Haben wir die Linie überschritten?
Echelon-Überwachungsstation in Griesheim bei Darmstadt (Google Maps 2013)
Im Seminar über die Ethik sagt Lacan:
„Es schien mir heute morgen, daß es nicht übertrieben wäre, mein Seminar mit der Frage zu beginnen – Haben wir die Linie überschritten?
Es geht nicht um das, was wir hier treiben, sondern um das, was in der Welt los ist, in der wir leben. Es besteht kein Grund – was sich da ausspricht, macht nämlich genug Alltagslärm –, daß wir es nicht hören.“1
Das bezieht sich vermutlich auf den U-2-Zwischenfall – auf den Abschuss eines Spionageflugzeugs der USA vom Typ Lockheed U-2 durch die UdSSR über sowjetischem Gebiet, das darauf folgende Scheitern einer Vier-Mächte-Gipfelkonferenz und die damit wachsende Gefahr eines Atomkriegs.
(Der zitierte Satz stammt aus der Vorlesung vom 18. Mai 1960. Zwei Wochen zuvor, am 5. Mai 1960, hatte die UdSSR die Weltöffentlichkeit über den Abschuss des Spionageflugzeugs informiert. Am 14. Mai, also vier Tage vor dieser Vorlesung, begann in Paris eine Konferenz der vier Großmächte, an der die vier Staatsoberhäupter teilnahmen, Eisenhower, Chruschtschow, Macmillan und de Gaulle. Zwei Tage vor Lacans Äußerung, am 16. Mai, verließ Chrustschow die Konferenz, da der Präsident der USA sich weigerte, sich für den Vorgang öffentlich zu entschuldigen.– Etwas später in dieser Sitzung spricht Lacan von Mutationen, die sich häufen könnten: ich nehme an: durch atomare Strahlung.)
Die Bemerkung passt aber auch zu den aktuellen Enthüllungen über die Überwachungsaktivitäten der US-Regierung und der mit ihr verbundenen Staaten und Großunternehmen. Haben wir eine Linie überschritten? Die Grenze zwischen der Spionage (etwa mithilfe von U-2-Flugzeugen) und der routinemäßigen Dauerüberwachung sämtlicher Bewohner des Planeten? Lacan sagt weiter:
„Gibt es etwas Bestürzenderes als den Widerhall einer sogenannten Pressekonferenz, der aus diesen Apparätchen kommt, die wir uns alle besorgt haben?“2
Wie kann man hier nicht an die Pressekonferenz mit Obama denken, auf der die Kanzlerin den Satz vortrug, an den man sie hoffentlich noch lange erinnern wird: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Bei Lacan heißt es weiter:
„Kommt es Ihnen nicht auch so vor, daß die einzige Möglichkeit, unser Ohr auf das einzustellen, was da ertönte, nur in der Form formuliert werden kann – Was soll das? Wo soll das hinführen? Indessen schlummert jeder auf dem weichen Kissen eines das ist doch nicht möglich – wo es doch nichts gibt, das mehr möglich ist, wo es doch das schlechthin Mögliche ist. Es ist möglich, weil das Mögliche das ist, was dem Anspruch des Menschen entspricht, und der Mensch nicht weiß, was er mit seinem Anspruch in Bewegung setzt.“3
Du sollst, weil du kannst. Hierzu fällt mir natürlich die Bemerkung von NSA-Chef Alexander ein, bei seinem Besuch der Abhörstation der Royal Air Force in Menwith Hill: „Why can’t we collect all the signals all the time? Sounds like a good summer project for Menwith.“4
Lacan fährt fort:
„Das schrecklich Unerkannte jenseits der Linie, das ist, was wir, beim Menschen, das Unbewußte nennen, das heißt das Gedächtnis dessen, was er vergißt.“5
Die NSA – das wissen wir jetzt – ist das Gedächtnis dessen, was der Mensch vergisst. Ist die NSA eine Mutation des Unbewussten? Verändert die Globalisierung des Blicks durch die weltweite Dauerüberwachung die Funktionsweise des Unbewussten?
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Anmerkungen
- Seminar 7 von 1959/60, Die Ethik der Psychoanalyse, Version Miller/Haas, S. 278.
- Ebd., S. 278.
- Ebd., S. 278 f.
- The Guardian 21.6.2013, hier. „Menwith“ ist ein sprechender Name: Das „mit“, das die Menschen verbindet, ihre Synthesis, besteht im Überwachtwerden.
- Ebd., S. 279.