Die Differenz der Kurven
Büsumer Watt, von hier
Wie entwickelt sich die Lacan-Rezeption unter quantitativem Gesichtspunkt? Nimmt sie zu, ist sie konstant oder wird sie geringer? Und wie verhält sie sich zur Freud-Rezeption?
Eine einfache Technik, das festzustellen, ist der Ngram Viewer von Google Books. Ein N-Gramm ist eine Signifikantenkette; der Ngram Viewer zeigt an, wie häufig ein Wort oder eine Wortfolge im Korpus von Google Books vorkommt, verglichen mit Wortfolgen derselben Länge: ein einzelnes Wort wie „Lacan“ wird mit allen anderen einzelnen Wörtern verglichen, eine Zwei-Wort-Folge wie „Jacques Lacan“ mit allen anderen Zwei-Worten-Folgen usw. Das Resultat wird in Prozent angegeben. Die letzten verfügbaren Daten beziehen sich auf das Jahr 2008.
Ich habe mir das Ergebnis ab 1950 für die Signifikantenketten „Jacques Lacan“ und „Sigmund Freud“ anzeigen lassen. Der Anteil der Namensnennungen gilt mir als Indikator für die relative Stärke der Lacan- bzw. Freud-Rezeption.
Das obenstehende Diagramm zeigt das Ergebnis für den englischsprachigen Teil des Korpus. Die Lacan-Rezeption (rote Linie) erlebte hier zunächst einen kontinuierlichen Aufschwung, Mitte der 90er Jahre erreichte diese Bewegung ihren Höhepunkt. Seither zeigt die Lacan-Rezeption in diesem Bereich einen kontinuierlichen Abwärtstrend, der schwächer ausgeprägt ist als die Aufwärtsentwicklung.
Zu beachten ist, dass die Angaben sich auf relative Größen beziehen, auf Prozente; sie besagen nichts über die absolute Häufigkeit Es ist theoretisch möglich, dass die absolute Zahl der Lacan-Nennungen steigt und der Anteil sinkt – und umgekehrt.
Die Freud-Rezeption zeigt im angelsächsischen Bereich eine ähnliche Dynamik wie die Lacan-Rezeption: Bis Mitte der 90er Jahre gab es auch hier eine relative Zunahme der Nennungen, seither nimmt das relative Gewicht von Freud ab, stärker noch als das von Lacan.
Das Diagramm zeigt außerdem, dass Freud im englischsprachigen Bereich deutlich stärker rezipiert worden ist als Lacan. Das ist nicht überraschend; der Ngram Viewer ermöglicht es, die Beziehung zu quantifizieren. 2008 hatte die Lacan-Rezeption im englischsprachigen Bereich eine Stärke, die gut 25 Prozent der Freud-Rezeption entspricht, anders gesagt, auf 100 Freud-Nennungen kamen 25 Erwähnungen von Lacan.
Wie unterscheidet sich die Lacan-Rezeption in britischen Büchern von der in der US-amerikanischen Literatur? Das zeigt das folgende Diagramm.
Die rote Kurve steht für die britischen Publikationen, die blaue für die US-amerikanischen. Das Ngram „Jacques Lacan“ hat im britischen Korpus ein sehr viel stärkeres relatives Gewicht als im US-amerikanischen, es ist fast doppelt so hoch. Die Entwicklungsdynamik ist jedoch ähnlich: ab Mitte bis Ende der 90er Jahre gibt es in beiden Bereichen eine rückläufige Entwicklung.
Für das französischsprachige Google-Korpus sehen die beiden Rezeptionskurven so aus:
Die französischsprachige Lacan-Rezeption zeigt, anders als die englischsprachige, keinen Abwärtstrend. In den 90er Jahren gab es eine Veränderung, sie bestand jedoch nur darin, dass das Wachstum sich abschwächte und sich einem konstanten Wert näherte.
Das relative Gewicht der Freudrezeption ist in der französischsprachigen Welt weiterhin im Aufschwung. Eine Stagnationsphase gab es hier zwischen Mitte der 80er und Mitte der 90er Jahre, seither nimmt das Gewicht der Freud-Rezeption wieder deutlich zu.
Die Lacan-Rezeption folgte im frankophonen Bereich der Freud-Rezeption meist in dichtem Abstand; in den 90er Jahren hat sie sie sogar übertroffen. 2008 lag die Stärke der Lacan-Rezeption bei etwa 85 Prozent von der der Freud-Rezeption.
Die zweite Hauptregion des Lacanianismus ist die Spanisch sprechende Welt. Für diesen Teil des Korpus zeigt der Ngram Viewer den folgenden Kurvenverlauf:
In der spanischen Welt ist von einer Stagnation oder gar einem Rückgang der Lacanrezeption nichts zu sehen. Es gibt hier eine beharrliche Zunahme der Lacan-Rezeption, die bis zum letzten verfügbaren Datum – also bis 2008 – anhält. Diese Dynamik entspricht in etwa der Entwicklung der Freud-Rezeption; bei ihr fällt auf, dass ihr Anteil seit den 80er Jahren deutlich zunimmt. Die Lacan-Rezeption folgt der Freud-Rezeption in klarem Abstand. 2008 lag die Stärke der Lacan-Rezeption bei gut 40 Prozent von der der Freud-Rezeption.
Und im deutschsprachigen Bereich? Hier das Bild:
Die Kurve zeigt dem ersten Blick, dass die Lacan-Rezeption schwindend gering ist. Das ist jedoch ein Darstellungsartefakt, das der besonders starken Freud-Rezeption im deutschsprachigen Bereich geschuldet ist. Die entscheidende Information besteht darin, dass die Lacan-Rezeption in Deutschland bis Mitte der 90er Jahre kontinuierlich zugenommen hat und dass sie seither konstant ist.
Die Linie der Freud-Rezeption zeigt ein anderes Bild, hier gibt es insgesamt einen Aufwärtstrend. Der Abstand zwischen Lacan-Rezeption und Freud-Rezeption ist in Deutschland noch größer als im englischsprachigen Bereich, seit etwa 2002 hat er zugenommen. Im Jahr 2008 betrug die Stärke der Lacan-Rezeption gut 15 Prozent der Stärke der Freud-Rezeption.
Die Lacan-Rezeption zeigt ab Mitte/Ende der 90er Jahre also vier unterschiedliche Entwicklungsverläufe:
– Rückgang in der englischsprachigen Literatur,
– Wachstum mit leichter Abschwächung in den französischen Büchern,
– kontinuierliches Wachstum in spanischen Texten,
– Konstanz in der deutschsprachigen Literatur.
Die folgende Abbildung fasst die Ergebnisse zur Lacan-Nennung in einem einzigen Diagramm zusammen.
Hier springt der Unterschied zwischen dem frankophonen Bereich (rote Linie) und dem Rest der Welt ins Auge. In den französischen Publikationen gibt seit Anfang der 60er Jahre eine beständige Zunahme des Anteils der Lacan-Rezeption, stärker als in den anderen drei Bereichen, so das der Abstand beständig gewachsen ist. 2008 ist die die Lacan-Rezeptiom im Französischen mehr als doppelt so stark wie sonst.
Als zweites fällt auf, dass das Rezeptionsgewicht in den anderen drei Bereichen 2008 ungefähr gleich groß ist.
Als drittes sieht man dass die Entwicklung auseinanderdriftet. In den spanischen Publikationen (gelbe Linie) zeigt die Tendenz nach oben, in den englischen (blaue Linie) nach unten, in den deutschsprachigen (grüne Linie) bleibt sie konstant.
Kann man eine Aussage über die Lacan-Rezeption insgesamt machen? Das Spanische hat mehr native readers als das Englische. Bezogen auf alle native readers ist die Lacan-Rezeption also vermutlich im Wachstum begriffen (das ist eine grobe Schätzung, man müsste die absolute Größe der Buchproduktion sowie deren Wachstum berücksichtigen). Das Englische ist nicht nur Landessprache, sondern auch Weltsprache, nicht zuletzt im wissenschaftlichen Bereich. Verrechnet man die Lacan-Rezeption derjenigen, die häufiger englisch lesen, mit der Rezeption derjenigen, die nicht oder kaum englisch lesen, ist die Lacan-Rezeption möglicherweise insgesamt im Sinken begriffen.
Nachtrag vom 22. Juni 2013: In Le Monde vom 9.9.2011 finde ich die Information, dass der Seuil-Verlag von den Seminaren Lacans im Durchschnitt 10.000 Exemplare verkauft hat.
Nachtrag vom 4. Oktober 2014: Am Ende dieses Blogbeitrags findet man eine Darstellung des Ngram Viewers zur verblüffenden Entwicklung der Freud-Rezeption in Israel.