Edward Snowden über die Spaltung des Subjekts und den Mangel im Anderen
Am 11. Oktober 2014 hielt Jane Mayer für die Zeitschrift The New Yorker ein Video-Interview mit Edward Snowden, das man sich oben anschauen kann. Ich übersetze und kommentiere zwei Passagen.
Das Subjekt
Der Rahmen ist das The New Yorker Festival; vor Publikum spricht Jane Mayer in New York mit Snowden, der aus Russland live zugeschaltet ist. Für die Journalistin ist er auf einem Monitor zu sehen und zu hören, für das Publikum auf einer großen Projektionswand. In den ersten Minuten des Videos sieht man die Bühne mit der Journalistin, dem Monitor und der Bildwand, danach nur noch direkt die Videoaufnahme von Snowden. Er wird in Nahaufnahme gezeigt, in schwarzer Kleidung vor schwarzem Hintergrund, fast ohne Schnitt.
Die Passagen, auf die ich mich beziehe, beginnen bei 47 Minuten und 21 Sekunden bzw. bei 50 Minuten und 28 Sekunden. Eine Transkription des Englischen findet man am Schluss dieses Artikels.
Edward Snowden (47:21):
„Ich, ich glaube es ist entscheidend, sich daran zu erinnern, dass die, die Enthüllungen des letzten Jahres, die Handlungen, die ich vollzog, sich nicht speziell auf Überwachung bezogen. Das ist, das ist eine Fehldeutung. Es ist keine Beschwerde über eine bestimmte politische Maßnahme (policy). Es geht um die Verantwortlichkeit der Regierung, es geht um die Beziehung zwischen der Regierung und den Regierten.“
Snowden möchte nicht, dass seine Handlungen auf die policy bezogen werden, auf Maßnahmen der Regierung; es ging ihm, das ist seine Botschaft, um die polity, um die Struktur der politischen Verfassung: um die Verantwortlichkeit der Regierung. Unter psychoanalytischem Blickwinkel betrachtet: es ging ihm darum, die Autorität des „Vaters“ in Frage zu stellen, die Vorstellung, dass der „Vater“ weiß, was für die Gemeinschaft gut ist. Snowdons Enthüllungen sind ein Ereignis in der langen Geschichte der Auflösung des Patriarchats.
Einige Sätze später fragt Jane Mayer (50:28):
„Ich, ich hab mich gefragt, weil die Entscheidungen, die Sie getroffen haben, so ungewöhnlich waren, hm, nämlich sich hinzustellen und diese Risiken einzugehen, was –, gab es in Ihrer Kindheit oder in Ihrer Jugend etwas, das Sie, das Sie dazu inspiriert hat, das zu tun? Ich meine, gab es V-, Vorbilder, in Ihrem Kopf oder sogar in Ihrer eigenen Familie, oder was, denken Sie, war es, was Sie dazu gebracht hat, sich selbst von allen abzusetzen, die einfach irgendwie wei-, weitermachen, ohne diese Dinge zu tun?“
Jane Myer stellt die Frage nach dem Begehren des Anderen, im Lacan-Jargon „Que vuoi?“, was willst du? Sie spricht stockend, mehrfach hebt sie neu an, bei „Kindheit“ lacht sie verlegen. Sie selbst ist eine bekannte investigative Journalistin. Spricht sie deshalb so zögernd, weil sie mit ihrer Frage der Frage nach ihrem eigenen Begehren zu nahe kommt?
Sie artikuliert ihre Frage als geschlossene Frage, also in der Weise, dass sie Snowden eine Antwortmöglichkeit vorgibt: Beruhte seine Entscheidung auf einem Vorbild, auf einem Ichideal, I(A)?
Snowden antwortet so (51:03):
„Wissen Sie, ich glaube – ich glaube, das weiß niemand wirklich. Wissen Sie, keiner von uns ist Herr seiner Psychologie. Wir wissen nicht, was uns geformt hat. Wie wissen nicht, was uns dazu getrieben hat, die Entscheidungen zu treffen, hm, die wir getroffen haben.“
Er verweist also auf die Spaltung des Subjekts, $. Er verwendet diesen Hinweis jedoch nicht als Abwehr, denn er fährt fort:
„Aber meine gesamte Familie hat für die Bundesregierung gearbeitet, hm, wissen Sie, bis zu meinen Großeltern zurück und sowas (and things like that), insbesondere im Militär. Ich habe mich bei der Army eingeschrieben, im Gefolge des, im Gefolge des 11. Septembers, und, und habe mich freiwillig gemeldet, um, um mich am Irakkrieg zu beteiligen, weil ich die Behauptungen unserer Regierung geglaubt habe. Und das war, glaube ich, in unserer gesamten Familie überall dasselbe.“
Bis zu den Großeltern zurück and things like that – „which kind of things?“ möchte man zurückfragen.
Das Wort „geglaubt“ wird von Snowden betont. Sein Ausgangspunkt war der Glaube an den Anderen, A; seine Entscheidung beruhte auf einer Glaubenskrise.
Der Andere
Die nächsten Sätze lauten:
„Als ich in der Hierarchie aufstieg, als ich, als ich die Stufenleiter hochkletterte, als ich der CIA beitrat und später für die NSA arbeitete, hm, und ich, ich Zugang zu den absolut höchsten Stufen der Geheimhaltung bekam, hm, und mir klar wurde, dass jeder, wissen Sie, diese Programme einsetzen kann, dass sie ungewöhnliche Fähigkeiten hatten, dass niemand über sie etwas wusste in der gesamten Öffentlichkeit und dass sie von der Öffentlichkeit nicht autorisiert worden waren ––. Und was dann den Ausschlag gab, war die Tatsache (And the fact that really pushed me over the edge was), dass die Leute, die Regierungsvertreter, die davon wussten, gewillt waren, die Öffentlichkeit darüber direkt zu belügen.“
Um es ins Lacanesische zu übersetzen: Seine Entscheidung beruhte auf der Begegnung mit dem Mangel im Anderen, S(Ⱥ), auf der Konfrontation mit dem Fehlen eines Signifikanten, der die Wahrheit garantiert. Die Signifikanten „Regierung“ und „Militär“ sichern die Wahrheit: diese Gewissheit war sein Ausgangspunkt. Angesichts der direkten Lüge, der Lüge von Regierungsvertretern gegenüber der Öffentlichkeit, brach dieser Glaube zusammen.
Der erste Satz besteht aus einer Reihung: „Als ich …, als ich …, als ich …“, danach bricht er ab; durch den doppelten Gedankenstrich, ––, habe ich die Stelle hervorgehoben. Rhetoriker nennen den Satzabbruch Aposiopese. Im Sprechen von Snowden ereignet sich eine Aposiopese, eine coupure, ein Schnitt; offenbar gibt es hier etwas, was nicht gesagt werden kann. Der Schnitt, ◊, repräsentiert, Jacques Lacan zufolge, das Subjekt im Symbolischen. Die elementare Form des Schnitts ist das Intervall zwischen den Signifikanten, das in der Regel kaum markiert ist. Durch die deutliche Aposiopese wird der Hörer dazu gebracht, sich zu fragen, was hier gesagt werden sollte, aber nicht gesagt konnte, er wird in den Schnitt verwickelt.
Nach dem Abschneiden des Satzes verwendet Snowden eine Metapher des Schnitts: diese Erfahrung pushed him over the edge, stieß ihn über die „Kante“, über den „Rand“. Die Interviewerin hatte ihn gefragt, was ihn zu seiner Entscheidung gebracht hatte, und Snowden antwortet mit dem Schnitt.
Nicht durch ein Vorbild, sondern durch die Zerstörung seines Vorbilds wurde Snowden zu seiner Entscheidung inspiriert.
Er fährt fort:
„Hm, das hat mir gezeigt, dass sie nicht auf eine Weise handelten, die vereinbar war mit der Regierung, die ich, hm, mit den Prinzipien, denen gegenüber wir Loyalität geschworen haben, ich und meine Familie und jeder andere in diesem Land. Wenn sie uns in der Schule jeden Tag auffordern, der Flagge Treue zu geloben, dann sollten sie sich an die Prinzipien, die von der Flagge repräsentiert werden, lieber halten, denn wenn sie das nicht tun, dann suchen sie Ärger.“
Der Glaube an die Regierung beruhte auf der Gleichsetzung der Regierung mit den Prinzipien der Verfassung, und die Glaubenskrise bestand darin, dass diese Einheit sich auflöste. Faszinierenderweise wiederholt sich die Trennung der beiden Größen in der Satzkorrektur, die Snowden an der zitierten Stelle vornimmt: „mit der Regierung, die ich, hm, mit den Prinzipien, denen gegenüber wir Loyalität geschworen haben“.
Snowden entscheidet sich dafür, dass die Öffentlichkeit über Überwachung entscheidet. In Lacans Begrifflichkeit: der Name-des-Vaters – der Glaube an Wahrheit und Richtigkeit der Entscheidung des Vaters – wird für ihn zum Symptom der Anderen.
Snowden endet mit der Sprache der Rivalität: „Suchst du Ärger?“ Er schließt also mit dem Übergang auf die imaginäre Ebene (a – aꞌ). Ein mythisches Bild scheint auf, das des Sohnes, der den Vater zum Zweikampf herausfordert.
Jane Mayer:
„Na ich schätze, den haben sie gekriegt. (Lacht)“ (Gelächter aus dem Publikum)
Die Journalistin bekräftigt die Ordnung des Duells und stellt sie zugleich in Frage: durch eine Pointe und dadurch, dass sie lacht.
Meine Transkription
Edward Snowden (47:21)
„I, I think it’s critical to remember that the, the revelations of, of last year, the actions that I took were not specifically about surveillance. That’s, that’s a misreading. It’s not a complaint about policy. It’s about the accountability of government, it’s about the relationship between the government and those being governed.“
(…)
Jane Mayer (50:28):
„I, I wondered as, just, because of the choices you made were so unusual, hm, to stand up and take these risks, what --, was there anything in your childhood or growing up that, that you, that inspired you to do this? I mean were there m-, models in mind or even your own family or what was it, that you think, that made you separate yourself from everyone else who just kind of keeps going a-, ahead without doing these things?“
Edward Snowden (51:03):
„You know, I think – I think nobody really knows. You know, none of us are masters of our own psychology. We don’t know what shaped us, we don’t know what drove us to make the decisions, hm, that we made. But my entire family worked for the federal government, hm, you know, going back to grandparents and things like that, particularly in the military. I signed up for the army in the wake of, the wake of September 11th and, and volunteered to, to participate in the Iraq war because I believed the claims of our government. And that was something that I think was uniform throughout my family. So as I became more and more senior, as I, as I climbed up through the ranks, as I joined the CIA, as I later worked for the NSA, hm, and I, I gained access to the absolute highest levels of classification, hm, and I realized that anybody, you know, could use these, these programs, that they had extraordinary capabilities and that nobody knew about them throughout the public and that they hadn’t been authorized by the public ––. And the fact that really pushed me over the edge was that the people, the officials in government that did know about this were willing to directly lie to the public about it. Hm, it showed to me they were not acting in a manner consistent with the government that I, hm, the principles that I and my family and everyone else in this country swore their loyalty to. If you are going to ask us to pledge allegiance to the flag everyday in school they had better hold themselves to the principles that the flag represents, because if they don’t they are asking for trouble.“
Jane Mayer:
„Well I guess they got it. (Lacht)“ (Gelächter aus dem Publikum)