Das vom Anderen kommende Signifikat: mit Sartre
Cartoon von Mike Lynch
Lacans Graf des Begehrens veranschaulicht eine Reihe von Thesen. Dazu gehören die folgenden:
- Die kleinste Einheit der Bedeutung ist der Satz.
- Wenn das Subjekt spricht, wird es mit dem Anderen konfrontiert.
- Der Andere ist der Punkt des Codes1 bzw. „der Ort des Signifikantenschatzes“2.
- Der Andere gibt dem, was das Subjekt spricht, seinen Sinn.
Wie kommt er dazu?
Zunächst eine knappe Erläuterung des Grafen des Begehrens, in der Baustufe, auf die sich diese Thesen beziehen.3
Die unten rechts beginnende hufeisenförmige Linie (hier graublau gefärbt), die von $ über A und s(A) zu I(A) führt, repräsentiert das Bedürfnis, beispielsweise den Hunger.
Die von „Signifikant“ nach „Stimme“ verlaufende Pfeillinie (pfirsichgelb) steht für eine Signifikantenkette, speziell für die Artikulation der Forderung nach Bedürfnisbefriedigung, für den Anspruch, die Bitte (demande). Auf dieser Linie kann man etwa den folgenden Satz eintragen: „Wann gibts denn was zu futtern?“
Der mit A bezeichnete rechte Schnittpunkt repräsentiert den Anderen, den Empfänger, den Adressaten der Forderung. Der Andere steht am Schnittpunkt der Bedürfnislinie und der Forderungslinie – das Subjekt ist mit dem Anderen dann konfrontiert, wenn es einen Anspruch vorbringt, um ein Bedürfnis zu befriedigen.
Der Andere, sagt Lacan, fungiert als Ort des Codes oder des Signifikantenschatzes, also des Wortschatzes. Soll heißen: Wenn das Subjekt seine Forderung artikuliert, ist es genötigt, sich an den Code bzw. an das Vokabular des Adressaten anzupassen. Mal sagt es „Hun-ger-Hun-ger!“, mal „Ich denk grad an deine exzellenten Frikadellen“ – es versucht, den Code zu verwenden, der vom Anderen akzeptiert wird.
Der linke Schnittpunkt trägt die Bezeichnung s(A), für „Signifikat des Anderen“. Damit ist gemeint, dass das Signifikat – die Bedeutung der Forderung – vom Adressaten bestimmt wird. Auf die Determination der Bedeutung durch den Anderen verweist auch der von A zu s(A) führende obere Pfeil (er ist außerdem das mittlere Segment der Bedürfnislinie; um diese Doppelfunktion anzudeuten, habe ich ihn etwas dunkler gefärbt). Hat die Wortfolge „Ich denke an deine exzellenten Frikadellen“ die Bedeutung „Mach mir was zu essen!“
Wie also kommt Lacan zu seinen Thesen? Auf dem Weg über Sartre.4
In Sartres philosophischem Hauptwerk, Das Sein und das Nichts von 1943, findet man folgende Bemerkung:
„Schon längst haben die Psychologen darauf aufmerksam gemacht, daß das Wort nicht das konkrete Element des Sprechens ist – auch nicht das Dialektwort, das Familienwort mit seinen besonderen Deformationen, die Elementarstruktur des Sprechens ist vielmehr der Satz. Nur innerhalb des Satzes kann das Wort eine reale Bezeichnungsfunktion erhalten; außerhalb seiner ist es allenfalls eine Satzfunktion, wenn es nicht eine bloße Rubrik zur Gruppierung absolut disparater Bedeutungen ist. (…) Das Wort hat also außerhalb der komplexen und aktiven Organisationen, die es integrieren, nur eine rein virtuelle Existenz.“5
Das Element des Sprechens ist der Satz. Diese These wird von Lacan bei der Erläuterung des Grafen soziologisiert: die Einheit des Sprechens ist eine Forderung (die bei Lacan, anders als bei Sartre, aus Signifikanten als Elementen besteht).
Bei Sartre heißt es:
„Die Sprache ist kein dem Für-Andere-sein hinzugefügtes Phänomen: sie ist ursprünglich das Für-Andere-sein, das heißt das Faktum, daß eine Subjektivität sich als Objekt für die andere erfährt. (…) Die Sprache unterscheidet sich also nicht von der Anerkennung der Existenz des Andern.“6
Die Sprache ist das Für-Andere-Sein. Bei Lacan hat der Begriff des Anderen zahlreiche Bedeutungen; eine davon ist: der Andere ist die Sprache.
Sartre erklärt,
„indem ich spreche, mache ich die Grammatik; die Freiheit ist die einzige mögliche Grundlage der Gesetze der Sprache. Für wen gibt es übrigens Gesetze der Sprache? Paulhan hat die Elemente einer Antwort geliefert: nicht für den, der spricht, sondern für den, der zuhört.“7
Für Sartre ist der Andere der Ort der Grammatik. Für Lacan ist der Andere der Ort des Codes, also der Grammatik und des Lexikons; wenn er den Anderen als Ort des Signifikantenschatzes bezeichnet, verschiebt er den Akzent in Richtung auf den Wortschatz. Auch in diesem Fall gibt Lacan der These eine soziologische Deutung: Der Sprecher muss sich, wenn seine Forderung Aussicht auf Erfolg haben soll, an den Code des Anderen anpassen.
Und schließlich kann man bei Sartre lesen:
„So entgeht mir der ‚Sinn‘ meiner Ausdrücke immer; ich weiß nie genau, ob ich das bedeute, was ich bedeuten will, und nicht einmal, ob ich bedeutend bin; gerade in diesem Augenblick müßte ich im andern das lesen, was grundsätzlich undenkbar ist. Und da ich nicht weiß, was ich faktisch für den Andern ausdrücke, konstituiere ich meine Sprache als das unvollständige Phänomen einer Flucht aus mir heraus. Sobald ich mich ausdrücke, kann ich den Sinn dessen, was ich ausdrücke, nur vermuten, das heißt im Grunde, den Sinn dessen, was ich bin, denn in dieser Perspektive sind Ausdrücken und Sein eins. Der Andere ist immer da, gegenwärtig und erfahren als das, was der Sprache ihren Sinn gibt.“8
Der Andere wird als das erfahren, was dem, was ich ausdrücke, seinen Sinn gibt. Eben das meint Lacans Kürzel s(A): das Signifikat kommt vom Anderen.
Luhmann begreift die einzelne Kommunikation als Einheit aus Mitteilung, Information und Verstehen.9 „Mitteilung“ meint den Übermittlungsakt, der so oder anders vor sich gehen kann; die Einladung zum Essen kann am Telefon ausgesprochen werden oder direkt ins Gesicht gesagt werden. „Information“ ist das Übermittelte, der ausgewählte Inhalt – eine Einladung zum Essen statt ins Kino. „Verstehen“ meint die Deutung sowohl des ausgewählten Inhalts als auch des ausgewählten Übermittlungsverfahrens durch den Empfänger (den Luhmann mit dem lateinischen Wort „Alter“ bezeichnet, also „Anderer“).
Sartres und Lacans These über den vom Anderen kommenden Sinn läuft darauf hinaus, dass Luhmanns Unterscheidung zwischen Information und Verstehen hinfällig ist. Um es in Luhmanns Begrifflichkeit zu sagen: Die Information ist das, was Alter versteht. Wenn die Essenseinladung vom Empfänger als Bekundung eines sexuellen Interesses verstanden wird (Sartre zufolge dient Sprache vor allem der Verführung), dann ist die Bedeutung der Einladung auch die Bekundung eines sexuellen Interesses. Das Signifikat kommt vom Anderen.
Aber kann das Subjekt nicht sagen: „So habe ich das nicht gemeint“ Natürlich. Die Sartresche-Lacansche These über den vom Anderen kommenden Sinn besagt: Auch über die Bedeutung des Satzes „So habe ich das nicht gemeint“ entscheidet der Empfänger.
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Anmerkungen
- So in Seminar 5.
- J. Lacan: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten. In: Schriften II, S. 180, Übersetzung geändert.
- Abbildung aus: Subversion des Subjekts, a.a.O., S. 183, zweite Konstruktionsstufe des Grafen. Der Graf des Begehrens wird von Lacan in Seminar 5 und Seminar 6 erläutert sowie im Aufsatz Subversion des Subjekts.
- Auf diese Verbindung verweist Jacques-Alain Miller in: L’expérience du réel dans la cure analytique, Vorlesung von 1998/99, Transkription im Internet hier; Sitzung vom 17. März 1999, S. 135 der Transkription. Eine englische Übersetzung dieser Sitzung findet man in: The symptom 14, Sommer 2013.
- Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943). Übersetzt von Hans Schöneberg und Traugott König. Rowohlt, Reinbek 1994, S. 887.
- A.a.O., S. 652 f.
- A.a.O., S. 891.
- A.a.O., S. 654.
- Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, Kapitel 4, „Kommunikation und Handlung“, Teil II, S. 193–201.