Das Subjekt als Fehlen eines Signifikanten
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Jacques Lacan begreift das Subjekt als Mangel: als Fehlen eines Signifikanten, als Leerstelle. Wie kommt er zu dieser Auffassung? Auf dem Weg über Sartre. Im Folgenden referiere ich Jacques-Alain Millers Darstellung dieses Zusammenhangs.1
Aber zunächst ein Beleg für die Konzeption des Subjekts als Fehlen eines Signifikanten, aus Seminar 12 von 1964/65, Schlüsselprobleme für die Psychoanalyse:
„Das Subjekt ist das, was dem Wissen fehlt.“2
Unter „Wissen“ versteht Lacan hier das Unbewusste und unter dem Unbewussten ein Netz von Signifikanten, die duch Beziehungen der Lautähnlichkeit und der Mehrdeutigkeit verbunden sind. Das Subjekt ist das, was unter diesen Signifikanten fehlt. Hier noch einmal, etwas ausführlicher:
„In der Mehrdeutigkeit der Beziehung eines Subjeks zum Wissen, im Subjekt, insofern es dem Wissen noch fehlt, darin besteht für uns der Nerv, die Aktivität der Existenz eines Subjekts. Insofern gründet sich das Subjekt nicht darauf, dass es die Stütze wäre, die dem System einer harmonischen Menge von Signifikanten unterstellt wird, sondern darauf, dass es irgendwo einen Mangel gibt, den ich für Sie als Fehlen eines Signifikanten artikuliere. Denn es ist diese Artikulation, die es uns ermöglicht, auf die einfachste Weise zur freudschen Artikulation zu gelangen, um daraus die wesentliche Triebkraft herauszulösen.“3
Das Subjekt ist nicht der Träger des Wissens – des Unbewussten –, sondern das, wofür es in diesem Wissen keinen Signifikanten gibt. Diese Konzeption des Subjekts entwickelt Lacan zuerst in Seminar 6 von 1958/59, Das Begehren und seine Deutung, dort spricht er vom „Verschwinden“ des Subjekts, von seinem „Fading“, seiner „Aphanisis“ (vgl. diesen Blogartikel).
Inwiefern ist das Subjekt das Fehlen eines Signifikanten, wo es doch von den Signifikanten determiniert ist? Insofern, als es ihm unmmöglich ist, ein (unbewusstes) Wissen über die Geschlechtsdifferenz zu haben. Das ist die von Lacan vor allem von Seminar 12 bis Seminar 19 ausgearbeitete These.
Und nun zu Sartre.
Das Subjekt bei Sartre
1943 hat Sartre eine Neuformulierung von Freud vorgelegt, eine „existentielle Psychoanalyse“, wie er sie nennt. Man findet sie im letzten Kapitel von Das Sein und das Nichts; dieses monumentale Werk läuft also auf eine existentialistische Reformulierung der Psychoanalyse hinaus.4
Miller weist darauf hin, dass Sartres Subjektkonzeption in Das Sein und das Nichts auf dem Aufsatz Die Transzendenz des Ego beruht, den Sartre vor dem zweiten Weltkrieg veröffentlicht hatte.5 Miller bezeichnet den Essay als „sensationell“; dass Lacan ihn gelesen hat, ist belegt. In dieser Arbeit legt Sartre eine post-husserlianische Analyse des Bewusstseinsfeldes vor. Dreh- und Angelpunkt ist die Unterscheidung zwischen dem Ich (ego) und dem conscience de soi, dem Bewusstsein von sich selbst oder, kürzer, Bewusstsein von sich. Neben dem Ich und seinen Vorstellungen, dem Ich und seinen Affekten gibt es demnach eine weitere Instanz, das Bewusstsein von sich selbst. Dieses Bewusstsein ist „nicht-thetisch“, wie Sartre sich ausdrückt, nicht setzend, was heißen soll, dass es sich nicht sich selbst gegenüberstellt, dass es sich nicht zum Objekt nimmt. Sartre schreibt das Bewusstsein von sich auf die Weise, dass er das „von“ in Klammern setzt: „Bewusstsein (von) sich“ „conscience (de) soi“6; damit will er markieren, dass es hier nicht um ein Bewusstsein über sich selbst geht, dass hier hier keine Objektvierung im Spiel ist. Das Bewusstsein (von) sich ist ein nicht-reflexives Bewusstsein, ein Bewusstsein, das jeder Selbstreflexion vorausgeht; es ist ungeteilt (es gibt hier nicht die Teilung zwischen dem betrachtenden Ich und dem betrachteten Ich) und es hat nicht den Charakter einer Substanz.
Das Ich ist, Sartre zufolge, so etwas wie ein Objekt im psychischen Feld (ich ergänze: dies ist die „Transzendenz“ des Ego: es gehört, wie die Dinge, zur Welt; das Je und das Moi sind Aspekte des Ego); dieses Feld selbst muss aber als ein ichloses, unpersönliches oder „präpersonelles“ Bewusstsein aufgefasst werden.7 Deshalb hat er in Das Sein und das Nichts, der Ausarbeitung seines Artikels, das Bewusstsein (von) sich als Loch beschrieben, als Kluft, als Leere, als etwas, das er als Seinsmangel (manque d’être) bezeichnet.8 Der Lacansche Terminus manque-à-être, „Mangel-zu-sein„9, ist von diesem Sartreschen manque d’être ausgegangen.10 Sartre begriff das Bewusstsein (von) sich als das Bewusstsein par excellence, aber das ist für Miller nur ein Detail. Wesentlich ist für ihn, dass Sartre in der Subjektivität eine negative Funktion isoliert hat, einen Seinsmangel, eine Kluft.
Die Konsequenzen der Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Bewusstsein (für) sich hat Sartre – so fährt Miller fort – nach dem Krieg in einer kurzen Biographie über Baudelaire popularisiert.11 In dieser Arbeit verwendet Sartre den Begriff der Urwahl (choix originaire).12 Damit meint er eine Wahl, die von jeder äußeren Determination, von jeder Bestimmung durch das Gegebene unabhängig ist, eine Wahl also, die aus der reinen nicht-determinierten Initiative der Leere hervorgeht. Die ursrprüngliche Wahl ist nicht auf mechanische Weise durch die Familie, den Organismus oder die historische Situation determiniert, und zwar deshalb nicht, weil die nicht-substantielle Leere, deren Begriff Sartre eingeführt hatte, in die Determinationen eine Kluft einführt. In der ursprünglichen Wahl sieht Sartre die zentrale und irreduzible Kausalität der menschlichen Persönlichkeit, eine Kausalität, die in eben dieser Kluft angesiedelt ist. Sartres unvollendete Untersuchung über Flaubert hat dieselbe Stoßrichtung.13
Miller weist darauf hin, dass bei Lacan der Begriff der Urwahl ein Echo gefunden hat, in seinem Essay von 1946 über die psychische Kausalität.14 Das Ergebnis, zu dem Lacan hier, bezogen auf die psychische Kausalität, kommt, wird von Lacan beschrieben als „eine unergründliche Entscheidung des Seins“15. Diese unergründliche Entscheidung des Seins ist ein Echo auf Sartres ursprüngliche Wahl. Der Vortrag über die psychische Kausalität ist, wie Miller sagt, ein existentialistischer Text.16
Das, was Sartre in Das Sein und das Nichts als das Für-sich bezeichnet, ist, Miller zufolge, ein Vorläufer für das, was das Lacansche Subjekt genannt wird, obgleich dieses Subjekt das unbewusste Subjekt ist, also in keiner Weise das Subjekt eines reinen Bewusstseinsfeldes. Was Sartre als existentialistische Leere ausgearbeitet hatte, ist von Lacan in einem logischen Bezugsrahmen umgearbeitet worden, als leere Menge oder als gebundene Variable.
Sartre bringt also eine negative Entität ins Spiel, ein Nichts, das nicht einfach nichts ist, das vielmehr zum Sein aufgerufen ist. Bereits dies – so fährt Miller fort – führt in der Psychoanalyse zur Zerstörung des Hartmannschen Ichs.17 Es bewirkt einen entscheidenden Bruch mit der „Ebene der Immanenz“, wie Miller es nennt, und dieser Bruch ist entscheidend für die Entstehung des Lacanschen Subjekts. Für den Begriff der Immanenzebene verweist Miller auf Deleuze, und er erläutert, dass die Immanenz als real oder als biologisch oder als natürlich bestimmt werden kann oder einfach als das Gegebene. Bezogen auf eine reale, vitale Immanenz eröffnet das Ins-Spiel-Bringen einer negativen Entität eine transzendente Distanz, ein „Jenseits“, wie Miller auch sagt.
Es ist dieser Bruch mit der Immanenz, der Sartre zu folgender (wie Miller sich ausdrückt) „extravaganten“ Behauptung bringt: „in gewissem Sinne wähle ich, geboren zu sein.“18 Aber zugleich ist dieser Bruch das, was Lacan dazu veranlasst, die Inexistenz des sexuellen Verhältnisses zu behaupten. Beide Aussagen schreiben sich in die „transfaktische“ Ordnung ein; „Transfaktizität“, auch dieser Begriff ist von Miller.
Der Unterschied zwischen Sartre und Lacan: das Subjekt und der Andere
Einen wesentlichen Unterschied zwischen Lacan und Sartre sieht Miller im Verhältnis zum Anderen. Bei Sartre ist die Transfaktizität des Subjekts letztlich immer solipsistisch, immer die des Subjekts ganz allein; der Inbegriff dieser Isolierung ist die ursprüngliche Wahl. Das Subjekt ist bei Sartre etwas, das aus einem vereinzelten Einzelnen hervorgeht; alle von Sartre in der Dimension der Transfaktizität beschriebenen Operationen sind nur Modalitäten meines individuellen Bewusstseins.
Der Andere wird von Sartre, so betont Miller, auf sekundäre Weise eingeführt, er ist dasjenige Wesen, das dafür sorgt, dass mein Bewusstsein in die Objektivität stürzt und dadurch in einen tödlichen Wettkampf verwickelt wird. Deshalb erscheint der Andere bei Sartre wesentlich als Blick; in Seminar 11 bezieht Lacan sich darauf19. Der Blick des Anderen hat zur Folge, dass der Seinsmangel aus dem Bewusstsein stürzt, so dass er verdinglicht wird, zum Objekt wird. Hier kann man klar den Unterschied zu Lacan sehen, sagt Miller, denn für Lacan hat die Verbindung des Subjekts zum Anderen keinen sekundären Charakter, sie ist vielmehr ursprünglich, sie steht bei ihm am Anfang, sie bildet den Ausgangspunkt.
Miller verweist auf den Aufbau von Das Sein und das Nichts. Zunächst bekommt man eine philosophische Einführung, „Auf der Suche nach dem Sein“ sowie „Das Problem des Nichts“. Dann gibt es einen Abschnitt über „Das Sein-für-sich“. Erst hiernach kommt „Das Für-Andere“ (Teil drei), wo man auf sekundäre Weise mit dem Anderen bekannt gemacht wird. Da für Lacan die subjektive Verbindung zum Anderen ursprünglich ist, ergäbe es keinen Sinn, wenn man, wie bei Sartre, zunächst über das Lacansche Subjekt allein sprechen würde und danach über dessen Beziehung zum Anderen. Wer so vorginge, hätte keinen Begriff davon, dass für Lacan der Andere dem Subjekt vorausgeht.
Ein weiterer Unterschied besteht Miller zufolge darin, dass man es bei Sartre mit Modalisierungen des Bewusstseins zu tun hat, die in phänomenologischen Beschreibungen erfasst werden können. Bei Lacan hingegen geht es um Operationen der Sprache, um Substitutionen, Kombinationen und Verkettungen von Signifikanten, die eingeschrieben werden. Der Schlüssel zur Transfaktizität (wie Miller sagt), ist bei Lacan der Signifikant, und zwar so, dass die Transfaktizität bei Lacan eine materielle Konsistenz gewinnt, die Konsistenz einer symbolischen Ordnung, die dem wissenschaftlichen Herangehen offensteht.
Was Lacan außerdem von Sartre unterscheidet, ist die Transindividualität. Damit meint Miller, dass das Subjekt nicht nur durch und durch vom Anderen abhängig ist, sondern dass der Begriff des Subjekts ein relativer Begriff ist, ein Begriff, der gänzlich auf den Begriff des Anderen bezogen ist. Man kann sich das damit verdeutlichen, dass die Identität des Subjekts von der Vermittlung des Anderen abhängt; Lacan hat sich hierfür auf Hegel bezogen und dessen Konzeption reformuliert.
Verwandte Beiträge
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Anmerkungen
- Vgl. J.-A. Miller: L’expérience du réel dans la cure analytique, Vorlesung von 1998/99, Transkription im Internet hier; Sitzung vom 17. März 1999. Ich referiere den Teil der Sitzung, der sich auf Sartres Subjektbegriff bezieht. Eine Übersetzung der gesamten Sitzung ins Englische findet man in The symptom 14, Sommer 2013.
- Seminar 12 von 1964/65, Schlüsselprobleme für die Psychoanalyse, Sitzung vom 9. Juni 1965; Version Staferla 15.5.2010, S. 695, meine Übersetzung.
- Seminar 12, Sitzung vom 12. Mai 1965, Version Staferla 15.5.2010, S. 567, meine Übersetzung.
- Vgl. J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943). Übersetzt von Hans Schöneberg und Traugott König. Rowohlt, Reinbek 1994; darin: Teil 4, Kapitel 2, Teil I: „Die existentielle Psychoanalyse“, S. 956–986.
- Vgl. J.-P. Sartre: Die Transzendenz des Ego (1936/37). Übersetzt von Bernd Schuppener. In: Ders.: Philosophische Schriften I. Rowohlt, Reinbek 1994, S. 39–96. Eine Kopie des französischen Originals findet man im Internet hier.
- Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 23.
- Ich ergänze Millers Argumentation durch ein Zitat: Über das Bewusstseinsfeld schreibt Sartre: „Das von jeder egologischen Struktur gereinigte transzendentale Feld erlangt seine anfängliche Klarheit wieder. In einer Hinsicht ist es ein Nichts (rien), da alle physischen, psychophysischen und psychischen Objekte, alle Wahrheiten, alle Werte außerhalb seiner sind, da mein Ich (ego) selbst aufgehört hat, daran zu partizipieren. Dieses Nichts ist jedoch Alles, weil es Bewußtsein von all diesen Objekten ist.“ (Die Transzendenz des Ego, a.a.O, S. 83, Übersetzung modifiziert.)
- Vgl. Das Sein und das Nichts, darin v.a. Teil 2, Kapitel 1, Teil 2: „Die Faktizität des Für-sich“.
- Von Chantal Creusot und Norbert Haas in den von Haas herausgegebenen Schriften unglücklich, da moralisierend, mit „Seinsverfehlen“ übersetzt, vgl. u.a. Das Drängen des Buchstaben im Unbewussten, in: Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 48; Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht, Schriften II, S. 98; Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens, Schriften II, S. 203.
- Lacan spricht zunächst, wie Sartre, von manque d’être; vgl. Seminar 2, Version Miller, S. 261 f., Version Miller/Metzger S. 283 f.
- Vgl. J.-P. Sartre: Baudelaire. Ein Essay. (1946) Übersetzt von Beate Möhring. Neu hg. v. Dolf Oehler. Rowohlt, Reinbek 1978.
- Ebd., S. 16, 53.
- J.-P. Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821-1857. (1971/72) Übersetzt von Traugott König. 5 Bde. Rowohlt, Reinbek 1977-1980.
- Vortrag über die psychische Kausalität. Übers. v. Hans-Joachim Metzger. In: Schriften III, hg. v. N. Haas, S. 123–171.
- Schriften III, S. 154.
- Vgl. hierzu ausführlich: Clotilde Leguil: Sartre avec Lacan. Corrélation antinomique, liaison dangereuse. Navarin, Paris 2012, Kap. I, Folie et liberté. De la causalité psychique au choix du sujet, S. 31–78.
- Vgl. Heinz Hartmann: Bemerkungen zur psychoanalytischen Theorie des Ichs (1950). In: Ders.: Ich-Psychologie. Studien zur psychoanalytischen Theorie. Klett, Stuttgart 1972, S. 119–144.
- Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 954.
- Vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 90 f.