Andrea Mura
Islamische Wiedergeburt und die Politik der Globalisierung aus Lacan’scher Perspektive
Pieter Lastman: Die Verstoßung der Hagar
1612, Öl auf Eichenholz, 48 x 71 cm, Hamburger Kunsthalle
Der politische Kontext einer islamischen Wiedergeburt
Dass islamistische Organisationen wie al-Qaida und der Islamische Staat (IS) zur Jahrtausendwende derart prominent auf die Bühne der Weltpolitik getreten sind, hat – so der Eindruck vieler Beobachter – zu einer irritierenden Problematik geführt, sowohl hinsichtlich des an sich triumphalen Narrativs vom Ende der Geschichte, das sich im Anschluss an den Kalten Krieg entwickelt hatte, als auch hinsichtlich einer Fantasie des Westens von Kontrolle, Herrschaft und der Möglichkeit, die Wirklichkeit grundlegend zu repräsentieren.
Allerdings wurden schon vor der Jahrtausendwende Diskurse, die den Islam als Zentrum des politischen und gesellschaftlichen Lebens betrachteten, zu wesentlichen Bestandteilen der politischen Szene der postkolonialen Welt und gewannen über die staatlichen Grenzen hinaus Einfluss auf die Weltpolitik. Diese internationalen Auseinandersetzungen wurden jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer noch durch die beiden verfeindeten Blöcke des Kalten Krieges geprägt, insbesondere durch die anti-hegemonialen Ansprüche des Kommunismus.
Der Einbruch des Islamismus als globales Schreckgespenst ereignete sich exakt in dem Moment, in dem dieses Blocksystem zusammenbrach und der neoliberale Diskurs sich als siegreiches Narrativ vom Ende der Geschichte in Szene setzen konnte. Das Erscheinen dieses neuen Akteurs in Gestalt des Islamismus zerstörte mit einem Schlag und unwiderruflich die post-ideologische Illusion einer kosmopolitischen Zukunft des Friedens und der Prosperität, in der sich soziale und internationale Spannungen durch konsensorientierte Verfahren schlichten lassen. Islamistische Diskurse traten tatsächlich als Modalitäten einer politischen Repräsentation auf, die sich in den dramatischen Ereignissen zu Beginn des neuen Jahrtausends manifestierten: von den Terrorattacken islamistischer Gruppen in New York, London, Madrid, Paris sowie in Städten in Asien und dem Mittleren Osten bis hin zur permanenten Instabilität und Gewalt in der israelisch-palästinensischen Region.
Das Bedürfnis, sich mit diesem neuen islamistischen Gespenst auseinanderzusetzen, stimulierte Versuche, das akademische Wissen über den Islam zu vertiefen. Solche Versuche haben jedoch bisher oft nur alte Klischees und Grundsatzfragen reproduziert. Hier bietet die heutige Psychoanalyse Erklärungsansätze, die für den Diskurs über den Islam und für das Verständnis seiner politischen und sozialen Manifestationen eminent wichtig sind. Glücklicherweise sind aktuelle psychoanalytische Arbeiten über den Islam vor kurzem auf Deutsch erschienen, dabei handelt es sich insbesondere um den zuerst 2002 auf Französisch erschienenen grundlegenden Essay Psychoanalyse des Islam des aus Tunesien stammenden Psychoanalytikers Fetih Benslama, der seine psychoanalytischen Erfahrungen in einem Beratungszentrum in den Pariser Banlieus gewinnen konnte (Benslama 2017a). In einer kleineren Schrift über die Identitätsbildung islamischer Jugendlicher vertritt Benslama dezidiert die psychoanalytisch-sozialwissenschaftliche Position, die Psychoanalyse sei dafür geeignet, „mittels der Erkenntnisse aus (…) klinischen Untersuchungen Anhaltspunkte zu gewinnen, um die kollektiven Kräfte der Gegenzivilisation im Herzen des zivilisierten Menschen und seiner Moral zu erforschen.“ Das Ziel dieser Erforschung, so Benslama, könne darin liegen, „Möglichkeiten der Gewaltfreiheit denkbar werden zu lassen“ (Benslama 2017b, S. 13).
Im Folgenden werden verschiedene Strömungen des heutigen Islam aus psychoanalytischer Sicht dargestellt, und in einer kritischen Auseinandersetzung mit Benslama werden die kreativen und produktiven Aspekte aktueller islamischer Strömungen diskutiert.
Von friedlichen Reformen zum bewaffneten Widerstand – und die Bedeutung des Islam als Herrensignifikant
Als Islamismus lässt sich das religiöse und politische Projekt eines sich bekennenden al-Islamiyyun bezeichnen; dieser Begriff wird in der Regel mit Islamist übersetzt wird. Er teilt sich mit al-Muslimun („Muslim“) die Wurzel Islam (s-l-m). Muslime sind diejenigen, die sich zur Deklaration des islamischen Glaubens bekennen: „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Muhammad ist sein Prophet.“ Der Begriff Islamisten hingegen trifft auf diejenigen Muslime zu, welche die Vormachtstellung des Islam wiederherstellen wollen. Anders als vergleichbare Erneuerungsbewegungen zielt der Islamismus jedoch nicht nur darauf ab, religiöse Gefühle dadurch zu revitalisieren, dass diesen Gefühlen eine substantielle Rolle zugeschrieben wird und das Leben der Gläubigen mit sinnhafter Bedeutung versehen wird. Das Auffällige an dieser religiösen Revitalisierung ist, dass der Islam zu einem Grundstein der politischen und sozialen Ordnung werden soll.
Wie kann man sich nun diesem komplexen Universum annähern, das sich aus einer Vielzahl von Ideen, Pamphleten, organisatorischen und legislativen Maßnahmen wie auch aus einzelnen Anhängern, aus sozialen Bewegungen, Institutionen und Parteien zusammensetzt? Der Rückgriff auf den Diskurs bietet hier ein nützliches Werkzeug, mit welchem sich die inhärente Komplexität dieses religiösen und sozio-politischen Phänomens zumindest in Ansätzen erklären lässt. In Ernesto Laclaus Begrifflichkeit bildet der Diskurs eine „strukturierte Totalität, die sowohl linguistische wie nicht-linguistische Elemente artikuliert“ (Laclau 2006, S. 13).
Laclaus Ansatz folgend weist der islamische Gelehrte Sayyid dem Islam die diskursive Funktion eines Lacan’schen Herrensignifikanten zu. Damit geht es um eine Art Knotenpunkt, durch Bezug auf den sich ein Diskurs anhand bestimmter Verknüpfungen näher beschreiben läßt und der Prozess der Signifizierung sich entfalten kann. Wie Sayyid hervorhebt, repräsentiert der Islam das zentrale Element in einer Pluralität von Diskursen, etwa des Diskurses der Rechtsprechung (fiqh), der islamischen Theologie usw. (Sayyid 1997, S. 47). In diesem Sinne übernimmt der Islam als zentrales Diskurselement die Funktion eines Knotenpunktes, wobei dieser sowohl rückwirkend wie prospektiv die gesamte Palette an Signifikanten organisiert, die sich in den entsprechenden Diskursen niederschlagen (vgl. Lacan, 1997, S. 316 ff.), d.h. der Ausdruck Herrensignifikant verkörpert die Fähigkeit des Knotenpunktes, eine Kette von Signifikanten zu ordnen und den Elementen, welche diese Kette enthält, einen Sinn zu verleihen.
Lacans Begriff des Knotenpunktes ist vor allem deshalb nützlich, weil ein Knotenpunkt seine hegemoniale Bestrebung in einem Kontext der sozialen und diskursiven Auflösung behaupten und damit die gesamte Gesellschaft repräsentieren kann. Jedenfalls vermittelt diese Art diskursiver Organisation die Illusion eines Referenten, der eine Signifizierung religiöser, politischer und sozialer Prozesse ermöglicht.
In einem höchst instabilen, durch den Kolonialismus geprägten Szenario und unter dem Einfluss einer ausgeprägten Schwächung muslimischer Strukturen im frühen 20. Jahrhundert spielten der Niedergang des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg, sodann die Verbreitung nationalistischer Diskurse – in Gestalt lokaler Nationalismen, des Pan-Arabismus und des Kemalismus – und schließlich die Abschaffung des Kalifats im Jahr 1924 eine entscheidende Rolle.
Insbesondere das Ende des Kalifats bezeichnete das traumatische Eindringen nationalistischer Diskurse in die islamischen Regionen und Länder, wobei das traditionelle Ethos eines islamischen Universalismus nun von lokalen und auch rassistischen Darstellungen von Raum und Gesellschaft unwiderruflich herausgefordert wurde. Ein lebendiger und kreativer Gebrauch von Tradition hatte die Institution des Kalifats geprägt. So war dessen symbolische Rolle über Jahrhunderte zentral gewesen, diese hatte die muslimische Einheit garantiert und als letzter Bezugspunkt der politischen Legitimation funktioniert. Es ist darum nicht überraschend, dass sich 1924, als das Kalifat abgeschafft und das Osmanische Reich durch die Republik Türkei ersetzt wurde, in der muslimischen Welt ein Gefühl der Angst ausbreitete.
In Ägypten führte die anhaltende Präsenz der Briten dazu, dass sich die politischen Ideologien und Praktiken über das gesamte politische Spektrum hinweg radikalisierten. In diesem Kontext gründete der Lehrer Hassan al-Banna (1906–1949) im Jahr 1928 die Muslimbruderschaft als eine Organisation, die soziale Wohlfahrt betrieb und moralisches Verhalten förderte. Bald zog es die Muslimbruderschaft in die Politik, wo sie explizite Ziele verfolgte, die auf die Affirmation des Islam als Herrensignifikant einer reformierten ägyptischen Gesellschaft hinausliefen. Die Kombination aus Wohlfahrt und Glaube, die zunehmend autoritäre Haltung des Regimes und die Diskreditierung der nationalistischen Bewegung, der Wafd, machte diese Bruderschaft bald zur größten politischen Organisation Ägyptens.
Trotz ihrer Rhetorik war die Muslimbruderschaft keine Erscheinung des traditionellen oder orthodoxen Islam. Im Gegenteil, sie war ein erstklassiges Beispiel für eine moderne politische Organisation: Sie berief sich auf die Masse, war populistisch, wurde hauptsächlich durch die städtische Mittel- und Unterschicht unterstützt und begrüßte religiöse Reformen. Zudem konzentrierte sich die Bruderschaft auf Ägypten – sie wollte in erster Linie die ägyptische Politik reformieren und nicht die weltweite islamische Gemeinschaft. In diesem Sinne kämpfte sie für die ägyptische Unabhängigkeit.
In den 50er und 60er Jahren vollzog die Muslimbruderschaft jedoch eine radikale Wendung. Nachdem sie Nasser zur Macht verholfen und sein Regime gefestigt hatte, wurde sie nicht nur durch den Staat unterdrückt, sondern auch durch den arabischen Nationalismus marginalisiert. Diese Politik radikalisierte die Bruderschaft, wie die Geschichte des muslimischen Theoretikers und Kämpfers Sayyid Qutb (1906–1966) zeigt, welcher der Bruderschaft im Jahre 1951 beigetreten war. Unter Nasser 1954 verhaftet und 1966 hingerichtet, erlebte Qutb im Gefängnis die Härte von Nassers Unterdrückung. Dort schrieb er seine wichtigste Abhandlung, Meilensteine. Für Qutb war die zeitgenössische Verderbtheit so tief, dass er der Gesellschaft einen Zustand des jahiliyya attestierte (was in etwa mit „prä-islamische Ignoranz gegenüber Gott“ zu übersetzen ist) und er sie in ihrer Gesamtheit verwarf. Sie bedurfte seiner Ansicht nach einer radikalen Überholung ‚von oben‘.
Diesem Trend folgte das Aufkommen weiterer Bewegungen in den folgenden Jahrzehnten, die nicht nur die heimischen Regimes in ihr jihadistisches Fadenkreuz nahmen, sondern zudem auch die ausländischen Akteure, welche diese Regimes unterstützten, vor allem die „Sponsoren“ und nicht nur die „Gesponserten“, wie Osama bin Laden (1997) einst forderte. Daraus entwickelte sich eine transnationale und jihadistische Form des Islamismus, die sich zunehmend mit der Ummah (mit der muslimischen Gemeinschaft) in ihrer globalen Dimension befasste und die ihre politische und militante Manifestation in der World Islamic Front fand, die bin Laden im Jahre 1998 gründete.
Man sollte jedoch nicht meinen, dass der einzige bzw. dominante Transfer des Islam in die Politik ein grundsätzlich gewaltsamer war. Tatsächlich haben im Mittleren Osten und auch anderswo islamistische Gruppen, die weder gewalttätig noch besonders radikal waren, politische Bekanntheit und sogar Macht erlangt.
In Jordanien und Marokko zum Beispiel wurden Islamisten in einen politischen Prozess integriert, der durch eine autoritäre Monarchie gelenkt wird. In Ägypten bildeten die Islamisten seit 1970 die einzig glaubwürdige durch die Massen gestützte Opposition gegenüber einem autoritären Regime. Das Entstehen dieser komplexen Bandbreite an islamistischer Politik wurde zwar bis heute von äußeren politischen Einflüssen auf den Nahen und Mittleren Osten stimuliert, aber auch vom Versagen des Arabismus, eines entwicklungsorientierten Nationalismus und von autoritären Regimen, die über die gesamte Region verteilt sind.
Insofern bedeuten die arabischen Aufstände für das politische Gleichgewicht in der Region eine radikale Herausforderung; sie haben es sowohl der ägyptischen Muslimbruderschaft wie der tunesischen Nahda Partei ermöglicht, in diesen Ländern die ersten demokratisch abgehaltenen Wahlen zu gewinnen.
Dieser Verband aus lokalen, regionalen und internationalen Akteuren war jedoch nicht in der Lage, den zumindest partiellen Erfolg der Transformation osteuropäischer Staaten zur Demokratie zu wiederholen. Im Gegenteil: Zu den wichtigsten Entwicklungen, die sich im Sog des Arabischen Frühlings abzeichneten, muss das Auftauchen der ISIS gezählt werden.
Diese Organisation entwickelte sich aus der Neugruppierung des Islamischen Staates von Irak (ISI), der nach und nach verschiedene Gruppen einschließlich der al-Qaida vereinte, Gruppen, die – seit der von den USA geführten Invasion von 2003 – im Irak operierten. Unter Führung von Abu Bakr al-Baghdadi, einem sunnitischen Geistlichen, der behauptet, vom Propheten Mohammed abzustammen, hatte der IS bekanntlich zunächst weite Gebiete erobert, vom Norden Syriens bis nach Nord- und Zentralirak, wobei er diese Regionen als Teile des neuen Islamischen Staates von Irak und Syrien bezeichnete und den Anschluss anderer islamistischer Gruppen und arabischer Stämme einforderte. Die arabische Bezeichnung der Bewegung lautet Al-Dawla Al-Islamiya fi al-Iraq wa al-Sham, die arabische Abkürzung ist DAIISH.
Der Eindruck eines Staates wurde durch die Etablierung einer institutionellen Plattform und das Angebot sozialer Dienste unterstützt, aber auch durch die Art und Weise, wie der DAIISH Filmbearbeitungstechniken für Terror- und Propagandavideos einsetzte und wie er die Expansion der Bewegung durch militärische Operationen vorantrieb. Symbolische Ziele waren die Voraussetzung, um das Image des DAIISH auszubauen. Jedenfalls vermochte der DAIISH, westliche Ängste zu schüren, etwa durch das Verbreiten von Videos, die grausame Enthauptungen zeigten. Oder es wurden Trailer veröffentlicht, die sich stilistisch an Hollywood-Action-Filmen orientierten, etwa in Form von Explosionen in Zeitlupe oder mit kinematografischen Titeln wie „Flammen des Krieges: Der Kampf hat erst begonnen“. Durch das Stimulieren unbewusster Ängste, wie dies für das Hollywood-Kino typisch ist, kreierten diese Propagandatechniken eine Vermischung aus Fiktion und Realität. Eine andere symbolische Geste war, wie ein Bulldozer durch den syrisch-irakischen Grenzzaun fuhr. Damit sollte symbolisiert werden, dass die in einem französisch-britischen Abkommen von 1916 festgelegte Sykes-Picot-Grenze nun niedergerissen wurde. Die Aktion zielte klar darauf ab, die von europäischen Mächten konstruierte staatliche Ordnung zu verwerfen und die Idee eines vorkolonialen Territorialitätsprinzips bzw. die pan-islamischen Vorstellung des Kalifats zu erneuern (Ruthven 2014). Eine noch radikalere Geste – in der Geschichte der islamistischen Bewegungen neuartig und kontrovers – war die Entscheidung vom 29. Juni 2014, die Deklaration der islamischen Dawla auf die Proklamation einer Wiederherstellung des Kalifats auszuweiten.
Psychoanalyse und die Herausforderung des Islamismus
In seinem provokativen Essay Psychoanalyse des Islam verknüpft Fethi Benslama das Auftauchen des Islamismus mit der fortschreitenden Aushöhlung traditioneller Vorstellungen, die sich aus dem Zusammenstoß des Islam mit der westlichen Moderne ergeben (Benslama 2017a).
Benslama identifiziert zwei wesentliche Ansprüche, die seine Generation von Muslimen im Tunesien der 1960er Jahren erhob. Erstens der Anspruch, jemand anderes zu sein – anders als der Westen, der die islamische Tradition durch seine Werte und Vorstellungen ersetzt oder sie in einer modernen, westlich geschulten Sprache re-artikuliert hatte. Zweitens der Anspruch auf Authentizität, der, wie Benslama sagt, mit der Verzweiflung, ein Selbst zu sein, einherging. Was gefordert wurde, war eine gezielte Rückkehr zum Ursprung, zur Wahrheit von islamischem Gesetz und Tradition, zu den imaginär-schützenden Koordinaten der Religion:
„Die Qual der Quelle ist zunächst das Symptom einer Zementierung der traditionellen Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Gesetz (haqiqa und chari’a), die das Subjekt einem Exzess des Realen und des Genießens überlässt, der ihm Angst macht, da es ihm nicht gelingt, in seinem imaginären und alten symbolischen Universum etwas zu finden, das den Exzess eindämmen kann. Daher der Rekurs auf den Ursprung in der Hoffnung, den Schutzschirm der religiösen Illusion wiederherstellen zu können.« (Benslama 2017a, S. 47)
In dieser Passage steht das Reale (im Lacan’schen Sinne) in Opposition zum Imaginär-Symbolischen, und zwar als Bereich dessen, was außerhalb der Symbolisierung abläuft (Lacan 2013, S. 11 ff.). Es ist diese mysteriöse, traumatische Macht, die alptraumhafte Erscheinung, die das Symbolische der Sprache überschreitet und uns daran erinnert, dass es unmöglich ist, einen grundsätzlich vorhandenen, in diesem Sinne konstitutiven Mangel auszugleichen (Žižek 2014, S. 26). Im Zentrum von Benslamas Argumentation steht nun die besondere Verbindung, welche die symbolische Struktur mit der sog. Jouissance herstellt, d.h. mit einem Genießen, auf dessen Grenzenlosigkeit wir verzichten müssen, sobald wir die symbolische Ordnung betreten.
Hier sollte ein grundlegender Unterschied zwischen der „phallischen“ und der „weiblichen“ Jouissance bedacht werden. Erstere lässt sich als eine Macht verstehen, welche die Struktur der Lust und ihre symbolische Ökonomie unterstützt. Dies bedeutet einerseits, dass eine homöostatische Begrenzung für die körperliche Lust gesetzt wird, damit diese für das Subjekt erträglich bleibt. In ödipaler Hinsicht entstehen ein Verbot und das Begehren, dieses Verbot zu überschreiten (vgl. Lacan 2016, S. 231 ff.). Im Seminar XX, Encore, beschreibt Lacan eine zweite, weibliche Form der Jouissance, die nicht phallisch gesetzt ist und sich der Symbolisierung, dem Wissen und Begehren entzieht (Lacan 2015, S. 10 und 43 ff.). Mittels der Untersuchung mystischer Figuren bezieht Lacan eine solche weibliche Jouissance paradigmatisch auf Gott.
Man kann nun die These vertreten, dass der Islam den realen Exzess Gottes im Grunde als weibliche Jouissance bewahrt. Gott bleibt im Gebiet des Unmöglichen-Realen erhalten, d.h. in einem Gebiet jenseits einer symbolischen Funktion des Vaters. Im Gegensatz dazu könnten Judentum und Christentum als frühe Versuche aufgefasst werden, eine solche Unmöglichkeit innerhalb der stabilisierenden Grenzen der Symbolisierung unterzubringen. Gott wurde in einem solchen Ausmaß mit der väterlichen bzw. familiären Logik verbunden, dass das Judentum als Religion des Vaters und das Christentum als Religion des Sohnes definiert wurde (Hirt 1984, S. 11).
Diese patriarchale Ordnung fand ihre institutionelle Repräsentanz in der Abstammungslinie von Abrahams Sohn Isaak, welcher der Ehe zwischen Abraham und seiner Frau Sarah, der Hebräerin, entstammte und damit Anspruch auf das uneingeschränkte Erbe Abrahams hatte (Genesis 21:10-12). In der Bibel war es Isaak, der von Gott auserwählt wurde, das Bündnis mit Abrahams Nachfahren zu schließen, und Isaak war es, der die jüdische Genealogie gründete (Genesis 17:19-21).
Der Bezug zu Isaak, den Gott mit diesem Bündnis institutionalisierte – durch die Beschneidung und den Gehorsam vor dem Gesetz –, erlaubte es den Juden, Abraham als symbolischen Vater der Gemeinschaft anzunehmen. Dadurch wurde Abraham zur „phallischen Lösung der väterlich-symbolischen Autorität, der offiziellen symbolischen Abstammungslinie“ (Žižek 2006a). Die primäre Unmöglichkeit Gottes wird zu einem Unmöglichen-Realen, das der symbolischen Aneignung unterworfen wird.
Im Gegensatz dazu feiert die islamische Tradition die Verbindung mit Ishmael, dem Sohn des Abraham, den dieser mit Sarahs ägyptischer Dienerin Hagar zeugte. Sarahs eifersüchtigen Forderung folgend, entschloss sich Abraham, Hagar und ihren Sohn Ishmael in der Wüste auszusetzen, wodurch er diesem Sohn das Recht auf das Erbe nahm. Obwohl Gott Hagar versprochen hatte, Ishmael zum Gründer einer großen Nation zu machen, ist Ishmaels Aussetzung und sein Ausschluss von Abrahams Erbe ein Hindernis für Abrahams symbolische Rolle als Vater. Was hervorgehoben werden muss, ist die ursprünglich fehlende Funktion des Vaters im Islam, die mit Ishmaels biblischer Aussetzung in der Wüste bestens verdeutlicht wird. Ein ähnliches Schicksal findet sich übrigens bei Mohammed, dem Begründer des Islam, der ein Waise war. Im Gegensatz dazu spielen weibliche Figuren im Islam ursprünglich eine große Rolle, wie eben auch Hagar, die nicht-jüdische Frau.
In Benslamas Essay verkörpert Hagar die Stammmutter des Islam, die weibliche Fremde, die durch die Geburt Ishmaels die islamische Gemeinschaft überhaupt erst ermöglichte. Hagar verkörpert in der islamischen Tradition gewissermaßen die reine weibliche, mystische Jouissance. Paulus verweist zum Beispiel darauf, dass Hagar Gott sehen und mit ihm sprechen konnte. Sie kannte Gott, nannte diesen beim Namen und vermochte, körperlich gesprochen, eine verführende und strotzende Kraft auszudrücken, die eine Nachkommenschaft jenseits der symbolischen Kastration erlaubte und somit über einen Zugang zum Verborgenen, Göttlichen, Entgrenzten verfügte (Benslama 2017a, S. 174).
Deswegen wurde der Islam aus der exzessiven Macht heraus gegründet, die durch Hagars weibliche Jouissance in ihrer unmittelbaren Beziehung zu Gott verkörpert ist. Und Gott wiederum wird im Bereich des Unmöglichen gehalten, weil es keine phallische Lösung gibt, um die Beziehung zwischen Mensch und Gott vor dem Hintergrund einer väterlich-symbolischen Autorität zu organisieren. Der Koran fordert, dass Allah eben nicht der Vater sei, da die Einzigartigkeit Gottes jede Art von göttlicher Zeugung, Abstammung und Genealogie ausschließe, selbst wenn diese symbolisch wäre:
„Sprich: Er ist Gott, (der) Eine; der unabhängige Meister, den alle Wesen brauchen; Er hat kein Kind gezeugt, noch wurde er gezeugt; und niemand ist mit ihm vergleichbar“ (Qur’an 112:1).
Benslama verweist darauf, dass der Islam ursprünglich der fruchtbaren und exzessiven Energie einer weiblichen Jouissance ausgesetzt war, diese subversive Kraft jedoch zunehmend einer ethischen, gesetzlichen und theologischen Ordnung unterworfen und durch die phallische Organisation eines signifizierenden Universums entschärft bzw. strukturiert wurde. Diese Entwicklung führte zur „Auslöschung der Stammmutter“ und zu ihrer Reduktion auf eine „Vermittlerin, die körperlich die Form des Vaters an den Sohn weitergibt“ (Benslama 2017a, S. 172). Das heißt, die Auslöschung Hagars war der Versuch, die exzessive Macht weiblicher Jouissance dadurch zu begrenzen, dass diese auf die symbolische Ökonomie eines sexuellen Vergnügens reduziert wurde. Daraufhin wurde auf der Grundlage männlicher Souveränität ein System von Gesetzen errichtet.
In dieser Lesart vermag jedoch im Grunde die weibliche Kraft der phallischen Symbolisierung zu widerstehen, es gelingt nie ganz, die exzessive weibliche Macht zu bannen bzw. auszulöschen. Insofern verfolgt das Gespenst der Frau das islamische Denken bis auf den heutigen Tag. Noch schlimmer, der Zusammenstoß mit der Moderne führte zu einer neuen, erschreckenden Exposition gegenüber dem Exzess der weiblichen Jouissance, entfesselte gleichermaßen die „traumatische-subversive-schöpferische-explosive Kraft weiblicher Subjektivität“ (Žižek 2006a). Für Benslama ist der Islamismus insofern Symptom einer „tiefen Erschütterung in der immer gefährlichen Beziehung zwischen dem Realen und den symbolischen Strukturen“ – eine Irritation, welche Islamisten mit ihrem „Ruf nach dem Schleier des Ursprungs“ zu bewältigen versuchen (Benslama 2017a, S. 324).
Islamistische Varianten einer Begegnung mit dem Realen
Benslamas (2017a) Schilderungen eines Zerfalls der traditionellen symbolischen Autorität des Vaters, den die Moderne mit einer erschreckenden Freisetzung des Realen herbeiführte, findet größte Resonanz in der aktuellen Debatte über einen paradigmatischen Wandel des Islam (Tort 2007). Dazu gehört die These, dass eher die Postmoderne als die Moderne für den Untergang des Ödipus verantwortlich sei, was bedeutet, dass die Postmoderne eine Epoche darstellt, „in der der paradigmatische Modus der Subjektivität nicht mehr in jenem Subjekt besteht, das durch die symbolische Kastration in das väterliche Gesetz integriert wird, sondern im ‚polymorph-perversen Subjekt‘, das dem Genussbefehl des Überichs Folge leistet“ (Žižek 2010, S. 338).
Ob nun die Tradition als Ort des väterlichen Gesetzes oder die Modernität als Vollendung der ödipalen Funktion betrachtet wird, im Prinzip entsprechen sich die Sichtweisen in einem wesentlichen Punkt, nämlich, dass die transzendente Funktion des Vaters unwiderruflich problematisch ist. Vor allem ergibt sich eine Krise des Begehrens: Ist die Kastration erst einmal suspendiert, hört das Begehren auf, eine Schlüsselmanifestation des Subjektes des Unbewussten zu sein (Recalcati 2010, S. X). Zwei Tendenzen widerspiegeln diese Suspendierung der Kastration: Erstens als narzisstische Verstärkung des Egos, die eine „feste Identifizierung“ herstellt (wodurch die subjektive Identität auf sterile Weise petrifiziert wird), und zweitens als „Gier zu genießen“, die versucht, jede symbolische Mäßigung zu umgehen (Recalcati 2010, S. X und 28). In diesem Szenario lässt sich die fundamentalistische Nähe zur Integrität und Reinheit als feste Identifizierung begreifen, die dem paranoischen Traum eines nicht-verschmutzten Selbst hinterherläuft.
Folgt man diesem theoretischen Ansatz, besteht das Risiko darin, dass die Komplexität des islamistischen Universums auf eine Art nostalgische Sehnsucht reduziert wird. Benslamas Lesart des Islamismus scheint diese Möglichkeit zu favorisieren. Er versteht den Islamismus als ultimativen Versuch, den Schutzschild der Illusion in einer Zeit wiederherzustellen, in welcher die symbolische Autorität des Vaters grundlegend erschüttert ist. Dem Islamismus wird ein traditionalistischer und nostalgischer Charakter attribuiert, für den das verzweifelte Streben nach dem Ursprung typisch ist. Traditionalistische und nostalgische Einstellungen der Islamisten werden somit hervorgehoben, während kompromissbereite und kreative, an der Moderne orientierte Strömungen innerhalb des Islam übersehen werden.
Insofern könnte Benslamas Ansatz dadurch bereichert werden, dass man die Vielzahl weiterer diskursiver Varianten berücksichtigt, die derzeit in der islamistischen Welt existieren. Kritisch gesehen, ist „die Krise des Symbolischen“, die Benslama skizziert, nicht besonders epochal: Das Symbolische steckt doch stets in Schwierigkeiten, indem es durch kontingente Ereignisse gestört wird, welche die zeitliche Fixierung von bestimmten Bedeutungen problematisieren und zwischen einzelnen Diskursen neue hegemoniale Konkurrenzkämpfe auslösen.
Ereignisse wie der Kolonialismus oder die Globalisierung bewirken zwar eine gewaltsame Umgestaltung unserer Vorstellungen, z.B. in Form einer Auflösung des engen Zusammenhangs von Wahrheit und Gesetz (haqiqa, sharia). Die Begegnung mit dem Realen, die solche Ereignisse implizieren, muss jedoch nicht zwangsläufig zu den „Qualen des Ursprungs“ oder einer verstörten, wahnhaften oder verzweifelten Haltung führen, die für Islamisten typisch sein soll. Natürlich funktioniert der Islamismus wie jedes andere diskursive Gebilde, indem er versucht, den Auflösungsprozess einer solchen diskursiven Dislokation zu nutzen, um das soziale Universum im Rahmen einer konter-hegemonialen Auseinandersetzung in seinem Sinne zu re-signifizieren. Andererseits kann die kreative Macht des Realen es ermöglichen, die Grenzen der symbolischen Organisation zu re-konfigurieren und die Situation des sozialen Zerfalls zu stabilisieren, indem ein neuer Herrensignifikant etabliert wird, der die Situation „lesbar“ macht (Žižek 2006c, S. 37).
Statt den Islamismus als feste Identifizierung zu betrachten, ließen sich islamistische Diskurse auch als distinkte Strömungen interpretieren, die sich in verschiedener Weise mit dem Phänomen der Auflösung auseinanderzusetzen. Man könnte diese Diskurse als verschiedener Wege verstehen, die alle, innerhalb ihrer jeweiligen symbolischen Ökonomie, die produktive Macht des Realen mobilisieren.
Grundlegend ist dabei der Gedanke, dass der Islamismus nicht (nur) versucht, eine solche symbolische Ökonomie auf der Basis eines anti-imperialistischen Widerstands wiederherzustellen, indem er sozusagen gezielt eine präkoloniale Authentizität verficht. Selbst in den Anfängen islamistischer Bewegungen strebten Gruppen wie die Muslimbrüder danach, symbolische Koordinaten zu re-artikulieren bzw. neu zu erfinden, wobei sie die Sprache der Kolonialisten übernahmen (Lia 1998, Mura 2015).
Weit entfernt davon, eine melancholische oder rigide Haltung gegenüber dem kulturellen und sozialen Wandel einzunehmen, haben viele dieser islamistischen Gruppen die zentrale Funktion des Begehrens aufrechterhalten und die Begegnung mit dem neuen, durch diesen Wandel evozierten Realen begrüßt, die Benslama als überwiegend verstörend und problematisch beschreibt.
Insofern sollte jede Evaluation der Art und Weise, wie der Islamismus den Bezug von Fantasie, Begehren und Jouissance organisiert, auch die positive Bestimmung des Realen hervorheben. Das Reale ist nicht nur das negative und traumatische Moment einer Zerrüttung des Symbolischen, sondern stellt vielmehr die exzessive Energie dar, die im Grunde der Idealisierung einer möglichen Beseitigung des Mangels entspringt (Glynos & Stavrakakis 2004). Aus dieser Perspektive präsentiert jeder Diskurs (z.B. der Diskurs des Nationalismus oder des Sozialismus) seinen Herrensignifikanten (z.B. die Nation, die sozialistische Gesellschaft) als einen leeren Signifikanten, der sowohl den Mangel als auch das lustvolle Versprechen seiner Erfüllung symbolisiert. Genau diese lustvolle Erregung, die mit dem Versprechen einhergeht, versuchen die verschiedenen Diskurse für ihre Zwecke zu mobilisieren, und es ist diese Erregung, welche auch die positive Charakterisierung des Realen indiziert.
Nun verkörpert der Islam – jedenfalls im diskursiven Universum des Islamismus – eben dasjenige Objekt, das in irgendeiner Weise einen Mangel impliziert: Alle Probleme lassen sich von diesem Mangel ableiten. Eine gängige Vorstellung islamischer Gruppen, die sich eine religiöse Renaissance erhoffen, besteht darin, dass der Islam – im Sinne eines leeren Signifikanten – im alltäglichen Leben der Muslime abwesend ist, d.h. dass er lediglich „schlafend in ihren Seelen ruhe“ (al-Banna 1935). Diese Abwesenheit des Islam gilt als wichtigste Ursache sowohl für die allgemeine soziale Ungerechtigkeit wie auch für die schwierige Lage, für die Malaise des Individuums. Im selben Zuge wird diese Abwesenheit durch bestimmte Fantasien positiviert: Alle Probleme wären gelöst, wenn der Islam wieder einen vitalen und ausgeglichenen Zustand erreichen würde. Daher rührt auch der äußerst populäre Slogan „Islam ist die Lösung“. Was diese Fantasie erstrebenswert macht, ist der Umstand, dass sie das Symbolische mit dem Realen in Form einer präsymbolischen Energie des Subjektes verbinden könnte.
Oft nehmen solche Fantasien die Form einer Stilisierung der Vergangenheit oder einer utopischen Visualisierung der Zukunft an. Wie bereits erwähnt, wird die nostalgische Variante oft als eigentliches Paradigma des Islamismus betrachtet. Benslama zufolge ist „die Melancholie die einzig mögliche Haltung in Erwartung des Jüngsten Gerichts, es sei denn, man stürzt sich in den Terror“. Und er fährt fort: „Die Islamistische Bewegung wäre dann eine Umkehrung des Messianismus, nämlich ein Antimessianismus aus Verzweiflung an der Zeit.“ (Benslama 2017a, S. 54)
Andere, vor allem reformorientierte Bewegungen vertreten eine innovativere Haltung gegenüber der Zukunft. Die Vergangenheit wird hier eher als ein Pool von Ressourcen begriffen, die eine positive Gestaltung der Zukunft ermöglichen. So beziehen sich etwa die Muslimbrüder oder die palästinensische Hamas auf die shura (Beratung) oder waqf (religiöse Stiftungen), um ihre parlamentarische Praxis zu legitimieren und das Konzept einer nationalen Territorialität zu islamisieren (Mandaville 2011).
Weitere Spielarten des Islam vertreten indes eine betont utopische Haltung. Aus der radikalen Perspektive Sayid Qutbs ist die islamische Gesellschaft „nicht nur ein Gebilde der Vergangenheit“, sondern vielmehr „eine Forderung an die Gegenwart und eine Hoffnung auf die Zukunft“ (Qutb 2006, S. 103). Die Melancholie der Vergangenheit wird hier mit einer avantgardistischen Konzeption der islamischen Gemeinschaft verknüpft. Aus diesem Grunde wird die Ummah als virtuelles Objekt im Sinne einer geistigen Verheißung gedeutet. Wie auf der Website von Hizb ut-Tahrir nachzulesen ist, verharrt die islamische Welt derzeit in einem Zustand des kufr (hier als „Ungläubigkeit“ zu verstehen). Insofern funktioniert die Ummah als ein utopisches Ideal, d.h. als Artikulation der Idee eines ‚Jenseits‘ bzw. eines ‚Danach‘, das sowohl als Gegenstand religiöser Fantasien wie der politischen Mobilisierung dient.
Andere islamische Diskursvarianten fordern unmissverständlich Wandel und Transformation, indem sie sich sowohl von der nostalgischen wie auch von der utopischen Position absetzen. Ein Beispiel dafür ist Shabbir Akhtars Votum für eine islamische Theologie der Befreiung. Hier geht es um die demokratische Befreiung der muslimischen Massen im Rahmen einer Politik, die mit Armut, Unterdrückung und Unrecht Schluss machen will, analog zu den Bestrebungen lateinamerikanischer Theologen. Weit entfernt von einer melancholischen Haltung, wird hier die libidinöse Besetzung explizit auf das machtvolle Eintreten für politische und emanzipatorische Ziele gerichtet:
„Unser Streben nach Macht ist genauso natürlich und instinktiv wie der Sexualtrieb. Die wahre Frage betrifft seine Regulierung. Denn alle Ideologien überleben mithilfe von Macht. Deswegen steckt ein – wenn auch frommer – Fehler in der Behauptung, die authentische religiöse Ambition könne es sich leisten, ‚die Angelegenheiten des Cäsars‘ nicht genügend ernst zu nehmen.“ (Akhtar 1991, S. 84)
Insgesamt besteht also eine sehr große Bandbreite von Diskursen innerhalb eines globalisierten und transnationalen Horizontes, die ihren Fokus entweder eher auf die Vergangenheit ausrichten oder ihre imaginative Energie in die Visualisierung eines zukünftigen Objekts des Begehrens investieren, d.h. in die Vorstellung einer zukünftigen islamischen Ära.
Komplexe Netzwerke von Websites, Chat-Foren, Boards usw. ermöglichen einen außergewöhnlichen Austausch von Informationen über alle möglichen Aspekte des muslimischen Lebens und eröffnen damit auch den Weg zu neuen Formen sozialer Beziehungen. Beispielsweise bietet die Website Muxlim eine virtuelle 3-D-Welt an, die aus digitalen Städten, Gebäuden, Parks usw. besteht und 2006 als islamische Alternative zu säkularen Virtual-World-Produkten lanciert wurde. Die muslimische Fantasie einer nicht-fragmentierten Ummah bildet hier eine Mikrowelt, in welcher das neue Cyber-Selbst den Traum einer absoluten Einheit und die ultimative Möglichkeit erfährt, traditionelle Spaltungen und Konflikte zu überwinden. Insofern ist Muxlim ein gutes Beispiel dafür, wie das Reale imaginär-symbolische Aktivitäten kreativ zu stimulieren vermag. Stavrakakis kommentiert diese Fähigkeit so:
„Außer den Verheißungen der Fantasie, die das Begehren unterhält, welches unsere Identifizierungen stimuliert, gibt es mindestens zwei weitere Dimensionen: unsere Fähigkeit, Grenzerfahrungen, die mit der Jouissance des Körpers verbunden sind, zu durchleben, und die Tatsache, dass das Begehren selbst eine Jouissance nach sich zieht – einen Genuss, der jenseits der Antizipation phantasmatischer Erfüllung liegt.“ (Stavrakakis 2005, S. 69)
Mit anderen Worten: Die Jouissance könnte in diesem Fall als eine partielle Erfahrung erlebt werden, die dazu verhilft, das Begehren (nach dem Objekt des Islam) in Form einer Art Antizipation der Lust zu genießen: Es ist eben diese Antizipation, welche die Verheißung des Objektes der islamischen Gemeinschaft stützt.
Von kollektiven Festen wie Ramadan bis zu ekstatischen Ritualen des Sufismus und zu beeindruckenden Beerdigungsprozessionen, die oft mit politischer Bedeutung aufgeladen werden, sind solche religiösen und kulturellen Feste wichtige Gelegenheiten, um das Genießen in Gruppen zu mobilisieren (Pratt Ewing 1997). All diese Feierlichkeiten funktionieren als Formen der partiellen Erfahrung und stärken den sozialen Zusammenhalt der Gläubigen. In diesem Kontext sollte auch die derzeitige Entstehung islamischer Nachbarschaften in europäischen Städten gesehen werden, sie bieten eine erste Antizipation des angestrebten Reiches der Tugend und der Erlösung an. Weitere Phänomene sind das Schaffen islamischer Touristenanlagen, in denen sich das Ideal eines islamischen Lebens widerspiegelt (Dabrowska 2004), oder die Durchführung künstlerischer Events. Islam Hip-Hop dürfte hier die wichtigste Form des Protestes gegenüber sozialer und politischer Diskriminierung sein. Sich über seinen afrikanisch-amerikanischen Ursprung ausbreitend, nutzen muslimische Rapper die Musik, um ihren Glauben zu verbreiten und eine globale Hip-Hop-Ummah zu schaffen (Alim 2005).
Eine weitere Möglichkeit, wie die Jouissance im Bereich einer symbolischen Ökonomie mobilisiert werden kann, betrifft ein Phänomen, das Žižek als „Diebstahl des Genusses“ bezeichnet (Žižek 1990, S. 54). Diesem liegt das Phantasma eines Feindes zu Grunde, der ein generelles Hindernis in der Realisation bestimmter, z.B. islamischer Verheißungen repräsentiert und die geschilderte Ökonomie von Fantasie und Begehren nachhaltig stört. Eine andere Art der Jouissance, etwa die Jouissance des westlichen Lebensstils, wird als „traumatischer Eindringling“ erlebt (Žižek 2006b). Der Andere wird dann als derjenige wahrgenommen, der die zukünftige Realisierung des Islams verhindert. Aus dieser Sicht wird der Islam zu einem Ort von „Ruhm und Tapferkeit, Wahrheit, Stärke, Segen, Reinheit, Stabilität, Tugend und Edelmut“, im Gegensatz zu dem „Pfad Europas“, der auf „Verlockung, Glamour, Vergnügen und Luxus, Laschheit und Zuchtlosigkeit gründet und die gefangene Seele befriedigt“ (al-Banna 1936). Der „Feind“ wird zu einem Außen, das verwendet wird, um ein muslimisches Selbst zu konstruieren.
Anders als dieser Mainstream-Islamismus distanzieren sich bestimmte globale jihadistische Bewegungen von dieser binären Logik anti-imperialistischer Vorstellungen (wobei der Topos des Feindes jedoch erhalten bleiben kann). Von konservativeren Bewegungen, wie Hizb ut-Tahrir und al-Muhajiroun, zu aktuellen Narrativen, die den Diskurs des DAIISH bestimmen, gründen sich alle Überlegungen letztlich auf die Unterscheidung zwischen „wahren“ und „nicht-wahren“ Gläubigen. Diese Unterscheidung führt dazu, dass auch „normale“ Muslime zur Gruppe der „nicht-wahren“ Gläubigen gezählt werden. Roy beschreibt solche neo-fundamentalistischen Gruppen folgendermaßen:
„Wenn er über seine Schulter schaut, sieht der Mujahid nichts als Kafir (Ungläubige) in den Ländern, die er eigentlich beschützen sollte. (…) Sie sind belagert in einer Festung, die sie nicht bewohnen.“ (Roy 2004, S. 288)
Mittlerweile haben in dem breiten Spektrum moderater und revolutionärer, friedlicher und jihadistischer, nostalgischer und schöpferischer, nationalistischer und globalistischer Formationen, die sich mit der Macht des Realen auseinandersetzen und ihre symbolische Ökonomie re-organisieren, durchsetzungsfähigere, optimistische, innovative und auch anti-dogmatische Strömungen entwickelt, die neue Formen politischer Optionen und Kompromisse anstreben. Sie liefern ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Vorhandenseins eines geistigen Horizonts im derzeitigen Zustand einer sozialen und politischen Instabilität, die sowohl den Nahen Osten wie auch Europa bestimmt. Das Verständnis für die Vielzahl islamischer Strömungen und deren Dialektik von Fantasie, Begehren und dem Realen, das Gespür für die Jouissance und die Akzeptanz der jeweiligen Individualität werden gute Voraussetzungen bilden, um mit dem Phänomen des Islam im Nahen und Mittleren Osten sowie in den Staaten Europas kreativ und produktiv umzugehen.
Dr. phil. Andrea Mura; Department of Politics and International Relations; Goldsmiths, University of London, New Cross, London SE14 6NW – UK
Phone: +44 (0)20 7919 7741, Fax: +44 (0)20 7919 7743 Email: A.Mura@gold.ac.uk
Grundlage des Beitrags ist der Vortrag „Islamic Revival and the Politics of Globalization” bei den 3. Segeberger Psychosomatik-Tagen im September 2016.
Übersetzung: Jacques Goetzmann
Veröffentlichung auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Alle Rechte beim Autor und beim Übersetzer
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