Mein Heiliges Volk
Gott ist unbewusst, sagt Lacan.1
Ich frage mich, über welchen Politiker ich mich in den letzten Jahren am meisten aufgeregt habe, an welchen ich also unbewusst geglaubt habe. Die Antwort lautet: Netanjahu. Warum? Natürlich wegen der expandierenden siedlergestützten militärischen Besetzung des Westjordanlands (die Deutschland als Mitglied der EU mitfinanziert), wegen der Blockade und der Bombardierungen des Gazastreifens. Das empört mich, und die Massaker des israelischen Militärs an Zivilisten nehmen mir immer wieder den Atem.
Über den israelischen Ministerpräsidenten habe ich mich aber nicht nur deswegen aufgeregt. Ich muss mir eingestehen, dass die Juden für mich, meinem Atheismus zum Trotz, das Heilige Volk waren und Israel das Heilige Land.
Waren? Ja, waren. Es gelingt mir nicht mehr, mich über Bibi aufzuregen.
Ich bin religiös erzogen worden, meine Eltern waren, wie ihre Großeltern, Mitglieder einer Freikirche, des Bundes freier evangelischer Gemeinden, meine Urgroßmutter war Kassiererin einer solchen Gemeinde in Bottrop. Die Erzählungen der hebräischen Bibel gehörten zu meiner Kinderwelt. Ich erinnere mich an eine Art Bibel-Comic, ein Geschenk meiner Urgroßmutter: ein großes Buch im Leporelloformat aus dickem Karton, die Vorderseiten mit wunderbar ausgepinselten Darstellungen zum Alten Testament beklebt, die Rückseiten mit Szenen aus dem Neuen Testament, unter jeder Grafik in Frakturschrift ein Bibelvers (beginnen die Einträge in diesem Blog deshalb immer mit einem großen Bild?). Eine der Darstellungen blitzt auf: Abraham, wie er ansetzt, auf Befehl des HErrn seinen Sohn Isaak zu schlachten und ein Engel ihm in den Arm fällt. Für meinen Vater war das Alte Testament so wichtig wie das Neue. Im Sommerurlaub las er uns aus den Psalmen vor, nach jedem Frühstück ein Kapitel. Wenn er mich schlug, zitierte er Sprüche 13, Vers 24: „Wer seinen Sohn liebhat, der züchtigt ihn beizeiten.“
Über die Juden hat mein Vater in ehrfurchtsvollem Ton gesprochen. „Sie sind das auserwählte Volk“, sagte er; das ernste Gesicht, das er dabei machte, sehe ich vor mir – unangenehm dicht, ich spüre seinen Atem. Auf einer Kreuzfahrt besichtigte er Israel; er nannte es „das Heilige Land“, wie es in der Gemeinde üblich war. Die Rede vom „Heiligen Land“ verbinde ich aber vor allem mit der Stimme meines Onkels Paul, Prediger einer Freien evangelischen Gemeinde in Siegen. Beim Sprechen hatte er eine faszinierende Art, jeden Laut überdeutlich zu artikulieren und dabei den Mund so zu bewegen, als ob er etwas lutschte. Jetzt stellt sich die Szene dazu ein: Onkel Paul steht im Kindergottesdienst vor einer Landkarte und spricht über die Missionsreisen des Paulus. (Paul – Paulus, aha.) Bei „Reise“ und „Rom“ rollt er das R, wie auch dann, wenn er „Rolf“ sagt; unwillkürlich mache ich es nach.
Als ich in der Schule hörte, es gebe Leute, die den Juden vorwerfen, sie hätten Jesus umgebracht, war ich überrascht – wäre Jesus nicht gekreuzigt worden, wären wir nicht gerettet worden, also haben die Juden, die „Kreuzige ihn!“ geschrien haben, ein gutes Werk getan, das weiß doch jeder, dachte ich. Die letzten Bücher, die mein Vater vor seinem Tod las (bis der Krebs sein Sehvermögen zerstörte), waren ein Kommentar zum Römerbrief und ein historisches Werk über die Judenvernichtung. Eines der wenigen Gefühle, die ich als Erwachsener mit meinem Vater teilte, war das Entsetzen über die Schoah.
Meine Mutter und die Juden? Ich erinnere mich an nichts. Nach dem Tod meines Vaters lüftete sie versehentlich (?) ein Familiengeheimnis. Sie zeigte mir eine Seite aus einer Zeitung von etwa 1937 mit einem Porträtfoto meines vielleicht 19jährigen Vaters als Sieger im Reichsberufswettkampf Bergbau. Dass er diesen Preis gewonnen hatte, wusste ich, er hatte uns Kindern die Medaille gezeigt. Das Bild hatte ich noch nie gesehen. Ein Uniformkragen war zu erkennen. Er gehörte, so fand ich heraus, zu einer SA-Uniform.
Hat mich das empört? Verblüfft und verwirrt: ja; mein Vater hatte seine kritische Einstellung zu den Nazis immer herausgestellt. Das Gefühl der Empörung hat sich jedoch nicht eingestellt. An meinen Vater habe ich nicht mehr geglaubt.
NACHTRAG vom 30. Juni 2014: Seit drei Wochen bombardiert Israel den Gazastreifen, und die Nachrichten sind entsetztlich. Ich lese darüber hier und hier und hier und hier.
NACHTRAG vom 21. Mai 2016: Der frühere Premierminister und Verteidigungsminister Ehud Barak sagt: Israel has been „infected by the seeds of fascism“.
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Anmerkung
- Vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 65.