Maximilian Thieme
Eine Frage des Scheiterns – Auster, Lacan und das Sinthom
Samuel Auster, Vater von Paul Auster
(die in Die Erfindung der Einsamkeit erwähnte Trickfotografie)
„Ich widme diese Worte der Unmöglichkeit, ein Wort zu finden, das dem Schweigen in meinem Inneren gleich ist.“
Paul Auster, Weiße Räume
I Das Scheitern des Sprechens und der Sprache in Literatur und Psychoanalyse
In einem Gespräch über sein Werk Die Erfindung der Einsamkeit bemerkt der Autor Paul Auster gegenüber der Literaturwissenschaftlerin Inge Birgitte Siegumfeldt, dass Schreiben in gewisser Weise immer bedeute, zu scheitern. Auster bezieht sich hier auf Beckett: „Nochmals gescheitert. Besser gescheitert.“ (Auster/Siegumfeldt 2017, 42) – darin bestehe das Grundprinzip des Schreibens überhaupt, denn kein Gegenstand lasse sich vollständig erfassen, geschweige denn adäquat ausdrücken. In dieser Perspektive gerät Schreiben zur Aporie, und zwar in einem doppelten Sinne: Zunächst einmal verweist das Scheitern selbst an die Grenze des Sagbaren, in eine Region, da sich nichts mehr sagen lässt oder die Worte jedenfalls hinter den Hoffnungen und Ambitionen des Schreibenden zurückbleiben. Darüber hinaus die Wiederholung dieses Scheiterns – zu welchem Zweck? Spricht daraus etwas wie ein Zwang, ein existentielles Engagement oder eine innere Notwendigkeit? Bedeutet besser zu scheitern, etwas zu erkennen und zu erfahren, zumal, wenn die eigene Person den Gegenstand des Schreibens darstellt, wie es im Fall von Die Erfindung der Einsamkeit zutrifft?
Diese Fragen zum Wesen literarischen Schaffens erlauben es, eine gewisse, vielleicht sogar verwandtschaftliche Nähe zur psychoanalytischen Erfahrung, insbesondere in ihrer sprachlichen Interpretation durch Jacques Lacan, zu erkennen. So bemerkt etwa Pazzini (2007, 57), dass es der psychoanalytischen Erfahrung um die Grenzen des Sagbaren gehe, denn dort ereigne sich der Ein- oder Ausschluss dessen, was nicht ohne Weiteres denk- oder sagbar ist. Ein Umstand, der in der Folge ein Begehren, ebendiese Leerstellen zu füllen, schürt. Dass auch hier von einem aporetischen Unterfangen gesprochen werden kann, dafür stehen Lacans Deliberationen zum Realen, jenem Register des Psychischen, das sich dem sprachlichen Zugriff entzieht und gleichsam als Heimstatt des Unsagbaren angenommen werden kann. In diesem Sinne teilen sowohl das Schreiben Austers als auch das Ringen Lacans mit dem Realen das angesprochene Scheitern, welches sich im Insistieren, die Lücken schließen zu wollen, stetig wiederholt.
Mit Blick auf diese Gemeinsamkeit bietet sich nun aber doch die Möglichkeit, sich der Beantwortung der aufgeworfenen Fragen zur künstlerischen Produktion als zwangsläufigem Scheitern anzunehmen. Die Rede ist hier von jenem Verfahren, das Lacan anhand seiner Lektüren von James Joyce entwickelte und das im Wesentlichen in einer Amalgamierung subjektiver und ästhetischer Struktur gründet. In engem Zusammenhang steht diese Lektüreweise mit dem, was Lacan in den späten Jahren seiner Lehre das Sinthom nannte. Zu dieser Zeit fokussierte Lacans Arbeit allem voran das Register des Realen, darum bemüht, eine Möglichkeit des Zugangs zum oder der Artikulation des Realen zu schaffen. Wird das Reale gemäß dem Lacanschen Diktum, es sei das vom Sinn Ausgeschlossene, begriffen, so folgt daraus, dass eine solche Artikulationsmöglichkeit so weit wie möglich von Sinn zu entkleiden ist. Ein literarisches Werk wie etwa Finnegans Wake als Sinthom zu lesen bedeutet demnach nicht, im Rahmen der Lektüre Sinnzusammenhänge in den Vordergrund zu stellen, sondern auf nicht-repräsentierte Erfahrungen zu zielen, die sich stilistisch oder wirkungsästhetisch Ausdruck verschaffen.
Die eingangs formulierten Fragen lassen sich in Hinsicht auf Austers Werk Die Erfindung der Einsamkeit damit neu formulieren: An welchem Realen scheitert das literarische Sprechen Austers? Welche nicht-repräsentierten Erfahrungen evoziert dieses Scheitern in der Folge? – Diesen Fragen vor dem Hintergrund der Gedanken Lacans zum Sinthom nachzugehen, wird dann auch verständlich machen, welcher existentiellen Notwendigkeit besagtes Scheitern folgt. Seinen Ausgangspunkt findet dieses Unterfangen in der Suche nach den inhaltlichen, stilistischen wie formalen Indikatoren eines Realen, die darauf schließen lassen, dass die Lektüre den Punkt erreicht, an welchem die von Auster beschriebene Dynamik des Scheiterns sich vergegenwärtigt.
II Knoten und Sinthom
Sich einem Gegenstand mit der Psychoanalyse Lacans zuzuwenden, bedeutet grundsätzlich, sich innerhalb des RSI-Paradigmas zu bewegen: das Imaginäre, das Symbolische, das Reale. Dies sind die drei Register des Psychischen, die bei Lacan an die Stelle der topologischen Modelle Freuds treten. Sie eröffnen das Spannungsfeld, innerhalb dessen sich das Denken Lacans stets bewegte1 :
Das Imaginäre bezeichnet die präödipale Sphäre des Bildhaften und der Phantasie, aber auch des Illusorischen, der Verkennung. Hier sitzt das im Spiegelstadium erworbene Selbstbewusstsein: Das Kind erkennt und erlebt sich vermittelt über sein Spiegelbild als Ganzheit; durch die Identifikation mit dem Ganzen des (Körper-)Bildes entsteht das imaginäre Ich [moi]. Doch handelt es sich hierbei um eine trügerische Instanz, da das Erkennen im gleichen Moment ein Verkennen ist: Das Kind ist sein Spiegelbild und doch nicht, so die Einheit, die ihm als Blickendem im Anderen des Spiegels als Erblicktem begegnet, real verloren ist.
Das Symbolische bezeichnet die postödipale Sphäre des Sprachlichen wie des Sozialen in seiner Bedeutsamkeit. Hier wird der Mensch nach Lacan Subjekt, indem er sich dem Gesetz des Namens-des-Vaters unterwirft, jenes Signifikanten also, der dem Symbolischen Konsistenz verleiht. Im erfolgreichen Passieren des Ödipus-Komplexes anerkennt der Mensch den Namen- bzw. das Nein-des-Vaters – Lacan spielt hier mit der Homophonie von nom und non du père –, mithin das Inzestverbot sowie die Differenz der Generationen und Geschlechter, welche der Gesetzes-Signifikant symbolisiert.2 Im gleichen Zuge widerfährt dem Menschen symbolische Kastration: Die Phantasien von Einheit und Ganzheit, hervorgegangen aus imaginären Identifizierungen, werden beschnitten, der Signifikant setzt einen Schnitt, Mangel und Differenz erscheinen fortan als die Merkmale sowohl des Subjekts als auch des großen Anderen der Sprache.
Das Reale schließlich ist das wohl dunkelste Register der Triade. Grundsätzlich lässt es sich negativ bestimmen als das, was weder imaginär noch symbolisch, weder denk- noch sagbar ist. Der Versuch, vom Realen zu sprechen, erweist sich mithin als Aporie: Worte vermögen es ebenso wenig zu treffen wie die Bilder des Imaginären, denn „[s]tatt die Präsenz der Sache auszusagen, verliert sich das Sprechen in einer Flucht von Ersetzungen“ (Cremonini 2007, 142). Gleichwohl hat das Ringen mit diesem Unsagbaren Lacan zu einer Reihe von Annäherungen geführt: So ließe sich das Reale zunächst als nicht-repräsentierbare, differenzlose Sphäre bestimmen, als uneinholbar verlorener Ort einer glücklichen Einheit mit sich und der Welt – in diesem Sinne ist es das Unmögliche. Auch darf es nicht mit der symbolisch konstituierten und also sprachlich strukturierten Realität verwechselt werden; diese ist vielmehr als die Oberfläche vorzustellen, die, sobald sich Risse in ihr auftun, das Reale als Abgrund schockierender Unbestimmtheit und drängender Bedeutungslosigkeit preisgibt. Im hier zu entwickelnden Zusammenhang sei außerdem darauf hingewiesen, dass Traumata einen ausgeprägten Anteil an Realem aufweisen. So widersetzen sich traumatische Elemente der Artikulation, verbleiben im Unbewussten, doch vermögen sie zugleich eine Reihe schmerzhaft-schrecklicher Präsenzeffekte zu bewirken. Žižek bemerkt diesbezüglich, es sei unwichtig, ob ein traumatisches Element wirklich existiere oder nicht, „wichtig ist allein, daß es sichtbare Effekte zeitigt“. Ein traumatischer Einschlag erweist sich angesichts dieses dilemmatischen Verhältnisses von Unmöglichkeit und nachträglicher Präsenz somit als etwas, „das nur nachträglich konstruiert werden kann, so daß wir die Entstellungen der symbolischen Struktur erklären können.“ (Žižek 1991, 133)
Zu jedem Zeitpunkt der Lehre Lacans sind diese drei Register, wenngleich in variierender Schwerpunktsetzung, gegenwärtig, und so mag sich die Frage nach deren Verhältnis untereinander aufdrängen. Dieser Frage hat Lacan sich vor allem während seiner späten Jahre gewidmet, zu einer Zeit, in welcher er außerdem in besonderem Maße das Register des Realen akzentuierte. Von beiden Tendenzen zeugt das Bild des borromäischen Knotens: Zunächst wird ein jedes der Register durch einen Ring repräsentiert; diese drei Ringe werden sodann zu einem Knoten verknüpft, der insofern als borromäisch zu betrachten ist, als ein jeder seiner Ringe den Knoten zusammenhält, indem er die anderen beiden, unverbundenen Ringe verknüpft – löst sich aber einer der Ringe aus der Verknüpfung, so löst sich der ganze Knoten. So erweisen sich die Ringe bzw. Register als ineinander verwoben; gleichwohl aber steht doch ein jeder Ring in einem Verhältnis der Abgrenzung zu den anderen: Jeder Ring ist dem anderen wesentlich ein Außen und so bieten sie einander Widerstand, stoßen einander ab. Lacan bezeichnet diese Eigenschaft als „Ex-sistenz“ (Lacan 2017, 53) der Ringe bzw. Register.3 Diese Ex-sistenz vermag nun aber auch in eine bedrohliche „Kontinuität“ (ebd.) umzuschlagen, und zwar dann, wenn einer der Ringe seine Ex-sistenz aufgibt und in die Ordnung der beiden verbliebenen einbricht.4 In einer dialektischen Bewegung schlägt die Differenz der Ringe hier in ihre Identität, die Ex-sistenz in Kontinuität um (vgl. Nemitz 2013).
Der Zusammenhalt des Knotens ist zudem gefährdet, wenn sich die Verknüpfung zweier Ringe als fehlerhaft erweist (Götzmann 2018, 375): Man kann diesbezüglich von einer traumatischen Verletzung der Subjekt-Struktur sprechen, die dann zu einem Bruch oder Zerreißen zu führen droht, wenn äußere, retraumatisierende Belastungen die Fragilität des Knotens angreifen. Dies ist der Punkt, an dem Lacan in seinem Seminar von 1975/76 das Sinthom einführt: die Vorstellung eines Symptoms, das innerhalb der Topologie des borromäischen Knotens den Fall eines vierten Rings darstellt. Es handelt sich in diesem Fall jedoch nicht um ein Symptom im klassischen Sinne, d.h. um ein Zeichen für etwas, dessen verborgener Sinn zu dechiffrieren wäre. Vielmehr ist das Sinthom als reparativ-synthetische Kraft vorzustellen, die es erlaubt, die schadhafte Stelle zu fixieren und somit einen stabilisierenden Interaktionspunkt der übrigen Ringe zu bilden (Lacan 2017, 100). Als dieses Strukturelement, siedelnd am Schnittpunkt der Ringe des Knotens, vereint das Sinthom alle Register in sich, ist aber vom Realen in besonderem Maße gesättigt. So widersetzt sich das Sinthom gegen die Wirksamkeit von Imaginärem und Symbolischem. In diesem Sinne, so Götzmann et al., ist es dem Kunstwerk ästhetisch insofern verwandt, „als sich in gelungenen Kunstwerken die drei Register zwar überschneiden, das Kunstwerk wie eben auch das Sinthom jedoch nicht in der Erklärung ihrer Bedeutung aufgehen.“ (Götzmann et al. 2016, 1140) Gleichwohl sind imaginäre und symbolische Anteile nicht suspendiert, sondern vielmehr gegenwärtig, wodurch die hohe, potenziell unerträgliche Wirklichkeitsintensität von Sinthom bzw. sinthomalem Kunstwerk verkraftbar wird.
III Der „Fall“ Joyce und die Schadhaftigkeit des Knotens
Diesen Zusammenhang subjektiver und ästhetischer Struktur entwickelt Lacan in seinem Seminar Le Sinthome aus der Lektüre von James Joyces Finnegans Wake heraus. Interessant ist, dass Joyce gerade nicht als Fall einer klinischen Analyse im eigentlichen Sinne betrachtet werden kann – und dies nicht ohne Grund, strebt Lacan mit seiner Analyse doch an, Zugriff auf das zu gewinnen, was sich per definitionem einer klinischen Analyse als sinnhaftem Verstehen widersetzt: das Reale, das vom Sinn Ausgestoßene (vgl. Morel 2017, 105).
In besagtem Seminar unternimmt Lacan verschiedene Annäherungen an das Sinthom von Joyce, deren Grundkonstellation sich wie folgt beschreiben lässt: Für Lacan geht das Sinthom von Joyce daraus hervor, „dass sein Vater unzuverlässig war, radikal unzuverlässig“ (Lacan 2017, 101). Mit anderen Worten, der Vater ist für die psychische Entwicklung gewissermaßen ausgefallen, denn mochte er zwar real präsent gewesen sein, so war er es emotional-empathisch mit Sicherheit nicht. Es fehlte Joyce mithin an der inneren Anwesenheit des Vaters in seiner symbolischen Funktion, des Namens-des-Vaters, das heißt gerade jener Instanz, die sich für die Strukturierung in der Konstitution des Subjekts verantwortlich zeichnet.5 Aus klinischer Sicht lässt dieses Fehlen des Namens-des-Vaters im Falle von Joyce eine psychotische Struktur vermuten. Doch ist diese Psychose nie zur Manifestation gelangt, sie blieb latent und dies, so Lacan, verdankt sich dem Werk von Joyce. Unter dem Eindruck retraumatisierender Belastungen – etwa die manifeste Psychose Lucias, seiner Tochter, oder Joyces Syphilis-Erkrankung – veranlasste ihn die bedrohliche Fragilität seines Knotens zu einer bestimmten Art der künstlerischen Produktion. Die Kunst wird als vierter Ring im Knoten entfaltet: Sie kompensiert die Fehlerhaftigkeit des Symbolischen, indem sie den Namen-des-Vaters ersetzt und dergestalt den Mangel der phallischen Funktion ausgleicht. Auf diese Weise wird letztlich der psychotische Zusammenbruch der Psyche verhindert.
Wie Finnegans Wake zeigt, bleibt die Verwerfung des Namens-des-Vaters nicht ohne sprachliche Folgen: Joyces letzter Text zeichnet sich durch seine Unverständlichkeit aus, die Sprache scheint hinsichtlich ihrer sinnhaften Dimension gebrochen, zersetzt, beinahe aufgelöst zu sein (Ebd., 103) – mit Lacan ließe sich dieses literarische Sprechen als psychosenah oder präpsychotisch charakterisieren. Deutlich wird hier, inwiefern das Reale des Künstlers respektive seines Sinthoms Eingang in die Gestaltung des Werkes erhält: Worte und Buchstaben fungieren bei Joyce nicht als Bedeutungsträger, „sondern vielmehr als Transfer- oder Begegnungsmöglichkeiten in der Evokation des Realen“ (Götzmann et al. 2016, 1153). Die Kunst öffnet sich dem Realen, ohne es resorbieren zu wollen. An dieser Stelle entsteht ein Sinthom; das Subjekt setzt sich in Beziehung zum Realen, wobei es sich um eine Beziehung handeln kann, die Züge sowohl eines Genießens als auch traumatischen Erlebens trägt – eine Widersprüchlichkeit, die sich im Lacanschen Terminus der jouissance, einem unmöglichen Genießen, verdichtet findet. Eine solche Erfahrung des Genießens muss Joyce bei der sprachlich-künstlerischen Verfertigung von Finnegans Wake erlebt haben. Das Spiel mit der „Polyphonie des Sprechens“ (Ebd., 104), aus dem Joyce weniger bedeutsame Sätze als vielmehr klangvolle Rhythmen des Nicht-Sinns schuf, ließ ihn Nacht um Nacht über dem eigenen Manuskript lachen (Götzmann 2018, 375f.). Gleichwohl ist ein sinthomales Werk wie Finnegans Wake für Lacan nicht unlesbar, es erfordert – aufgrund seines ausgeprägten realen Anteils – lediglich eine andere Lektüreweise. In diese Richtung zielt Lacan, wenn er in seinem Vortrag zur Eröffnung des 5. internationalen James Joyce-Symposiums anmerkt: „Seine [Finnegans Wake] Lesbarkeit liegt […] daran, dass die Jouissance dessen, der es geschrieben hat, gegenwärtig zu spüren ist.“ (Lacan 2017, 186)
In diesem Sinne fokussiert eine Analyse, in deren Rahmen ein literarisches Werk als Sinthom gelesen werden soll, auf nicht-repräsentierte und doch greifbare Erfahrungen des Schreckens oder der Jouissance als einer schmerzlichen Lusterfahrung. Mit anderen Worten sind es die Präsenzeffekte des Lacanschen Realen, die auf diese Weise in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und auf ihre eruptiven oder blockierenden Folgen hin untersucht werden sollen. Eine solche Haltung gegenüber einem literarischen Text will nun auch dieser Artikel einnehmen; vor dem Hintergrund der Überlegungen Lacans zu borromäischem Knoten und Sinthom soll Austers Die Erfindung der Einsamkeit eben als Sinthom gelesen und im Sinne Lacans befragt werden: Welcher Art ist hier der Zusammenhang zwischen subjektiver und ästhetischer Struktur, zwischen dem Knoten des Künstler-Subjekts und seinem Werk? Wird auch hier eine Erfahrung des Schreckens oder der Jouissance in der Lektüre spürbar? Stößt der Text an die Grenzen der Repräsentation – so, wie es Austers bereits zitierte Rede vom Schreiben als Scheitern vielleicht nahelegt?
IV Paul Austers Die Erfindung der Einsamkeit
Auster verarbeitet in Die Erfindung der Einsamkeit autobiographisches Material zu zwei Narrativen, die sich stilistisch zwar voneinander unterscheiden, doch zugleich aufeinander bezogen sind. Das Werk verhandelt Themen wie „Erinnerung, Einsamkeit und Möglichkeiten des Seins in der Welt“ (Auster/Siegumfeldt 2017, 27), ebenso enthält es Reflexionen zu Sprache und Tod. Formal besteht es aus zwei Teilen: Porträt eines Unsichtbaren sowie Das Buch der Erinnerung.
Das Porträt eines Unsichtbaren lässt sich als Reaktion Austers auf den unvermittelten Tod seines Vaters verstehen. So bemerkt Auster selbst im Gespräch mit Siegumfeldt: „Was mich antrieb, war zweifellos eine Kombination aus emotionalem Stress, dem Bedürfnis, etwas über meinen Vater zu sagen, und buchstäblich dem Gefühl, dass er, wenn ich es nicht täte, verschwinden würde.“ (ebd., 30) Ebendieser Vater aber wird von Auster, der fragmentarische Erinnerungen zum Ganzen eines Porträts des Vaters zusammenzutragen sucht, als ein immer schon Verschwindender bzw. Verschwundener beschrieben. Denn seine, des Vaters, Lebensweise, so heißt es im Werk selbst, sei „eine Art vorweggenommener Tod gewesen“ (Auster 2014, 13). Diese Form der Unzugänglichkeit paarte sich stets mit der emotional-empathischen Abkehr des Vaters von seinem Sohn. So erinnert Auster, er müsse seinem Vater ein „Quell der Verwirrung und Traurigkeit“ gewesen sein: „Es war ihm unverständlich, dass er einen Dichter zum Sohn bekommen hatte.“ (ebd., 93) Sich abwendend verwirft der Vater die Andersheit seines Sohnes. In Text und Paratext wird das sich ergebende Bild des Vaters durch eine Trickfotografie symbolisiert6:
„Er sitzt fünfmal dort, doch liegt es im Wesen der Trickfotografie, dass die verschiedenen Ausgaben seiner selbst keinen Blickkontakt miteinander haben können. Jeder einzelne ist dazu verurteilt, immerzu ins Leere zu starren, als lasteten die Blicke der anderen auf ihm, doch ohne etwas zu sehen, ohne je etwas sehen zu können. Es ist ein Bild des Todes, das Porträt eines Unsichtbaren.“ (ebd., 50)
In gewisser Weise zeugen sowohl die Fotografie als auch das von Auster entworfene Porträt von einer Negativität, die sich in einer ersten Annäherung als die einer allzu präsenten Abwesenheit, einer väterlichen Karenz bestimmen ließe.
Im zweiten Teil des Werkes, Das Buch der Erinnerung, thematisiert Auster neben dem Tod seines Vaters weitere Verluste, „bedeutende Einschnitte“ (Auster/Siegumfeldt 2017, 30), wie er sagt, etwa das Scheitern seiner Ehe oder die Trennung von seinem Sohn: „In den Monaten davor“, d.h. vor dem Beziehen eines einsamen, tristen und winzigen Zimmers in Manhattan, „war so viel in meinem Leben zerbrochen, dass ich eine Chronik dieser Ereignisse schreiben wollte.“ (ebd.) Auch hier dominiert das Thema der Erinnerung. Die Figur A. erinnert Einschnitte und Verluste und gruppiert diese Erinnerungen ähnlich wie ihm ersten Teil des Werkes, wenngleich aus anderer Perspektive, um einen nicht-assimilierbaren Kern herum. Mit Blick auf diesen Perspektivwechsel lässt sich durchaus von einer Zäsur im Werk Austers sprechen. So liegt im Porträt eines Unsichtbaren eine interne Fokalisierung auf einen autodiegetischen Erzähler vor; in der 1. Person erzählt der Erzähler seine eigene Geschichte, ist gewissermaßen seine eigene Hauptfigur. Im Buch der Erinnerung bleibt die Fokalisierung unverändert, der Erzähler weiß, was die Figur weiß, doch ändert sich, wie der französische Literaturwissenschaftler Genette sagen würde, die Stimme der Erzählung: Nunmehr berichtet ein heterodiegetischer Erzähler, der nicht selbst eine Figur der erzählten Welt ist, von der Figur A. Was verrät eine solche Zäsur? – Anders als im ersten Teil des Werkes scheint Auster sich hier nun weniger über den Vater zu verständigen als vielmehr über sich selbst – und zwar in dem Sinne, dass die Figur A., wie sich zeigen wird, als Selbstanteil des Autors begriffen werden kann. Dabei gelangt er zu Fragen der Einsamkeit, des Verlustes, der Mechanik seines Schreibens sowie der Grenzen der Sprache.
An diesem Punkt nun stellt sich die Frage, auf welche Weise Die Erfindung der Einsamkeit zu behandeln sei, soll es mit Lacan als ein Sinthom gelesen werden. Eine erste Schwierigkeit könnte sich diesbezüglich in Anbetracht der formalen Aspekte des Werkes ergeben. So spricht etwa Siegumfeldt von Die Erfindung der Einsamkeit als einem „Genreexperiment“ (ebd., 14); eingedenk der Zäsur im Werk sowie des Wechsels in der Stimme der Erzählung könnte man, Siegumfeldt folgend, Die Erfindung der Einsamkeit als Autofiktion einordnen. Autofiktion steht zunächst für eine Ablehnung klassischer romanhafter Strukturen der Autobiographie, sie verzichtet auf einen Ganzheitsanspruch der Darstellung, mithin auf kohärente Handlungsstränge, feste Chronologie und lehnt sich so an die fragmentarische Form des französischen Tagebuchs, des journal an (vgl. Benne 2007, 296). Dies befreit das Verhältnis von Sprache und autobiographischer Erinnerung, das Schreiben selbst gerät zum schöpferischen Prozess im Sinne einer freien Assoziation: „Das Schreiben kehrt die Erinnerungen an die Oberfläche; sie selber diktieren, was überhaupt geschrieben wird.“ (ebd., 299) Angesichts dieser Einordnung könnte eine strukturalistisch orientierte Literaturwissenschaft die Forderung nach einer scharfen Trennung zwischen Autor-Funktion einerseits und Protagonist andererseits erheben. Hintergrund dieser Ebenenunterscheidung wäre eine Absolutsetzung des Textes: unter der Annahme, Literatur suspendiere in der Selbstreferentialität der Sprache jede Referenz auf eine außersprachliche Welt, sei der Text allein immanent zu untersuchen. Eine solche Analyse zielte darauf ab, Strukturen zu identifizieren, die der linguistischen langue analog sind, um so die Konstruktion von Bedeutung über binäre Oppositionen nachvollziehen zu können. Die Vorstellung eines starken, für die Analyse relevanten Autor-Subjekts, dessen Einbeziehung in strukturalistischer Perspektive bewirken würde, dass das Werk sich dem erklärenden Zugriff gegenüber verschließt, findet sich derweil unter dem Leitspruch vom „Tod des Autors“ aus der Textimmanenz suspendiert. Von solch einem strukturalistischen Standpunkt aus ließe sich das Lacansche Unterfangen einer sinthomalen Analyse sicherlich in Frage stellen: Auf welche Weise lässt sich das Wissen über das Autor-Subjekt mit dem Wissen über die Figuren eines Werkes verbinden? Mit welchem Recht lassen sich, einzig auf Grundlage der Lektüre eines sprachlich autonomen Textes, zuverlässige Aussagen über ein Sinthom tätigen?
Nun bekundet aber der Autor Auster im Gespräch über Das Buch der Erinnerung und die Figur A.: „Das Buch handelt von einem Mann, der allein in einem Zimmer ist, und dieser Mann bin ich.“ (Auster/Siegumfeldt 2017, 55) Damit ist vielleicht auf eine Überschreitung jener reinen Textimmanenz, wie sie die strukturalistische Analyse zu wahren sucht, hingedeutet, denn der reale Autor setzt sich hier in eine Beziehung der Repräsentation zu einer Figur seines Werkes. Hiervon ausgehend lassen sich zwei Antworten auf den strukturalistischen Einwand formulieren: Zunächst einmal sei mit Götzmann et al. (2016, 1140) daran erinnert, dass es bei einer sinthomalen Analyse nicht oder nur zu einem gewissen Teil um die Handhabung abstrakter Philosopheme geht, sondern vielmehr um nicht-repräsentierte Erfahrungen, die sich aus dem Erspüren des Realen als dem Traumatisch-Schrecklichen oder einem unmöglichen Genießen ergeben. Und so lässt sich eine Trennung von Textimmanenz und -transzendenz etwa als Abwehr im psychoanalytischen Sinne verstehen: den Text absolut zu setzen, als eine Art Nicht-Ort ohne Bindung an die außersprachliche Welt – dies erscheint dann als eine Abspaltung, die gewährleisten soll, sich der verwandelnden Kraft des Textes oder der Affizierung durch nicht-repräsentierte Erfahrungen, die in der Lektüre des Textes anzudrängen vermögen, entziehen zu können. Gerade darauf aber, so wurde bereits gesagt, zielt Lacan in seiner Beschäftigung mit dem Sinthom. Eine zweite, texttheoretische Antwort lässt sich mit Ricœur formulieren. Während das Textverständnis des Strukturalismus von der Struktur der langue dominiert ist, gelten Texte Ricœur als ein Phänomen der parole, das heißt der gesprochenen Sprache: ein jeder Text ist ein Diskurs und somit ein Sprechen über etwas zu jemandem (vgl. Ricœur 2005, 80). Diese Bestimmung zeugt von einer performativen Dimension des Textbegriffs Ricœurs, die auf seine Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie zurückgeht. Demnach handeln wir in Sprache und diese Sprache ist nie für sich, sondern stets ein Sprechen über etwas. Einerseits gewinnt damit der Referent als das, worum es einem Text geht, wieder an Wert; andererseits zeigt sich, dass jeder Text als Sprechakt an einen Leser gerichtet ist, der – wie sich in Anlehnung an Gadamer sagen lässt – einen Sitz im Leben hat. Auch der Autor verfügt über einen solchen Sitz im Leben, und mag er auch der Produzent des Textes sein, so findet er sich doch zugleich von diesem Text angesprochen, ist als „erster Leser“ (ebd., 85) bereits in der Lektüre und also in einer Beziehung zum Text.
Allerdings muss hier bemerkt werden, dass sich Literatur auch für Ricœur durch die Aufhebung einer direkten Referenzfunktion auszeichnet, die den Weltbezug tilgt – nur bedeutet dies für ihn eben nicht zwangsläufig, dass ein Text ohne jegliche Referenz ist. Ist ein Text ohne direkte Referenz auf die Welt, so formiert sich der Text, gleichsam in der Schwebe gehalten, als eine Ganzheit und bringt dabei eine „Quasi-Welt“ (ebd., 84) oder Textwelt hervor, auf die er als Text verweist. Was innerhalb dieser Textwelt seinen Ausdruck findet, das versteht Ricœur mit Heidegger als Erfahrung unseres In-der-Welt-Seins (Ricœur 1991, 85f.). Es handelt sich in der Textwelt, genauer gesagt, um imaginativ ausgestaltete Variationen unserer Erfahrungen. Vermittelt über diese imaginativen Entwürfe der Welt bzw. unseres Seins in der Welt entsteht zwar keine direkte, doch aber eine indirekte Referenz zwischen einem Text und der Welt. Entscheide ich mich als Leser dazu, diesen Entwurf verfolgen, die entworfene Welt gewissermaßen bewohnen zu wollen, so öffne ich mich für die verwandelnde Kraft des Textes und werde sowohl ihn als auch mich selbst neu und anders verstehen lernen. Textimmanenz und -transzendenz erweisen sich auf diese Weise als ineinander verschlungen, denn während die Erfahrung unseres In-der-Welt-Seins den Entwurf der Textwelt fundiert, wird sie, imaginativ variiert, über eine indirekte Referenzfunktion erneut zu uns zurückgebogen. Was bedeutet das für das hier fragliche Verhältnis von Autor und Text? – Es sind auch die Erfahrungen und Entwürfe des Autors, die in die Textwelt eingehen und dort ihre Ausgestaltung erfahren. Dieser Umstand erlaubt es Ricœur zu behaupten, „daß der Autor durch den Text eingesetzt wird“, dass der Text den Ort markiert, „an dem der Autor ankommt“ (Ricœur 2005, 85). Mit anderen Worten, der Bezug zur Außenwelt, zu Leser wie Autor, lebt im Rahmen der Textwelt, im Text selbst fort: etwa als impliziter Leser oder als Erzählinstanz reproduzieren sich die Größen der Außenwelt textimmanent weiter. Dieser Exkurs zur Texttheorie Ricœurs lässt nun auch das Vorgehen Lacans etwas klarer erscheinen. Es ist eine solche Verschlungenheit von Textimmanenz und -transzendenz die Lacans Beschäftigung mit dem Sinthom wie auch seiner Joyce-Lektüre wesentlich zugrunde liegt. Am Umgang mit Joyces Text lässt sich dies nachvollziehen; im Seminar vom 13. Januar 1976 äußert sich Lacan in folgender Weise zu Ulysses: „Stephen ist der Joyce, den Joyce imaginiert.“ (Lacan 2017, 70) Im Rahmen der Textwelt lebt hier Joyce als Größe der Außenwelt fort, und zwar insofern, als die Figur Stephen Dedalus als das Ich [moi] von Joyce zu begreifen ist. Die Figur erscheint mithin als der phantasmatisch ausgestaltete Repräsentant des Autors innerhalb der Textwelt. Wenn Auster also von der Figur A. sprechend bemerkt: „[…] und dieser Mann bin ich“ (Auster/Siegumfeldt 2017, 55), liegt ein ganz ähnlicher Fall vor. Die Figur A. kann dann nämlich als das Ich [moi] Austers, als dessen Repräsentant in der Textwelt betrachtet werden. Damit erscheint die Figur als Selbstanteil des Autors, so das literarische Sprechen der phantasmatischen Ausgestaltung seines Ichs gewidmet ist, dem Subjekt des Ausgesagten, das von den Signifikanten bedeutet wird. – In diesem Sinne also lassen sich sowohl die Äußerungen des Erzählers (Porträt eines Unsichtbaren) als auch das, was über die Figur A. (Buch der Erinnerung) gesagt wird, auf den realen Autor Auster beziehen, der in einem Verhältnis indirekter Referenz bzw. Repräsentation zu Erzählinstanz und Figur steht.
Dennoch unterscheidet sich Lacans Lektüreweise vom bloßen Biographismus, denn er will den Text nicht einfach durch das Leben des Autors hindurch umfassend dechiffrieren, d.h. verstehend ganz im Signifikat aufgehen lassen. Wie bereits angemerkt, geht es im Kontext des Sinthoms vielmehr darum, das Unsagbare diesseits hermeneutischen Verstehens einzukreisen und derart Zugriff auf Erfahrungen gewinnen zu können, die sich dem Imaginären und Symbolischen widersetzen. Nun obliegt aber dem sinthomalen Kunstwerk, darauf verweist Turnheim (2009, 74), das Leben, d. h. jene andrängenden Erfahrungen, auszuhalten. Man könnte dies auch so formulieren, dass es die Aufgabe des Werkes ist, den Schmerz des Autors zu resorbieren – ließe sich dann aber nicht davon sprechen, dass Autor und Figur gleichsam denselben Schmerz, dasselbe Trauma teilen? Für Lacan, der hier gewiss kein Strukturalist mehr ist, ergibt sich daraus die irreduzible Verschlungenheit subjektiver und ästhetischer Struktur in der sinthomalen Verfasstheit des borromäischen Knotens: Das Subjekt ist von seiner Kunst, ohne die es nicht leben könnte, durchwirkt, so wie die Kunst vom Subjekt durchwirkt ist, da der Knoten des Subjekts dem Werk seine spezifische Struktur und Stimme erst verleiht. Und genau hierin gründet die verwandelnde Kraft des sinthomalen Kunstwerkes: es kann als reparativ-synthetischer Ring im Knoten wirken, eben weil es als ästhetisches zugleich Teil subjektiver Struktur ist.7
V Erinnerung und Trauma
Aus den bisherigen Ausführungen geht deutlich hervor, dass eine Lektüre von Austers Werk als Sinthom insbesondere erforderlich machen wird, den realen Anteil des Sinthoms, ein mögliches sinthomales Trauma zu umreißen. Einen möglichen Ausgangspunkt dieser Lektüre stellt die Erinnerung dar, die als das übergeordnete Prinzip beider Teile erscheint – sowohl Porträt eines Unsichtbaren als auch Das Buch der Erinnerung können demnach als narrative Erinnerungsschriften angesprochen werden. Was aber bedeutet es, sich an etwas zu erinnern? Mit Lacan ließe sich anführen, dass das Zurückliegende nicht einfach vergangen ist; etwas zu erinnern meint demnach nicht, etwas bloß aus einem Archiv zu heben. Vielmehr verhält es sich so, dass eine Erinnerung nachträglich entstehen kann: sie wird ausgelöst durch eine bestimmte gegenwärtige Erfahrung und gelangt so erst zu ihrem Sein (vgl. Finkelde 2019, 80f.). In diesem Sinne unterliegt das Erinnerte stets einer „primären Historisierung“ (Lacan 2016a, 307), denn das Bild der Vergangenheit, das in der Erinnerung sich abzeichnet, ist vom Standpunkt bzw. Verständnis der Gegenwart als einem Interpretationsrahmen abhängig. Genau dies will die Rede von der Nachträglichkeit ausdrücken: das Spätere bringt das Frühere hervor, evoziert es (vgl. Eickhoff 2005, 144).
Schon Freud hatte eine solche nachträgliche Umarbeitung vergangenen Erlebens festgestellt; in einem Brief schrieb er Wilhelm Fließ er arbeite „mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt.“ (Freud 1986, 173) Die eigene Vergangenheit bleibt sich daher nicht gleich und ist nicht ein ums andere Mal in identischer Form abzurufen, denn stets wird das Erinnerte sich auf eine neue Weise in die Narration des Gedächtnisses einfügen. Diese Dynamik der Umarbeitung und Umschreibung macht es nun möglich, Vergangenem einen Sinn oder sogar eine pathologische Wirksamkeit zu verleihen. Hier deutet sich der Zusammenhang von Nachträglichkeit und dem Trauma an; Laplanche und Pontalis bemerken diesbezüglich, dass nicht das Erlebte im Allgemeinen eine nachträgliche Umarbeitung erfahre, sondern „selektiv das, was in dem Augenblick, in dem es erlebt worden ist, nicht vollständig in einen Bedeutungszusammenhang integriert werden konnte.“ (Laplanche/Pontalis 1992, 314) Vorbild eines solchen Erlebens, so die beiden Lacan-Schüler weiter, sei das traumatisierende Ereignis. Die angesprochene Umarbeitung verleiht einem vergangenen Ereignis also nachträglich einen traumatischen Charakter. Ausschlaggebend hierfür kann ein gegenwärtiges, sozusagen retraumatisierendes Ereignis sein; dieses zweite Ereignis allein verleiht dem ersten seinen pathogenen Wert.
Für den spezifischen Fall Austers drängt sich damit die Vermutung auf, dass sein Werk als narrative Erinnerungsschrift um einen traumatischen Einschlag kreist, und ferner, dass dieses Trauma nicht im Tod des Vaters besteht. Dieser Tod selbst wäre dann als ein retraumatisierendes Ereignis zu begreifen, welches einem vergangenen und in seinem traumatischen Potential gleichsam latent gebliebenen Ereignis erst seinen eigentlichen Wert zukommen lässt. Die Frage, die sich hiervon ausgehend stellt, ist somit folgende: Welcher Art mag dieses Trauma sein, das unter dem Einfluss des Todes des Vaters zu einem Sein gelangt?
VI Das symbolische und das reale Nichts
Für den Versuch, dieses sinthomale Trauma und im Weiteren die formale Struktur des Sinthoms Austers zu erschließen, wird die Trickfotografie des Vaters leitend sein. So lassen sich die zentralen Motive des Werkes aus diesem eigentümlichen Bild ableiten: die Spiegelung, das Fragmentarische, die Konstellation und nicht zuletzt die Leere als das, was in der Spiegelung als blinder Fleck oder in der konstellativen Gruppierung als unzugängliche Mitte verbleibt. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass die Fotografie die Struktur des ersten Teiles von Die Erfindung der Einsamkeit, letztlich aber auch des Werkes insgesamt abbildet. Darüber hinaus wird sich an ihr Austers Ringen mit einem Nicht-Sagbaren nachvollziehen lassen.
Als hilfreich können sich diesbezüglich die Deliberationen Adornos zu einem konstellativen Denken erweisen. Die Konstellation zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihre Begriffe um ein Objekt zentriert, das so, wie es an sich ist, verborgen bleibt. Im Sinne einer Versuchsanordnung halten sich alle Begriffe in gleichem Abstand zum Mittelpunkt. In konzentrischen Kreisbewegungen vollzieht das konstellierende Denken die Annäherung an diese Mitte, umschreibt sie, doch verbleibt sie als Leerstelle, weil die Begriffe selbst sie nicht zu treffen vermögen. „Indem Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres“ (Adorno 1998, 164f.), so Adorno, der dieses Innere negativ als Nichtidentisches anspricht und damit in die Richtung der Besonderheit und Alterität der Sache jenseits der identifizierenden Sprache weisen will.8 Entscheidend ist im Zusammenhang konstellativen Denkens der „Vorrang des Objekts“ (Adorno 1998, 184): Auf der Ebene der Kunstbetrachtung bedeutet dies etwa, der Konstellation von Elementen im betrachteten Kunstwerk in ihrer Bewegung zu folgen. Dies nötigt den Betrachter zu einer mimetischen Verhaltensweise. Mimesis aber versteht Adorno weniger im aristotelischen Sinne als ein bloßes Nachahmen, sondern vielmehr als eine Form des „Sich-gleich-Machens und passiven Sich-Überlassens“; Adorno geht es „um die rückhaltlose Hingabe an ein Gegenüber, ohne zu wissen, wohin das führt“ (Sonderegger 2011, 417).
Eine solche Verhaltensweise lässt sich nun auch für Austers Schreiben in der Auseinandersetzung mit seinem Vater behaupten. Auster lässt sich auf der Suche nach dem Menschen, der sein Vater war, von den Strukturen des Objekts – hier der Trickfotografie – leiten9 ; so wird die Struktur des Objekts gleichsam in der Struktur des Werkes wiederholt. Die verschiedenen Versionen des Vaters auf der Trickfotografie finden ihre Entsprechung in den fragmentarischen Skizzen, in denen Auster die Annäherung an seinen Vater versucht. Gleichwohl vermag ihn dieses Vorgehen nicht auf direktem Weg zum Wesenskern seines Vaters zu führen: „Ich habe das Gefühl, ich versuche irgendwo hinzugelangen, als wüsste ich, was ich sagen wollte, aber je weiter ich gehe, desto stärker wird meine Überzeugung, dass der Weg zu meinem Ziel gar nicht existiert.“ (Auster 2014, 51) Problematisch scheint zudem das Verhältnis dieser Fragmente untereinander, denn sie widerstreben, wie die Fotografie zeigt, der Zusammensetzung zu einem kohärenten Porträt: „Die wuchernde, völlig verwirrende Kraft des Widerspruchs. Ich verstehe jetzt, dass jede Tatsache von der nächsten aufgehoben wird, dass jeder Gedanke einen gleichwertigen, aber entgegengesetzten erzeugt.“ (ebd., 95) Im Widerspruch der einzelnen Fragmente aber drückt sich etwas aus, wenngleich wortlos, eher fühlbar in der Reibung des Nicht-Versöhnlichen: „Es hat da eine Wunde gegeben, und jetzt erkenne ich, sie ist sehr tief. Anstatt mich, wie ich angenommen hatte, zu heilen, hat das Schreiben diese Wunde offengehalten. […] Anstatt meinen Vater zu begraben, haben diese Worte ihn mir am Leben erhalten, vielleicht intensiver als je zuvor.“ (ebd., 52) Im Griechischen bedeutet Trauma Wunde, Verletzung oder Schnitt (vgl. Laplanche/Pontalis 1992, 512) – und ist nicht damit auf einen traumatischen Einschlag verwiesen? Aus der mimetischen Annäherung an dieses Trauma ließe sich dann auch der zunehmende Widerstand gegen Versprachlichung erklären, den Auster erfährt:
„Seit einigen Tagen beginne ich zu glauben, dass die Geschichte, die ich zu erzählen versuche, sich irgendwie nicht mit der Sprache vereinbaren lässt, dass ihr Widerstand gegen sprachliche Vereinnahmung immer mehr zunimmt, je näher ich daran bin, etwas Wichtiges zu sagen, und dass ich, wenn der Augenblick kommt, wo ich das eine wirklich Wichtige sagen muss (vorausgesetzt, es existiert), es nicht werde sagen können.“ (Auster 2014, 51f.)
Die Leere im Zentrum der Trickfotografie ist nun das, was es erlaubt, die Aspekte von Trauma und Vater zu verknüpfen: Die Intensität, mit welcher Austers Schreiben ihm seinen Vater am Leben erhält, ist die einer Abwesenheit. Da, wo Auster auf den Wesenskern seines Vaters im Sinne einer benennbaren Positivität zu treffen hofft, findet sich einzig die Negativität einer Abwesenheit, sprich der Mangel eines ebensolchen Kerns. Mit anderen Worten: Auster sieht sich mit einem Nichts konfrontiert. Dieses Nichts nun lässt sich mit Lacan dann präziser als symbolisches Nichts bestimmen, wenn das in diesem Zusammenhang fragliche Trauma – der ausgeprägten Vaterthematik eingedenk – als Trauma der Kastration begriffen wird. Die traumatische Wunde, die aus der Kastration resultiert, ist gewissermaßen der Schnitt, den der Signifikant in der Konstitution des Subjekts setzt: den Namen-des-Vaters anzunehmen, bedeutet Subjekt zu werden und also die Dezentrierung als Subjekt. Das symbolische Nichts verkörpert so den Mangel des großen Anderen, der ebenso wenig wie seine Repräsentanten (etwa der Vater) vollständig, ganz ist. Existentiell, im Erleben, zeigt sich dieses Nichts insofern, als das Subjekt aus seinem konstitutiven Mangel heraus ein unstillbares Begehren entwickeln wird; es zeigt sich aber auch in der Sprache, da die Welt nicht im Symbolischen aufgeht und stets etwas fehlt, das höchstens als negative Spur wahrnehmbar wird, als leere Form, einer Fußspur im Sand vergleichbar.
Man könnte das symbolische Nichts auch als den Rest oder Überschuss beschreiben, den der Prozess der Symbolisierung selbst notwendig hervorbringt. Zwar widersetzt sich dieser Rest der Symbolisierung, doch ist er der symbolischen Ordnung nicht äußerlich, sondern als eine Art inneres Außen vielmehr inhärent. Um diese „unmögliche-leere Stelle“ (Žižek 1991, 76) artikuliert sich, so Žižek, das Signifikanten-Netz des Symbolischen. Angesichts dieses Widerstandes gegen Symbolisierung ließe sich vom symbolischen Nichts als einem realen Rest auf dem Feld des großen Anderen sprechen. Diese Charakterisierung macht es möglich, den Blick auf eine andere Figur zu wenden, welche zu der des symbolischen Nichts als einem Punkt der Leere oder Entzogenheit sowohl im großen Anderen als auch im Subjekt in einem, wie sich zeigen wird, oszillierenden Verhältnis steht: das reale Nichts. Während das symbolische Nichts ein Nichts im Gegensatz zu etwas, nämlich dem signifikanten Netz des Symbolischen markiert, so ließe sich das reale Nichts als vollkommene Unbestimmtheit umreißen, als ein vorsymbolisches Reales. Fink spricht diesbezüglich von einem Realen „erster Ordnung“ (vorsymbolisches, reales Nichts) und einem Realen „zweiter Ordnung“ (symbolisches Nichts): Zwar gilt ihm das reale Nichts als eine bloße Annahme, doch geht er zugleich davon aus, dass es durch das symbolische Nichts vertreten werden kann, jenes „kehrt in gewisser Weise in Gestalt eines Schwerpunktes wieder, um den die symbolische Ordnung zu kreisen verdammt ist, ohne jemals in der Lage zu sein, ihn zu erreichen.“ (Fink 2006, 51) Dieser Befund ist für Lacans Verständnis menschlicher Subjektivität insofern bedeutsam, als das Subjekt des Symbolischen nicht einfach mangelhaft, kastriert ist, sondern in sich selbst haltlos-abgründiges Nichts, Leere oder Substanzlosigkeit; es ist, positiv gewendet, reine Potentialität, ein offenes Werden im Sinne eben einer radikalen Unbestimmtheit.
Für die Auseinandersetzung mit Austers Werk ist dies insofern interessant, als das reale Nichts unter bestimmten Bedingungen andrängen und einsichtig werden kann: in Angst. Grundsätzlich kann Angst als Affekt eingeordnet werden; für Spinoza etwa zeigt sich im Affiziertwerden eine Folge des Seins, der Mensch ist von etwas angegangen (vgl. Widmer 2016, 126). Als Affekt ist Angst eruptiv, sie erschüttert und macht sprachlos, so sie, anders als etwa ein Gefühl, keinen Raum für eine Erzählung eröffnet. Nach Kierkegaard erwacht Angst angesichts eines Nichts (vgl. Kierkegaard 2005, 487); zugleich gilt ihm der Mensch, der die Fähigkeit besitzt, Angst zu haben, existentiell als ein Nichts respektive als Freiheit. Diese Bestimmungen verbinden sich im subjektiven Erleben von Angst, das von Kierkegaard als Schwindel beschrieben wird (vgl. ebd., 512): Die Angst ist der Schwindel der Freiheit, d.h. des Menschen, der hinabschaut in das Nichts, also wiederum in eine Freiheit in ihrer eigenen Möglichkeit. Mit anderen Worten: Der Mensch tritt gleichsam aus sich heraus und findet sich vor einen Abgrund haltloser Unbestimmtheit gestellt, der er selbst ist. Er ist sich selbst preisgegeben, und zwar in der radikalen Offenheit, die ihn begründet.
Nun findet sich im Buch der Erinnerung eine Passage, die sich als Reflexion Austers auf den Prozess seines Schreibens verstehen lässt, und die, so gelesen, nahelegt, dass er in der Selbstverständigung Angst im geschilderten Sinne erfährt. Besagte Passage thematisiert die Dynamik des Schreibens der Figur A. in Hinblick auf den Ort dieses Schreibens, ein karges und einsames Zimmer: Schreibt A., so gelingt es ihm, das Zimmer mit Gedanken anzufüllen. Zwischen solchen Phasen des Schreibens jedoch entleert sich das Zimmer, nimmt einen Zustand der Unbewohnbarkeit an und ein jedes Mal, da A. sich mit dieser Leere aufs Neue konfrontiert, „schlagen seine Gedanken in wortloser Panik um sich“: „Es ist, als wäre er gezwungen, sein eigenes Verschwinden zu beobachten […].“ (Auster 2014, 114) Zu schreiben bedeutet demnach, den leeren Raum der Seiten mit Worten zu füllen, etwas greif- und sagbar zu machen, so lang, bis ein Fragment abbricht und die Worte ins Schweigen stürzen. Auster selbst assoziiert eine derartige Wortlosigkeit, so bemerkt er im Gespräch mit Siegumfeldt (2017, 63) mit der Gefahr, in einen Abgrund zu stürzen – und zeugt nicht dieses Empfinden von einem Angsterleben im Sinne Kierkegaards? Die Fragmente, konstellativ angeordnet nach der Struktur der Trickfotografie, stoßen hier an die von ihnen umschriebene Leerstelle. Das Vakuum in der Mitte der Trickfotografie entspricht dem Schweigen im leeren Zwischenraum der Fragmente auf den Seiten des Buches, hier wie da wird eine Abwesenheit geradezu greifbar. Dort, wo nichts mehr zu sagen bleibt, beobachtet der Schreibende sein eigenes Verschwinden, und das bedeutet hier: er wird eines realen Nichts ansichtig, er erkennt in der Angst jene haltlose Unbestimmtheit, in welcher er als Mensch selbst gründet. In diesem Sinne geben die Fragmentkonstellation sowohl des Porträts eines Unsichtbaren als auch des Buches der Erinnerung eine Wahrheit menschlicher Existenz zu erkennen, nämlich auf Nichts gebaut und deshalb selbst keine dauernde, in sich verharrende Substanz, sondern existentiell ein Nichts zu sein.10
VII Das Begehren und die Angst, oder: Die Dialektik des Sinthoms
Nun aber gelingt es Auster, die Konfrontation mit dem traumatischen Einschlag, hervorgegangen aus der symbolischen Kastration, zu verwinden; auch übergeht er nicht jene tiefe existentielle Erfahrung von Angst, wendet sich nicht ab, sondern nimmt sie wiederholt an und durchlebt sie. Die Kraft, welche dies zu tun gestattet, speist sich aus dem vierten Ring des borromäischen Knotens, der sich im Vollzug künstlerischer Produktion formiert. Das Sinthom erlaubt, zu leben. – Wie ließe es sich formal beschreiben, das Sinthom Austers? Wie sich zeigen wird, gründet es in einer dialektischen Pendelbewegung, die sich von dem Ort her nachvollziehen lässt, an dem ein Fehler in der Struktur des Knotens den Raum für eine nicht-assimilierbare Erfahrung des Realen in seinen Effekten eröffnet.
Die mimetische Annäherung Austers als Bewegung des Sich-dem-Objekt-Überlassens geht so weit, bis die Präsenzeffekte eines traumatischen Einschlags spürbar werden: die Tiefe der Wunde, „eine Dunkelheit in den Knochen“ (Auster 2014, 115), „[n]ichts mehr sagen zu können“ (ebd., 119). Dem Ort der väterlichen Karenz zu nahegekommen, reißt das literarische Sprechen Austers ab und mündet in die Leere zwischen den einzelnen Fragmenten. Es ereignet sich hier, was Lacan im Seminar vom 17.2.1976 als „Verwirrung“ [l’embrouille] (Lacan 2017, 105) im Sinne einer verwirrenden Verstrickung in das Reale bezeichnet hat. Eine Verwirrung des Sprechens und Denkens, denn das, was sich hier offenbart, lässt sich nicht aufheben in die Strukturen der symbolischen Ordnung. Im Angsterleben vergegenwärtigt sich schmerzhaft intensiv das Nichts, die haltlose Leere und Unbestimmtheit als der Grund der eigenen Existenz. Lacanianisch gewendet ließe sich sagen: Es vergegenwärtigt sich eine präsentische Absenz. Die Angst resultiert demnach daraus, dem Ding zu nahegekommen zu sein und Einsicht erhalten zu haben in die Wahrheit, dass der Kern des Subjekts ein reiner Verlust ist – gerade die Trennung vom Absoluten in Gestalt eines substantiellen Kerns, den es so nie gegeben hat, findet sich so zur conditio humana selbst erhoben (vgl. Žižek 2005, 69). Diese erschütternde existentielle Erfahrung, dem Nichts in sich selbst zu nahgekommen zu sein – oder mit Adorno gesprochen, die Überwältigung des Subjekts durch den Vorrang des Objekts –, vermag Auster zu bewältigen, indem er das Schweigen in erneutes Sprechen umschlagen lässt und das Schreiben in Form eines neuen Fragments, eines weiteren Versuches der Annäherung fortsetzt. Auf diese Weise errichtet Auster, wie Joyce (vgl. Götzmann 2018, 378), einen Reparaturring aus Sprache. Er erschreibt sich einen Namen-des-Vaters – der nach dem Leitbild der Trickfotografie nicht gänzlich verworfen, wohl aber fragmentiert ist –, sucht ihn zusammenzusetzen zu einer inneren Anwesenheit. Gleichwohl, das Porträt, das Auster zeichnet, schließt in sich eine Abwesenheit ein, die schmerzlich präsent ist, und bleibt insofern fragmentiert, als die einzelnen Teile sich unversöhnlich aneinander stoßen. Danach trachtend, diese Abwesenheit in der Bewegung mimetischer Annäherung sprachlich einzuholen und somit eine Anwesenheit aus der Abwesenheit heraus zu schaffen – denn nur so ließe sich das Bild des Vaters vervollständigen –, gewinnt Austers literarisches Sprechen den Charakter eines fortschreitenden Begehrens. Eines Begehrens, das Austers Vater in seiner symbolischen Funktion nicht zu vermitteln in der Lage war, war er doch „[b]ar jeder Leidenschaft, weder für eine Sache noch eine Person noch eine Idee“ (Auster 2014, 13). Bezeichnend ist zudem, dass der Blick für Lacan mit dem Begehren zusammenhängt; der Blick des Vaters jedoch ist ein leerer Blick, er geht vorbei sowohl an den anderen Versionen seiner selbst auf der Trickfotografie als auch an seinem Sohn. Auf diese Weise aber mag der Vater paradoxerweise gerade doch ein Begehren zu evozieren: „Früheste Erinnerung: seine Abwesenheit. […] Spätere Erinnerungen: ein heftiges Verlangen.“ (ebd., 34) Wie das unbedingte Verlangen, angeblickt und damit Teil einer Beziehung zu werden, so schürt auch der aporetische Versuch, das Unsagbare zu sagen, das Begehren und nötigt Auster zu einer potentiell endlosen metonymischen Aneinanderreihung: „Wort für Wort“ (Lacan 2016b, 598), wie Lacan sagt, oder mit Blick auf Austers Schreiben, Fragment für Fragment.
Auffällig ist hierbei, dass Auster das Begehren, von dem sein Schreiben zeugt, nicht gänzlich zu affirmieren scheint – in dem Sinne, dass er nicht daran glaubt, seine Worte könnten ihren Gegentand treffen und das Begehren in der Vervollständigung des Porträts seines Vaters stillen. Im Gegenteil, vielmehr scheint er sich des Mangels seiner sprachlichen Möglichkeiten durchaus bewusst zu sein: „Gleich von Anfang an zu erkennen, dass dieses Projekt zum Scheitern verurteilt ist.“ (Auster 2014, 34) Insofern könnte man Austers literarisches Sprechen als ein negatives kennzeichnen: ohne die Illusion einer Erfüllung des Begehrens zu affirmieren, schreitet es fort, negiert ein Fragment bestimmt durch das folgende gemäß dem Muster ‚dies ist nicht der Wesenskern meines Vaters – dies auch nicht – und so fort‘. Und doch hat dieser negative Weg literarischen Sprechens etwas Rettendes: „So sinnlos diese Worte erscheinen mögen, haben sie doch zwischen mir und meinem Schweigen gestanden, das mich immer noch mit Schrecken erfüllt.“ (ebd., 100) Rettend ist dieses Sprechen aufgrund seiner potentiellen Unendlichkeit; das Sinthom Austers, das in einer dialektischen Pendelbewegung von mimetischer Annäherung eines negativen Sprechens einerseits und eines existentiellen Angsterlebens andererseits besteht, kennt keine Aufhebung. Dergestalt sind die Schnitte, Manifestationen des Nichts, eingespannt in jene Dialektik des Sinthoms: diese schützt vor dem Realen des Traumas, indem sie es gestattet, das haltlose Nichts wenn nicht zu fassen, so doch zu umranden und die Unfassbarkeit des Innersten seiner selbst durch Formulierung erträglich zu machen (vgl. Pazzini 2007, 57). Gleichwohl aber wird das Reale des Traumas nicht imaginär in Form von Phantasmen überformt, der Schmerz bleibt drängend, die Angst muss durchlebt werden. Vor diesem Hintergrund ließe sich das Sinthom Austers mit einem Wort Götzmanns als atmendes, lebendiges Sinthom beschreiben: „Das atmende Sinthom nimmt den Schmerz der symbolischen Kastration an und ist dennoch in der Lage, das Exzessive zu bewältigen.“ (Götzmann 2018, 381) Das Werk atmet den exzessiven Schmerz und die Frustrationen seines Autors. Zu atmen bedeutet demnach, sprechen bzw. schreiben zu können, ein neues Fragment zu beginnen und für den Moment gerettet zu sein vor dem Sturz in den Abgrund der Wortlosigkeit, der sich in der Angst auftut und an dessen Rand diese führt. Das Atmen des Sinthoms ermöglicht Auster so nicht nur, das Trauma zu verwinden, dass sein Vater die künstlerischen Ambitionen seines Sohnes, mithin dessen Andersartigkeit verworfen hat, sondern auch das existentiell konstitutive Trauma der „symbolischen Entwurzelung“ (Turnheim 2009, 63), nämlich als sprachlich konstituiertes Subjekt in Mangel, Leere, Nichts gegründet zu sein.
Liest man das Werk Austers auf diese Weise als Sinthom, so wird deutlich, inwiefern die künstlerische Produktion des Autors durch eine existentielle Notwendigkeit sich auszeichnet. Die Erfindung der Einsamkeit zu schreiben, das bedeutete für Auster, eine reparativ-synthetische Kraft zu entfalten, die den Zusammenhalt des fehlerhaften Knotens gegen den Eindruck retraumatisierender Belastungen sicherte. Mit anderen Worten: Die Kunst kompensierte eine traumatische Verletzung der Subjektstruktur, indem sie sich in ebendiese Struktur einflocht und dabei Einsicht in die conditio humana gewährte. Zugleich aber ging die Kunst in Form und stilistischen Eigenheiten erst aus jener Verletzung hervor. Andernfalls hätten sich vermutlich Reparaturversuche wie ein neurotisches Symptom oder ein Wahn eingestellt, im schlimmsten Fall hätte die Entknotung des Knotens in einen psychotischen Weltverlust geführt (vgl. Götzmann et al. 2016, 1151). Vor diesem Hintergrund mag es aufschlussreich erscheinen, dass Austers jüngere Schwester seit früher Kindheit unter psychischen Problemen litt, die eine „Serie von erschöpfenden Nervenzusammenbrüchen“ (Auster 2014, 42) nach sich zogen – ein Leiden, welches von ihrem Vater nicht anerkannt, sondern verleugnet wurde. Ihr hatte sich der Weg künstlerischer Entfaltung als Form der Rettung nicht geboten.
Darüber hinaus verdeutlicht dieses eigentümliche Lektüreverfahren, das Lacan in seinem Seminar zum Sinthom entwickelte, was Kunst über die menschliche Existenz bzw. Subjektivität zu offenbaren vermag: nach Lacan schafft sie einen Zugang zum Ding (vgl. Finkelde 2019, 137). Dieses wird nicht eigentlich sicht- oder erkennbar, wohl aber spürbar vergegenwärtigt. In Porträt eines Unsichtbaren begegnet das Ding im Sinne Freuds als Ding am „Nebenmensch[en]“ (Freud 1975, 337), als absolute Abwesenheit eines positiv benennbaren Wesenskerns des Vaters; im Buch der Erinnerung begegnet es als das Fehlen jenes unmöglichen substantiellen Kerns, das Auster, gespiegelt durch die Zäsur in seinem Werk, nunmehr in sich selbst entdeckt. In beiden Fällen ist diese Abwesenheit allzu präsent und ein existentieller Schmerz, evoziert durch die Erkenntnis des Mangels, verschafft sich dort Ausdruck, wo das literarische Schreiben im Schweigen versandet. Dergestalt mündet die Erinnerung Austers in eine Erfahrung, die im Sinne Lacans als „Ausdruck nicht-assimilierbaren Menschseins“ begriffen werden kann, d.h. als Erfahrung des „Verlustes dessen, was man nie gehabt hat“ (Finkelde 2019, 82). Diese Entdeckung gemacht zu haben, bedeutet gewiss nicht, die (Un-)Tiefen menschlicher Existenz vollumfänglich ausgeleuchtet zu haben – denn das, was sich als nicht-repräsentierte Erfahrung vergegenwärtigt, zeigt sich nicht in der Klarheit des Sagbaren. Die Suche, auf die sich Auster mit Die Erfindung der Einsamkeit begeben hat, erweist sich mithin als unabschließbare. Davon zeugen nicht zuletzt die Werke des Autors, die folgen sollten, so etwa das Double aus Winterjournal (2012) und Bericht aus dem Inneren (2013), die dafür stehen, dass Austers Schreiben weiterhin um die fundamentale Frage kreist, was es heißt, Mensch zu sein. Sie zeugen, in den Worten Austers selbst, davon, was es heißt, sich dieser Frage anzunehmen: „Besser scheitern – ja, so soll es sein. Man macht weiter – und scheitert besser.“ (Auster/Siegumfeldt 2017, 42)
Literaturverzeichnis
Adorno, Theodor W. (1998): Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Auster, Paul (2001): Disappearances – Vom Verschwinden. Übersetzt von Werner Schmitz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Auster, Paul (2014): Die Erfindung der Einsamkeit. Übersetzt von Werner Schmitz. 10. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Auster, Paul/Siegumfeldt, Inge Birgitte (2017): Ein Leben in Worten. Ein Gespräch mit Inge Birgitte Siegumfeldt. Übersetzt von Werner Schmitz und Silvia Morawetz. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt.
Benne, Christian (2007): „Was ist Autofiktion? Paul Nizons ‚Erinnerte Gegenwart‘“, in: Parry, C.; Platen, E.: Autobiographisches Schreiben in der deutschen Gegenwartsliteratur. Band 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. München: Iudicium, 293–303.
Cremonini, Andreas (2007): „Die verdeckte Ökonomie der Norm. Überlegungen zum Verhältnis von Symbolischem und Realem beim späten Lacan“, in: Bonz, J.; Febel G.; Härtel., I. (Hg.): Verschränkungen von Symbolischem und Realem. Zur Aktualität von Lacans Denken in den Kulturwissenschaften. Berlin: Kadmos, 130–150.
Eickhoff, Friedrich-Wilhelm (2005): „Über Nachträglichkeit. Die Modernität eines alten Konzepts“, in: Frank, C.; Hermanns, L.; Hinz, H. (Hg.): Jahrbuch der Psychoanalyse. Beiträge zur Theorie, Praxis und Geschichte 51, 139–157.
Fink, Bruce (2006): Das Lacan‘sche Subjekt. Zwischen Sprache und Jouissance. Wien/Berlin: Turia + Kant.
Finkelde, Dominik (2019): Slavoj Žižek zwischen Lacan und Hegel. Politische Philosophie – Metapsychologie – Ethik. Wien/Berlin: Turia + Kant.
Freud, Sigmund (1975): „Entwurf einer Psychologie“, in: ders.: Aus den Anfängen der Psychoanalyse: Briefe an Wilhelm Fliess. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887–1902. Frankfurt a.M.: Fischer.
Freud, Sigmund (1986): Briefe an Wilhelm Fließ. 1887–1904. Frankfurt a.M.: Fischer.
Götzmann, Lutz; Ruettner, Barbara; Schmiedl-Neuburg, Hilmar (2016): „Passionen des Realen in Lars von Triers Filmkunst“, in: Bohleber, W. (Hg.): Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 70/12, 1135–1157.
Götzmann, Lutz (2018): „James Joyce war (nie) in Baden-Baden – über das Gleichgewicht von Syphilis, Sinthom und Symbol“, in: Aebi Schneider, E.; Kittler, E.; Schlüter, S. (Hg.): Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 33/3, 364–383.
Kierkegaard, Søren (2005): Die Krankheit zum Tode, Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Der Begriff Angst. München: dtv.
Lacan, Jacques (2013): „Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale“, in: ders.: Namen des Vaters. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Wien/Berlin: Turia + Kant, 11–62.
Lacan, Jacques (2016a): „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse“, in: ders.: Schriften. Band 1. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Wien/Berlin: Turia + Kant, 278–381.
Lacan, Jacques (2016b): „Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud“, in: ders.: Schriften. Band 1. Wien/Berlin: Turia + Kant, 582–626.
Lacan, Jacques (2017): Das Sinthom. Das Seminar, Buch XXIII. Übersetzt von Myriam Mitelman und Harold Dielmann. Wien/Berlin: Turia + Kant.
Laplanche, Jean; Pontalis, Jean-Bertrand (1992): Das Vokabular der Psychoanalyse. Übersetzt von Eva Moldenhauer. 11. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhkamp.
Morel, Geneviève (2017): Das Gesetz der Mutter. Versuch über das sexuelle Sinthom. Übersetzt von Anna-Lisa Dieter. Wien/Berlin: Turia + Kant.
Nemitz, Rolf (2013): Kommentar zu Lacans Seminar Das Sinthom. Zur Sitzung vom 16. Dezember 1975. https://lacan-entziffern.de/sinthom/sitzung-vom-16-dezember-1975/.
Nemitz, Rolf (2014): Kommentar zur Lacans Vortrag Joyce das Symptom (I). https://lacan-entziffern.de/symptom/22028/.
Pazzini, Karl-Josef (2007): „Unsagbar, Unsäglich. Zumutungen des Realen. Reize fürs Symbolische“, in: Bonz, J.; Febel G.; Härtel., I. (Hg.): Verschränkungen von Symbolischem und Realem. Zur Aktualität von Lacans Denken in den Kulturwissenschaften. Berlin: Kadmos, 56–68.
Ricœur, Paul (1991): „The Hermeneutical Function of Distanciation“, in: ders.: From Text to Action, Essay in Hermeneutics II. Evanston, Illinois: Northwestern University Press, 75–88.
Ricœur, Paul (2005): „Was ist ein Text?“, in: ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), 79–108.
Sonderegger, Ruth (2011): „Essay und System“, in: In: Klein, R.; Kreuzer, J.; Müller-Doohm, S. (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler, 427–430.
Turnheim, Michael (2009): Mit der Vernunft schlafen. Das Verhältnis Lacan – Derrida. Zürich/Berlin: diaphanes.
Widmer, Peter (2016): Die traumatische Verfassung des Subjekts I. Das Körperbild und seine Störungen. Wien/Berlin: Turia + Kant.
Žižek, Slavoj (1991): Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin: Merve.
Žižek, Slavoj (2005): Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Über den Autor
Maximilian Thieme ist Student der Philosophie, Soziologie und Germanistik (Masterstudium) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Interessen- und Forschungsschwerpunkte liegen hier im Bereich der Psychoanalyse, insbesondere der Jacques Lacans, der Sprachphilosophie des französischen Poststrukturalismus sowie der Kritischen Theorie. Außerdem ist er Mitglied der Arbeitsgruppe „Lacan im Norden“.
Verwandte Beiträge
Anmerkungen
-
Vgl. etwa Lacans Vortrag Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale von 1953 im Rahmen der sogenannten ersten wissenschaftlichen Mitteilung der Société française de psychanalyse (Lacan 2013, 11–61).
-
Zugleich erfüllt der Name-des-Vaters eine linguistische Funktion, indem er das Differentielle in das Gefüge der Signifikanten einführt und so das nichtpsychotische Funktionieren von Sprache gewährleistet.
-
Der Begriff der Ex-sistenz wird von Lacan explizit mit dem Register des Realen assoziiert. Diese Zuständigkeit des Realen für die vom borromäischen Knoten her gedachte Ex-sistenz verweist nach Morel auf Lacans Bestreben, dem Realen einen positiven Wert zu verleihen. Die negative Dimension der Bestimmung aber, so Morel weiter, bleibe in der Formulierung Lacans trotz allem erhalten: Ex-sistenz gemahnt an die Bestimmung des Realen als „l’expilsé du sens“, dem „vom Sinn Ausgestoßenen“, wie Lacan es während vieler Seminare wiederholte (vgl. Morel 2017, 90).
-
Den Fall einer vollständigen Kontinuität von Imaginärem, Symbolischem und Realem beschreibt Lacan im Seminar vom 16. Dezember 1975 etwa als paranoische Psychose.
-
Bemerkenswert ist am Fall Joyce nicht die Tatsache eines solchen Grundfehlers schlechthin – denn die Verknüpfung der Register R, S, I ist im Normalfall keineswegs idealtypisch, sondern eher „schlampig“ (Turnheim 2009, 61) und also einer Korrektur bedürftig. Bemerkenswert ist für Lacan vielmehr Joyces Umgang mit dem Grundfehler seines Knotens, dessen Stabilisierung eng mit der Eigenart des Werkes des Schriftstellers verbunden ist (vgl. ebd.).
-
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Buchcover, auf welches hier referiert wird, nicht um das der Originalausgabe handelt. Gleichwohl findet sich die angesprochene Trickfotografie auch auf dem Cover der englischsprachigen Originalausgabe; vgl. Paul Auster (1982): The Invention of Solitude. New York: Sun Publishing. Ferner sei angemerkt, dass dieser Artikel mit der deutschen Übersetzung von Werner Schmitz arbeitet.
-
Wie bei Ricœur, so verwandelt sich auch bei Lacan nicht ausschließlich der Autor, sondern auch der Leser, dessen neurotisches Unbewusstes von den vergegenwärtigten Erfahrungen des Schmerzes oder Schreckens im rezipierten Werk affiziert wird – so wird der Leser nach seiner Lektüre in gewisser Weise ebenfalls verwandelt, sich selbst ein anderer sein.
-
Hier deutet sich eine gewisse Nähe von Nichtidentischem und Sinthom an (vgl. Nemitz 2014). In seinem Vortrag Joyce, das Symptom spricht Lacan vom Sinthom als dem, „was bei jedem Individuum einzigartig ist“ (Lacan 2017, 189). Diese Einzigartigkeit oder Alterität teilt es mit dem Nichtidentischen Adornos: Das Sinthom widersetzt sich ob seines realen Anteils dem Symbolischen, d.h. dem Allgemeinen und ist der Signifikantenkette sowie den aus dieser resultierenden Sinneffekten nicht oder nur teilweise assimilierbar. Man könnte demnach sagen, das Sinthom sei das Nichtidentische, das sich in Austers Werk bekundet, etwa in Form einer Entzogenheit dessen, was Worte zu treffen versuchen, ohne es zu können, oder indirekt in Widersprüchen, die dem Werk innerlich sind. Das so verstandene Nichtidentische jedoch ist nicht Sache des Realen allein: das sinthomale Trauma steht maßgeblich für den realen Anteil des Sinthoms, das Nichtidentische für den vierten Ring, die sinthomale Struktur als Ganze.
-
Dies kann gleichermaßen von einer sinthomalen Analyse, die in der Lektüre eines Werkes auf nicht-repräsentierte Präsenzeffekte eines Realen fokussiert, behauptet werden. In gewisser Weise folgt auch sie den Strukturen des Objekts und ordnet ihre Begriffe und Philosopheme konstellativ um jenen nicht assimilierbaren Kern des Werkes, der sich der Symbolisierung entzieht, herum an. Die mimetische Annäherung an den Gegenstand muss sich jedoch dagegen verwahren, ganz in der Hingebung an das Objekt aufzugehen und dieses lediglich zu affirmieren. Soll das Reale in seiner Unfassbarkeit durch Formulierung umrissen werden können, so ist es daher notwendig, neben aller Annäherung stets auch ein Maß an Distanzierung zu gewährleisten. Diese Distanzierung ergibt sich aus dem psychoanalytischen Umgang mit dem Realen, d.h. durch eine nachträgliche Konstruktion, die ihren Ausgang von Aporien in der Sprache des Werkes nimmt, welche auf die Präsenz des Realen im Symbolischen verweisen (vgl. Fink 2006, 54).
-
Widmer (2016, 21) verweist diesbezüglich darauf, dass Lacan den existenzphilosophischen Begriff von Existenz teilt: Wie der Mensch Kierkegaards, so ist auch das Subjekt Lacans in seiner sprachlich konstituierten Struktur ein offenes Werden, d.h. in sich nichts Substantielles, sondern eben ein Nichts; wie der Mensch Heideggers, ontologisch angesprochen als Dasein, als existierender aus der Um-Welt des begegnenden Seienden heraussteht, so steht auch das Subjekt Lacans heraus aus der natürlichen Ordnung, deren Unmittelbarkeit verlorengeht, da sich das Symbolische über das Reale legt.