Artikel
- Die Metonymie des Begehrens meiner Mutter (und die mutmaßliche Antwort meines Vaters)
- Meine Metonymie des Begehrens
Anmerkungen
-
Übersetzt von Norbert Haas. In: J.L.: Schriften II. Walter-Verlag, Olten u.a. 1975, S. 15-55.
-
Sean Homer: Jacques Lacan. Routledge, Milton Park, Abingdon (UK), S. 43, meine Übersetzung.
-
Roman Jakobson: Two aspects of language and two types of aphasic disturbances. In: Ders. und Morris Halle: Fundamentals of language.Mouton & Co, ’s-Gravenhage (= Den Haag) 1956, darin Teil II, S. 53-82, hier: S. 80 f.
-
Roman Jakobson: Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen (1956). Übersetzt von Georg Friedrich Meier, Überarbeitung der Übersetzung durch Wolfgang Raible. In: R. Jakobson: Aufsätze zur Linguistik und Poetik. Hg. v. Wolfgang Raible. Ullstein, Frankfurt am Main u.a. 1979, S.117–141, im Internet hier.
Üblicher und naheliegender als „aphatische Störung“ ist „aphasische Störung“.
-
Die veröffentlichte Übersetzung lautet so:
„Eine gewisse Rivalität zwischen den metonymischen und metaphorischen Darstellungsweisen kommt bei jedem symbolischen Prozeß, gleichgültig ob es sich um einen intrapersonellen oder um einen sozialen handelt, zum Vorschein.
So ist es auch bei der Untersuchung von Traumstrukturen eine entscheidende Frage, ob die Symbole und die zeitliche Reihenfolge auf Kontiguität (Freuds metonymische ‚Verdrängung‘ und synekdocheische ‚Verdichtung‘) oder auf Similarität (Freuds ‚Identifizierung‘ und ‚Symbolismus‘) beruhen.“ (Zwei Seiten der Sprache, a.a.O., S. 137 f.)
Diese Übersetzung beruht auf der Übersetzung von Fundamentals of language durch Georg Friedrich Meier, die, unter dem Titel Grundlagen der Sprache, 1960 im Akademie-Verlag in Berlin (Ost) erschien.
-
Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hg. v. Ch. Bally und A. Sechehaye. Übersetzt von Herman Lommel. De Gruyter, Berlin 1967, Zweiter Teil, Kapitel V, „Syntagmatische und assoziative Beziehungen“, S. 147–152.
-
Vgl. S. Freud: Die Traumdeutung. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 2. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, darin Kapitel VI: „Die Traumarbeit“, S. 280–487.
-
S. Freud: Die Traumdeutung (1900). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 2. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 318, Hervorhebungen von Freud.
-
Vgl. Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 90.
-
International Journal of Psycho-Analysis, 37. Jg., S. 460-467.
-
Vgl. John P. Muller, William J. Richardson: Lacan and language. A reader’s guide to „Écrits“. International University Press, New York 1982, S. 187.
-
Der Romvortrag (Funktion und Feld usw.) und der Text über Metapher und Metonymie (Das Drängen des Buchstabens usw.) wurden zuerst in der Zeitschrift La psychanalyse veröffentlicht, der Romvortrag im Jahr 1956, der Aufsatz über Metapher und Metonymie ein Jahr später.
-
Seminar 9, Sitzung vom 23. Mai 1962, meine Übersetzung nach Version Staferla.
-
Die letzten beiden Daten findet man in den bibliographischen Angaben der Écrits, Le Seuil, Paris 1966, S. 918.
-
Edgar Allen Poe: Der stibitze Brief. Übersetzt von Hans Wollschläger. In: E.A. Poe: Das gesamte Werk in zehn Bänden. Band 2. Walter Verlag, Olten 1976, S. 915-943, hier: S. 939.
-
J. Lacan: Das Seminar über E.A. Poes „Der entwendete Brief“ (1956). In: Schriften I, hg. v. N. Haas, S. 35 f.
-
Als die Goten im Jahr 537 Rom angriffen, verteidigten die Soldaten das Kastell, indem sie die dort aufgestellten Bronzestatuen als Projektile verwendeten.
-
Marie Bonaparte: Edgar Poe. Eine psychoanalytische Studie. 3 Bände. Internationaler psychoanalytischer Verlag, Wien 1934, Band 2, S. 416; der Einschub in runden Klammern ist im Original.