Lacans Schemata
Das Schema des sadistischen Begehrens
Zweite Fassung. Die erste Fassung erschien auf dieser Website am 10. April 2013.
Welche Struktur hat das sadistische Begehren? In Kant mit Sade antwortet Lacan auf diese Frage mit dem oben reproduzierten Schema.1 Hier ein Versuch, es zu entziffern.2
Zitierweise
– Alle Übersetzungen von Passagen aus Kant mit Sade sind von mir.
– Nach den Zitaten aus Kant mit Sade verweisen zwei Zahlen mit Schrägstrich in runden Klammern auf die Seitenzahl zunächst in den Écrits, danach in der deutschen Übersetzung von Hans-Dieter Gondek. „(774/300 f.)“ bedeutet also: Die zitierte Stelle findet man in den Écrits auf Seite 774, in Gondeks Übersetzung auf S. 300 f.
– „10:123″ meint „Seminar 10, S. 123″, bezogen auf die Versionen von Miller/Gondek (Seminar 10) bzw. von Miller/Haas (für die Seminare 7 und 11).
– Die Übersetzungen aus den Seminaren wurden von mir bisweilen geändert, ohne das kenntlich zu machen.
– Hinweise auf die Sekundärliteratur werden unten im Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt.
Die Struktur des sadistischen Phantasmas
Der Gegenstand des Schemas
Das Schema stellt die Struktur von Sades Phantasma dar. In Kant mit Sade wird es so angekündigt:
„Bei der Konstruktion einer subjektiven Anordnung ist, vom Unbewussten her, stets eine vierteilige Struktur erforderlich. Dem genügen meine didaktischen Schemata.
Modulieren wir also mit einem neuen Schema dieser Art das Sade’sche Phantasma (fantasme sadien):“ (774/300 f.)
Es geht um das fantasme sadien, um das Sade’sche Phantasma, nicht um das fantasme sadique, nicht um das sadistische Phantasma.
(Le sadique ist der Sadist, le sadien der Sade-Anhänger, der Sadianer. Das Adjektiv sadique meint „sadistisch“; beispielsweise heißt „oral-sadistisch“ im Französischen sadique-oral. Das Adjektiv sadien bedeutet „auf Sade bezogen“, „Sade’sche“. )
Geht es Lacan also nur um Sade? Keineswegs. Das Sade’sche Phantasma interessiert insofern, als es Auskünfte über den Sadismus gibt. Wenn Kant mit Sade befragt wird, so spielt Sade
„in seinem Sadismus [dans son sadisme]“ (775/301 f.)
die Rolle eines Instruments.
Über das Sade’sche Phantasma heißt es, in ihm versteinere die Jouissance und werde zum schwarzen Fetisch, und weiter:
„Eben dazu wird im sadistischen Experiment (expérience sadique) der Vollstrecker, wenn im Grenzfall seine Anwesenheit darauf hinausläuft, nicht mehr zu sein als das Instrument.“ (773/299)
Die Struktur des Sade’schen Phantasmas bezieht sich also nicht nur speziell auf das Experiment bzw. die Erfahrung des Marquis (expérience bedeutet sowohl „Experiment“ als auch „Erfahrung“), sondern allgemein auf das sadistische Experiment bzw. die sadistische Erfahrung.
Dabei wird von Lacan ein großer Teil von Sades Phantasien ausgeklammert, nicht zuletzt die Phantasien, in denen die tugendhafte Justine im Mittelpunkt steht.
Geschrieben hat Lacan den Aufsatz Kant mit Sade im Jahr 1962, im September 1962 hatte er ihn abgeschlossen, wie er in der letzten Zeile des Textes ausweist. Die erste veröffentlichte Version des Textes erschien im April 1963, aber bereits vorher, am 16. Januar 1963, hatte Lacan den Zuhörern seines Seminars das Schema vorgestellt (vgl. 10:133). Bei der Erläuterung des Diagramms bezieht er sich dort auf das „sadistische [sadique] Begehren“ allgemein, auf die „sadistische Intention“, auf den „Agenten des sadistischen Begehrens“ (alles 11:134), auf den „Sadisten [sadique]“ (11:135). Sade wird hier als ein Beispiel angeführt (vgl. 11:134 f.).
Für Lacan stellt das Schema die Struktur eines Phantasmas dar, bei dem es sich nicht nur das Sade’sche Phantasma handelt, sondern allgemein um das sadistische Phantasma.
Zu beachten ist, dass das sadistische Phantasma nicht unbedingt das Phantasma von jemanden ist, dessen Handlungen man als die eines Sadisten beschreiben würde. Sade selbst scheint, was seine sexuellen Praktiken anging, Masochist gewesen zu sein.
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Beschreibung
Das Schema beginnt unten links mit dem Buchstaben klein d (für désir, Begehren). Auf das d folgt horizontal ein nach rechts zeigender Pfeil, der zu einem kursiv geschriebenen kleinen a führt (für Objekt klein a). In a beginnt eine Pfeillinie, die zunächst senkrecht nach oben führt und insgesamt die Form des Buchstabens groß N hat. Die von a nach oben führende Linie führt zunächst zum Buchstaben groß V (für volonté, genauer für volonté de jouissance, „Wille zur Jouissance“). Am Buchstaben groß V macht die Pfeillinie einen ersten Knick und führt schräg nach rechts unten zu einem schräg durchgestrichenen großen S, also zu $ (für sujet barré, ausgestrichenes/versperrtes Subjekt); das durchgestrichene S liegt auf derselben Höhe wie das kleine a. Am durchgestrichenen S, also bei $, macht die Pfeillinie einen zweiten Knick und führt senkrecht nach oben. Sie endet in einem großen S, das diesmal nicht durchgestrichen ist (für sujet, „Subjekt“, genauer für „rohes Subjekt der Lust“) und das auf derselben Höhe liegt wie das große V. Insgesamt verbindet die Pfeillinie also N-förmig die Zeichen a, V, $ und S.
Zwischen dem kleinen a und dem durchgestrichenen S findet man außerdem eine Raute, also ◊ (für „Begehren nach“); sie liegt auf derselben Höhe wie das kleine a und das durchgestrichene S und wird von der N-förmigen Pfeillinie nicht erfasst. Man kann das Schema deshalb noch auf eine zweite Weise lesen, diesmal rein horizontal. Wieder beginnt man links unten mit dem kleinen d, folgt dem nach rechts zeigenden Pfeil bis zum kleinen a und geht dann horizontal weiter zur Raute und schließlich zum durchgestrichenen S. Bei dieser zweiten Leserichtung durchläuft man also die Stationen d, Pfeil, a, Raute und durchgestrichenes S.
Die linke und die rechte Seite des Schemas
Lacan bezeichnet die linke Seite des Diagramms als Seite des Subjekts, die rechte als die des Anderen (vgl. 10:133); in der nebenstehenden Abbildung habe ich deshalb „Subjekt“ und „Anderer“ hinzugefügt.
Die linke Seite des Schemas bezieht sich auf das Subjekt, gemeint ist damit der Libertin-Folterer-Vergewaltiger-Mörder-Henker, die rechte Seite auf den anderen, und das ist hier sein Opfer. Zu beachten ist, dass hier nicht der wirkliche Libertin usw. gemeint ist, sondern der Libertin, wie er in einem sadistischen Phantasma erscheint. Dasselbe gilt für das Opfer, es geht nicht um das wirkliche, sondern um das phantasierte Opfer.
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d: Begehren
Das Schema beginnt unten links mit dem Buchstaben d für désir, „Begehren“.
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a: Objekt a
Die Position unten links im N-förmigen Schema ist mit einem kursiv geschriebenen kleinen a bezeichnet, für „Objekt a“. Das kleine a ist auf der linken Seite des Schemas verortet, auf derjenigen des Subjekts. Soll heißen: Der Folterer identifiziert sich mit dem Objekt a, mit demjenigen Objekt, das – Lacan zufolge – als Ursache des Begehrens fungiert.
Stimme als Objekt a
Im Falle des sadistischen Begehrens ist das Objekt a die Stimme.
Der Trieb, auf den sich das sadistische Phantasma stützt, ist der Invokations- oder Anrufungstrieb, der Stimmtrieb, wie man auch übersetzen könnte (vgl. 11:166).3 Freud unterscheidet vier Komponenten des Triebs: den Drang, die Quelle, das Objekt und das Ziel4; beim Sadisten ist, Lacan zufolge, die Stimme die „Quelle der Strebung“ (10:133).
Die Stimme ist dadurch Objekt a, dass sie vom Subjekt abgetrennt ist.
„Denn dieses Objekt [die Stimme] ist vom Subjekt auf seltsame Weise getrennt. Beachten wir, dass dabei der Herold der Maxime nicht mehr sein muss als ein Punkt, von dem aus gesendet wird. Es könnte eine Stimme im Radio sein, welche an das Recht erinnert, das befördert wurde durch die zusätzliche Anstrengung, zu der sich die Franzosen, auf Sades Appell hin, bereit erklärt hätten, und welche an die Maxime erinnert, die für ihre erneuerte Republik zum organischen Gesetz geworden wäre.
Bestimmte Stimmphänomene, insbesondere solche der Psychose, haben ja diesen objekthaften Charakter. Und in ihrer Aufbruchzeit war die Psychoanalyse nicht weit davon entfernt, hierauf die Stimme des Gewissens zu beziehen.“ (772/298)
Der Herold der Maxime fungiert wie eine Art Radio. Die Stimme, die von ihm ausgeht, geht durch ihn hindurch, sie ist ein von ihm getrenntes Objekt.
In dem Jahr, in dem er Kant mit Sade schreibt, hält Lacan auch das Angst-Seminar. Als Beispiele für die Stimme führt er dort Klänge an, die mit bestimmten Musikinstrumenten erzeugt werden: mit Tuba und Trompete, mit abessinischen Trommeln, mit dem bullroarer in den Zeremonien einiger australischer Stämme, mit Trommeln im japanischen No-Theater, vor allem aber mit dem jüdischen Schofar5; er stützt sich dabei auf eine Studie von Theodor Reik6.
Den objekthaften Charakter der Stimme bezieht Lacan an der zitierten Stelle auf die akustischen Halluzinationen mancher Psychotiker sowie auf die Stimme des Gewissens. Die Behauptung, in ihren Anfängen sei die Psychoanalyse nahe daran gewesen, die Stimme des Gewissens als Objekt zu deuten, bezieht sich vermutlich auf eine Bemerkung von Freud in Das Ich und das Es. Dort heißt es,
„daß das Über-Ich auch seine Herkunft aus Gehörtem unmöglich verleugnen kann, es ist ja ein Teil des Ichs und bleibt von diesen Wortvorstellungen (Begriffen, Abstraktionen) her dem Bewußtsein zugänglich, aber die Besetzungsenergie wird diesen Inhalten des Über-Ichs nicht von der Hörwahrnehmung, dem Unterricht, der Lektüre, sondern von den Quellen im Es zugeführt.“7
Für Lacan ist das Über-Ich primär eine Stimme. Im Lagache-Aufsatz von 1961 hatte er geschrieben,
„dass das Über-Ich in seinem innersten Imperativ sehr wohl in Wirklichkeit die ‚Stimme des Gewissens‘ ist; das heißt eine Stimme zunächst einmal, und eine, die sich sehr wohl stimmlich verlautbart, und ohne mehr Autorität als laute Stimme zu sein“8.
Identifizierung
Die Identifizierung mit der Stimme hat die Form der „Einverleibung“9. Der Begriff ist von Freud und bezieht sich bei diesem auf die erste Identifizierung mit dem Vater. Von „Einverleibung“ spricht Freud deshalb, weil sich diese Identifizierung wie ein Abkömmling der oralen Phase der Libidoorganition benimmt, in der man sich das begehrte und geschätzte Objekt durch Essen einverleibte und dabei vernichtete.10
Die Identifizierung mit dem Objekt a ist unerträglich.
‚An eben dem Ort, an dem Ihre mentale Gewohnheit Ihnen das Subjekt zu suchen anzeigt, da, wo sich trotz Ihnen das Subjekt abzeichnet, wenn beispielsweise Freud die Quelle der Strebung anzeigt, da, wo es im Diskurs das gibt, was Sie als das artikulieren, was Sie sind – kurz, da, wo Sie ich [je] sagen, da ist im eigentlichen Sinne auf der Stufe des Unbewussten das a anzusiedeln.
Auf dieser Stufe sind Sie a das Objekt, und jeder weiß, dass das unerträglich ist, und nicht nur für den Diskurs, der das schließlich verrät.“ (10:133)
Die Identifizierung mit der Stimme wird von Sadisten verleugnet (vgl. 11:194). Sie wird vom ihm auch nicht vollständig erreicht; sie erscheint nur auf einem Schauplatz (vgl. 10:135), in einer Phantasie oder einer Inszenierung, die vom Alltagsleben getrennt ist.11
Die Stimme, mit der der Sadist sich identifiziert, ist die Stimme des sadistischen Über-Ichs.12
Dem Masochisten ist bewusst, dass er von der Stimme des Anderen fasziniert ist; vom Sadisten wird die Identifizierung mit der Stimme jedoch verleugnet. In diesem Sinne ist der Sadismus eine Verleugnung des Masochismus (vgl. 11:194).
Schwarzer Fetisch
Der phantasierte sadistische Libertin fungiert (wie im Folgenden noch ausgeführt wird) als bloßes Instrument. Hierdurch „versteinert die Jouissance“ (773/299). Insofern ist das imaginäre Porträt, das Man Ray von Sade angefertigt hat, passend: es zeigt eine versteinerte Gestalt (vgl. 10:134 f.).
Mit der Versteinerung meint Lacan vermutlich die Apathie – die Gefühllosigkeit gegenüber dem Schmerz der Opfer –, zu der ein Peiniger fähig sein muss (nach Ansicht von Dolmancé in Sades Philosophie im Boudoir).13
Durch die Versteinerung der Jouissance verwandelt sich der sadistische Akteur in einen „schwarzen Fetisch“ (773/299). Sämtlichen Perversionen liegt, Lacan zufolge, das Objekt in der Funktion des Fetischs zugrunde15
Das sadistische Begehren hat demnach eine fetischistische Dimension, derart, dass im Phantasma der Sadist selbst, in der Versteinerung der Jouissance, als Fetisch fungiert. Damit wird angedeutet, dass das sadistische Begehren darauf beruht, dass die Kastration verleugnet wird – Freud zufolge dient der Fetisch der Abwehr der Kastration16, und der Fetischismus beruht, wie alle Perversionen, auf dem Mechanismus der Verleugung.
Fukuda nimmt eine andere Zuordnung vor, ihm zufolge bezieht sich die Rede vom „schwarzen Fetisch“ auf den Punkt S des Diagramms.17 Dagegen spricht, dass für Lacan der Fetisch eine der Formen des Objekts a ist.
Kant
Die Stimme bildet ein Gelenkstück zwischen Sade und Kant. Denn Kant begreift das Sittengesetz nach dem Muster der Stimme des Gewissens; für das Ich stellt sich – Kant zufolge – der kategorische Imperativ als Stimme dar, als himmlische Stimme der Vernunft.18
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d → a: Das Begehren stützt sich auf das Objekt a
Der Anfang des Schemas bezieht sich mit d → a auf das Verhältnis von Begehren und Objekt a oder auch von Begehren und Phantasma insgesamt, darin jedoch vor allem auf das Objekt a.
Das Begehren stützt sich auf ein Phantasma; diesen Zusammenhang hatte Lacan im sogenannten Graphen des Begehrens so dargestellt19:
Der Pfeil, der im Graphen d mit $ ◊ a verbindet, hat im Schema aus Kant mit Sade seine Entsprechung in dem von d zu a führenden Pfeil.
In Kant mit Sade heißt es über die Beziehung zwischen Begehren und Phantasma:
„Dies [das Verhältnis von Lust und Schmerz] ist die vitale Gegebenheit, die dann vom Phantasma genutzt wird, um das Begehren, das in seinem Agenten erscheint, im Sensiblen der Sade’schen Erfahrung zu fixieren.“ (774/300)
Im Agenten von Sades Phantasma, also etwa in einem Libertin wie Dolmancé, erscheint ein Begehren, und dieses Begehren wird im Sensiblen, im Anschaulichen, der Sade’schen Erfahrung fixiert, es erstarrt im Phantasma.
In Seminar 11, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, heißt es einfacher:
„Träger des Begehrens ist das Phantasma, nicht das Objekt ist Träger des Begehrens. […] Objekt des Begehrens im gewöhnlichen Sinne ist entweder eine Phantasie, die in Wirklichkeit Träger des Begehrens ist, oder eine Täuschung.“ (10:194)
(Mit Täuschung ist hier die narzisstische Struktur der Liebe gemeint.)
Das kleine d mit dem Pfeil, der sich auf a bzw. auf die Struktur des Phantasmas richtet, stellt also dar, dass sich das Begehren (d) auf ein Phantasma stützt, dass es von einem Phantasma getragen wird.
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V: Wille zur Jouissance
Der Buchstabe V in der oberen linken Ecke steht für volonté, Wille, gemeint ist damit la volonté de jouissance, der Wille zur Jouissance, zum Genießen, zur Lust unabhängig vom Lustprinzip, der Wille zu einer Lust also, die häufig als Unlust, z.B. als Schmerz, empfunden wird und die deshalb nur in bescheidenem Maße erreicht werden kann. (La volonté de jouissance, die Formulierung ist auch eine akustische Anspielung auf la volonté de puissance, wie Nietzsches „Wille zur Macht“ für gewöhnlich ins Französische übersetzt wird.20)
Um wessen Willen handelt es sich? Nicht um den des Subjekts, sondern um den des Anderen. Dabei geht es nicht um den Anderen im Sinne des Opfers (rechte Seite des Schemas), sondern um den Anderen, in dessen Dienst sich im sadistischen Phantasma der sadistische Akteur stellt (linke Seite des Schemas), um den Anderen in ihm, wie man sagen könnte.
Im Angst-Seminar heißt es:
„Selbst in der Perversion, in der das Begehren sich als das ausgibt, was Gesetz macht, das heißt als eine Subversion des Gesetzes, ist es in Wirklichkeit geradezu die Stütze eines Gesetzes. Wenn es etwas gibt, das wir jetzt über den Perversen wissen, so dies, dass das, was von außen als unbegrenzte Befriedigung erscheint, Abwehr und Ausübung eines Gesetzes ist, insofern es das Subjekt auf dem Weg des Genießens bremst, unterbricht und aufhält. Der Wille zum Genießen beim Perversen ist wie bei jedem anderen ein Wille, der scheitert, der auf seine eigene Grenze, seine eigene Bremse selbst in der Ausübung des Begehrens stößt. Wie das eine der Personen, die heute auf meine Bitte hin gesprochen haben, sehr schön unterstrichen hat, weiß der Perverse nicht, im Dienste welchen Genießens er seine Aktivität ausübt. Es ist jedenfalls nicht im Dienste seines eigenen.“ (10:189)
Der Andere ist demnach auch für den Perversen eine Instanz des Gesetzes, nur eben eines Gesetzes, welches Jouissance befiehlt.
In Sades Roman Juliette heißt dieser Andere „das Höchste Wesen an Bösartigkeit“21 (in ironischer Anspielung auf den von Robespierre installierten Kult des „Höchsten Wesens“). Dieses „Höchste Wesen in der Ordnung des Bösen“ ist niemand anders als Gott (vgl. 10:207). Der Wille zur Jouissance bezieht sich auf die „Jouissance Gottes“ (772/298).
Der Andere, in dessen Dienst sich das Subjekt in einem sadistischen Phantasma stellt, unterscheidet sich deutlich vom Anderen des Neurotikers. Der Neurotiker wünscht sich einen idealen Vater, und dessen Idealität zeigt sich darin, dass er in der Ausübung des Gesetzes gerade nicht genießt, dass er beispielweise nicht rachsüchtig ist; er wünscht sich einen „toten Vater“, wie Lacan es nennt. In einem sadistischen Phantasma bezieht sich das Subjekt auf einen sehr lebendigen Vater, auf einen, der seine Grausamkeit genießt.22
Für die These, dass Sades manifester Atheismus eine Täuschung darstellt, dass Sade in Wirklichkeit einem göttlichen Anderen dient, stützt Lacan sich auf die Studie Sade — mein Nächster von Pierre Klossowski aus dem Jahr 1947.23 Klossowskis „außergewöhnliche Scharfblick“ (789/319) wird von ihm gerühmt.
Kant
Der Wille zur Jouissance wird von Sade nicht nur in pornographischen Erzählungen inszeniert, sondern zugleich in theoretischen Abhandlungen (satirisch?) gerechtfertigt. Eines dieser Traktate heißt Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt.24 Der in dieser Schrift artikulierte Wille zur Jouissance wird von Lacan in der folgenden Maxime zusammengefasst:
„Ich habe das Recht, deinen Körper zu genießen, kann jeder beliebige zu mir sagen, und dieses Recht werde ich ausüben, ohne daß irgendeine Grenze mich aufhält in der Launenhaftighkeit der Übertretungen, wenn mir danach ist, sie zu befriedigen.“ (768 f. / 293)25
Diese Maxime ist unabhängig vom „pathologischen Subjekt“: sie bezieht sich nicht auf die Jouissance des Subjekts, sondern auf die des Anderen („kann ein jeder zu mir sagen“); sie ist dabei generalisiert, jeder kann mir das sagen; sie unterliegt keiner Bedingung. Das ist, neben der Stimme, eine weitere Verbindung zwischen Sade und Kant: der Wille zur Jouissance hat die Form eines kategorischen Imperativs, die Maxime vom Primat der Jouissance des Anderen hat die Form des Gesetzes. Das heißt aber, dass Sade bei der von ihm beabsichtigten Infragestellung des Anderen nicht sehr weit kommt; er sieht sich genötigt, „die Forderungen des Sittengesetzes zu simulieren“ (10:206). Sade ist heimlicher Kantianer.26
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a → V: Die Teilung aufseiten des Subjekts
Der phantasmatische Sadist quält, er ist „Agent der Qual“ (772/298), er quält jedoch nicht auf eigene Rechnung. Er fungiert als Werkzeug. In der Philosophie im Boudoir sagt Dolmancé über die Natur:
„Wir sind nur die blinden Werkzeuge ihrer Eingebungen, und gäbe sie uns ein, das Universum in Brand zu stecken, so bestünde das einzige Verbrechen darin, sich zu weigern; alle Schurken dieser Erde sind nur die Werkzeuge ihrer Launen …“27
Die Pfeilverbindung von a zu V zeigt diese instrumentelle Beziehung an. Im sadistischen Phantasma ist es nicht das sadistische Subjekt, welches genießt, es phantasiert sich vielmehr als „Instrument des Genießens“ (775/301), als Instrument für das Genießen des Anderen in ihm.
„Der sadomasochistische Trieb schließt sich nicht nur, er konstituiert sich förmlich dadurch, daß das Subjekt sich zum Objekt eines andern Willens macht.“ (11:194)
Da sich das Subjekt im sadistischen Phantasma als Instrument auffasst, ist ihm die Absicht seines Handelns entzogen (vgl. 10:207). Sowenig es weiß, dass er sich mit der Stimme identifiziert, sowenig ist ihm klar, dass er sich in den Dienst der Jouissance seitens des Anderen gestellt hat (vgl. 10:191).28
Der Aufsatz Kant mit Sade zeigt – so erläutert Lacan in einer Selbstinterpretation –,
„wie der Sadist selbst die Stelle des Objekts einnimmt, aber ohne es zu wissen, zum Vorteil eines andern, für dessen Genuß er als sadistisch Perverser arbeitet und handelt.“ (11:194)
In einem sadistischen Phantasma nimmt das Subjekt also die Stelle des Objekts ein: a; zum Vorteil eines anderen, für dessen Genuss er arbeitet: → V.
Die Einsicht in die instrumentelle Funktion des sadistischen Agenten ist für Lacan das wichtigste Ergebnis der bisherigen Sade-Forschung (vgl. 10:207).
Der sadistische Akteur tritt seinen Anderen (im Sinne von: seinen Opfern) so gegenüber: gestützt auf die unbewusste Introjektion des Objekts a als Stimme sowie auf die unbewusste Identifizierung mit dem Willen des Anderen zur Jouissance.
Mangel im Anderen
Warum kommt es im sadistischen Phantasma zur Identifizierung mit der Stimme und wie verhält sich diese Identifizierung zum Anderen qua Jouissance-Wille? Im Angstseminar heißt es:
„Es gehört zur Struktur des Anderen, eine gewisse Leere zu konstituieren, die Leere seines Fehlens von Verbürgung. Vor jeder Prüfung tritt mit dem Signifikanten die Wahrheit in die Welt ein. Allein durch ihre Echos im Realen erweist sie sich, verweist sie sich. Nun hallt aber in dieser Leere die Stimme als abgehoben von den Klangfarben wieder, nicht moduliert, sondern artikuliert. Die Stimme, um die es geht, ist die imperativische Stimme, die Stimme, insofern sie Gehorsam oder Überzeugung fordert. Sie ist nicht im Verhältnis zur Musik, sondern im Verhältnis zum Sprechen anzusiedeln.“ (10:345)
Die Stimme ist im Verhältnis zum Anderen zu begreifen. Der Andere konstituiert eine Leere – mit dem Signifikanten tritt die Wahrheit in die Welt ein, es gibt jedoch keinen Signifikanten, der die Wahrheit verbürgen könnte; Lacans Kürzel hierfür ist S(Ⱥ), Signifikant eines Mangels im Anderen. Im Anderen gibt es einen Mangel, der darin besteht, dass ein Signifikant, der die Wahrheit verbürgen könnte, fehlt (vgl. diesen Blogartikel). Die Stimme bezieht sich auf diesen Mangel. Sie ist grundlegend die befehlende Stimme und sie liefert einen Ersatz, der den Mangel im Anderen verdeckt, ihn unwirksam macht. Wenn das Subjekt sich im sadistsichen Phantasma mit der Stimme identifiziert, stellt es sich insofern in den Dienst des Anderen, als es, das Subjekt, qua Stimme das Mittel liefert, das den Mangel im Anderen ausgleicht.
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$: Gespaltenes Subjekt
Die untere rechte Ecke des Schemas steht für das phantasierte Opfer des sadistischen Subjekts, für den Adressaten seiner Grausamkeiten.
Dieser Punkt ist mit einem durchgestrichenen S (S barré) bezeichnet, $, für das sujet barré, das versperrte Subjekt, das Subjekt, das von einem konstituierenden Teil von sich ausgesperrt ist und das deshalb ein sujet divisé ist, ein geteiltes oder gespaltenes Subjekt. Die Praktiken des Peinigers zielen darauf ab, den Anderen — jetzt im Sinne des Adressaten, des Gegenübers — in ein gespaltenes Subjekt zu verwandeln.29
„Das sadistische Begehren, mitsamt allem, was es an Rätsel beinhaltet, ist nur von der Schize, der Spaltung her artikulierbar, die er, der andere [gemeint ist hier der Folterer bzw. der Wille zur Jouissance], beim Subjekt [beim Opfer] einzuführen als Ziel verfolgt, indem er ihm bis zu einer gewissen Grenze das auferlegt, was nicht ausgehalten werden kann – zu der Grenze genau, an der bei diesem Subjekt eine Teilung, eine Kluft erscheint, zwischen seiner Existenz als Subjekt und dem, was es erleidet, dem, worunter es, in seinem Körper leiden kann.“ (10:134)
Der Schmerz „zerreißt“ das Subjekt, wie man sagt. Auch die Demütigung zielt auf die Subjektspaltung: sie reizt das Schamgefühl auf (vgl. 771 f. / 297), und die Scham beruht auf einem Riss zwischen der Instanz, die sich schämt, und dem Gegenstand der Beschämung.
Wichtiger noch als Schmerz und Scham des anderen ist für den Sadisten dessen Angst.
„Nicht so sehr das Leiden des anderen wird in der sadistischen Intention gesucht, sondern seine Angst.“ (10:131)
Dass er die Angst des anderen sucht, ist dem Sadisten bewusst (vgl. 10:221), aber nicht nur ihm. Was jedermann über Sadismus weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, ist eben dies, dass der Sadist auf die Angst des anderen aus ist.
Kant
Das gespaltene Subjekt ist ein weiterer Verbindungspunkt zwischen Kant und Sade. Kant zufolge lässt sich apriorisch begründen, dass die Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz Schmerz hervorruft.30 Das dem kategorischen Imperativ folgende Subjekt ist ein zwischen Vernunft und Neigung zerrissenes Subjekt.
a → V → $: Zwei Beziehungen zum „Anderen“
Das Subjekt, das sich mit der Stimme identifiziert (a), bezieht sich in seinem Phantasma also auf zwei „Andere“: auf einen Gott, um dessen Genusswillen (V) zu befriedigen (links oben im Schema, Seite des Subjekts), und außerdem auf das Opfer, das er in die Position des gespaltenen Subjekts ($) bringt (rechts unten im Schema, Seite des Anderen). Den Anderen qua Genusswille hat er gewissermaßen im Rücken, der Andere in der Position des Opfers ist sein Gegenüber.
Dass er im Dienst eines Anderen steht, ist dem Sadisten in seinem Phantasma verborgen, und dies eben dadurch, dass sich für ihn die Angst eines anderen Anderen – die des Opfers – in den Vordergrund schiebt.
„Es ist offenbar, dass der Sadist die Angst des Anderen sucht. Verborgen wird dadurch das Genießen des Anderen.“ (10:221)
Der Sadist kann seinen eigenen Mangel, die Kastration, nicht annehmen; er verortet den Mangel auf der Seite seines weiblichen Opfers (vgl. 10:249 f.). Dieser Mangel verkörpert sich im Objekt a; das Objekt a ist eben das, was dem Subjekt fehlt, der „Rest des Subjekts“ (10:207). Der Folterer sucht das mangelnde Objekt also beim anderen (vgl. 10:222); für ihn erscheint es nicht dort, wo es im Schema dargestellt wird, nicht auf der Seite des Subjekts, sondern auf der Seite des anderen. Zur Veranschaulichung zitiert Lacan eine Passage aus einer der Vergewaltigungszenen in Juliette. „Ich habe die Haut der Fotze“, sagt Herzog Stern und präsentiert einen Hautfetzen, den er aus der Vaginalwand seines Opfers herausgekratzt hat (zit. 10:206).31
Der Sadist negiert in seinem Phantasma also keineswegs, wie „Doktrinäre“ (777 f. / 305) behaupten, die Existenz des Anderen, er verweist darin vielmehr die Qual des Daseins, die Subjektspaltung, den Mangel, auf den Andern, auf das Opfer (vgl. 778/305).
Die unteren beiden Terme des Schemas, a und $, stehen dafür, dass der „sichtbare Agent in der Starre des Objekts einfriert“ (774/300), damit sich seine Subjektspaltung ganz und gar auf der Seite des Anderen zeigt.
Lacan folgt auch in diesem Punkt Klossowski, der zu zeigen versucht, dass bei Sade nicht nur der Bezug auf Gott entscheidend ist, sondern auch der auf den Nächsten.
Nobus zufolge könnten mit den „Doktrinären“ Sartre und Mounier gemeint sein, Sartre in seiner Analyse des Sadismus in Das Sein und das Nichts, Mounier (Hauptvertreter des Personalismus) in seiner Introduction aux existentialismes.32
Man könnte hierzu aber vielleicht auch Maurice Blanchot rechnen, der Klossowskis Deutung in Frage gestellt hatte und der Sade vor allem durch die „Souveränität“ charakterisiert und damit durch die Negation des Anderen, sei es Gott oder der Nächste.33
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S: Rohes Subjekt der Lust
Die obere rechte Ecke des Schemas ist mit einem großen S bezeichnet; der Buchstabe steht für sujet, also Subjekt. Gemeint ist damit das „rohe Subjekt der Lust (das ‚pathologische‘ Subjekt)“ (775/301, Einschub in Klammern von Lacan).34
Der Buchstabe S steht für das Subjekt der Lust (plaisir). Im Angstseminar spricht Lacan in einem ähnlichen Zusammenhang vom Subjekt der Jouissance35; dabei handelt es sich, wie er dort betont, um die mythische Annahme eines Subjekts vor der Einschreibung des Symbolischen (eine Konzeption, die an Freuds „purifiziertes Lust-Ich“36 erinnert). Dieses Subjekt ist also insofern „roh“, als es nicht der Sprache unterworfen und damit nicht gespalten ist.
Wo in Sades Phantasien erscheinen die Opfer als rohe Subjekte der Lust? Ich vermute dort, wo sie, nachdem sie furchtbare Qualen erlitten haben, im nächsten Tag immer wieder in aller Frische strahlend schön auf der Bildfläche erscheinen. Die Einschreibung von Signifikanten kann ihnen nichts anhaben und insofern gehören zu einer Lustwelt außerhalb des Symbolischen.
Kant
Wenn Lacan das „rohe Subjekt der Lust“ als „das ‚pathologische‘ Subjekt“ bezeichnet, bezieht er sich ein weiteres Mal auf Kant. In der Kritik der praktischen Vernunft spricht Kant vom „pathologisch affizierten Willen“ und vom „pathologisch bestimmbaren Selbst“. Pathologisch meint bei Kant nicht „krankhaft“, sondern „gefühlsmäßig“, „sinnlich“. Die Sinnlichkeit als das Vermögen, Sinnesempfindungen und Gefühle zu haben, ist insofern dem „Pathos“, dem Leiden, zuzurechnen, als sie — in Kants Perspektive — das Vermögen ist, etwas zu erleiden, nämlich passiv Reize zu empfangen. Das „pathologische“ Subjekt ist also (von Kant aus gesehen) das Subjekt, das nach Lusterfüllung strebt, nach Glück und das sich damit letztlich passiv bestimmen lässt, statt sich durch die Vernunft aktiv selbst zu bestimmen. Die „pathologischen“ Interessen, sagt Lacan in Seminar 7, sind ganz einfach die „menschlichen, sinnlichen vitalen Interessen“ (7:376). Das Feld der Ethik liegt für Kant jenseits dieses Bereichs, jenseits des „Pathologischen“, und Lacan schließt sich ihm an, wobei das Feld der Ethik jenseits des „Pathologischen“ in Lacans Perspektive nicht, wie für Kant, vom Gesetz eingenommen wird, sondern von der Beziehung zwischen Gesetz und Begehren (vgl. 7:376).
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$ → S: Die Teilung aufseiten des Anderen
Die rechte Seite des Diagramms bezieht sich auf die Opfer des sadistischen Phantasmas und zeigt an, dass auch die Opfer in einer Teilung erscheinen, die sich zusammensetzt aus der Position des gequälten Opfers ($) und der Position des mythischen Lustwesen, dem keine Folter etwas anhaben kann (S). Die Opfer fungieren in diesen Phantasien also nicht nur als Wesen, die gequält werden, sondern auch als Lustsubjekte vor der Einschreibung der Sprache.
Das große nicht durchgestrichene S steht am Ende der Pfeillinie; das „rohe Subjekt“ ist demnach das Ziel der gesamten phantasmatischen Bewegung. In Lacans Deutung zielt das Sade’sche Phantasma also letztlich auf etwas, das über das Quälen der Opfer ($) hinausgeht. Was darin gesucht wird, ist das rohe Subjekt der Lust bzw. der Jouissance jenseits (oder diesseits) des Symbolischen. Der Andere soll letztlich einfach nur seinen natürlichen Antrieben nachgehen. Auch diesen Gedanken übernimmt Lacan vermutlich von Klossowski; Klossowski nennt dies die „Renaturalisierung der Grausamkeit“37.
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V → $ → S: Vel der Entfremdung
Zum Zeichen V im Schema oben links heißt es, dass es zwar für volonté steht, also für „Wille“, dass
„dessen Form aber auch die Vereinigungsmenge dessen evoziert, was es spaltet, indem es dies in einem vel zusammenhält, d.h. indem es das zu wählen gibt, was aus dem rohen Subjekt S der Lust (dem ‚pathologischen‘ Subjekt) das $ (durchgestrichenes S) der praktischen Vernunft machen wird.“ (775/301)
Lacan beschreibt hier die Beziehung zwischen V, $ und S mit einem Begriff der Aussagenlogik, mit dem Verknüpfungspartikel „Vel“. „Vel“ ist ein Name für das inklusive Oder, also für das Oder, bei dem auch beide Möglichkeiten gewählt werden können (bei dem es also korrekt ist, wenn man die Frage „Kaffee oder Kuchen?“ mit „Beides bitte!“ beantwortet); häufig wird dieses Oder durch die Vereinigungsmenge dargestellt.
Die Bemerkung über das Vel ist ein Zusatz von 1966; Lacan stützt sich hier auf seine Ausführungen über das Vel der Entfremdung in Seminar 11 von 1964, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse.38 Lacans Vel der Entfremdung funktioniert allerdings völlig anders als das disjunktive Oder und kann auch nicht durch eine Vereinigungsmenge dargestellt werden. Paradigma für das Vel der Entfremdung ist eine Wahl vom Typ „Geld oder Leben“, wobei man mit vorgehaltener Pistole vor diese unerfreuliche Alternative gestellt wird, und wobei vorausgesetzt wird, dass einem das Leben wichtiger ist als das Geld. Wählt man das Geld, verliert man das Geld und das Leben; wählt man das Leben, verliert man das Geld und behält das Leben. Das heißt, eine Seite der Wahl geht auf jeden Fall verloren bzw. ist falsch und es liegt im Vorhinein fest, welche Seite das ist – es ist immer falsch, das Geld zu wählen.
Übersetzt man das in die Aussagenlogik mit zwei Aussagen A und B und legt man fest, dass A auf jeden Fall falsch ist, d.h. unwahr, lässt sich Lacans Vel der Entfremdung durch die folgende Wahrheitstabelle darstellen:
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Erläuterung der Wahrheitstabelle
Um die Situation „Geld oder Leben?“ näher an die Aussagenlogik heranzuführen, kann man sie so schematisieren: An M wird die Frage gerichtet: „Willst du dein Geld behalten oder willst du dein Leben behalten?“ Das ist eine Doppelfrage und uns interessiert, wie das „oder“ funktioniert, das die beiden Teilfragen verbindet, das heißt, zu welchen Ergebnissen es führt.
M kann auf jede Teilfrage mit Ja oder mit Nein antworten, damit hat M vier Antwortmöglichkeiten. Der Räuber wiederum reagiert auf die Antworten von M und hat ebenfalls zwei Optionen, er kann M erschießen und dessen Geld an sich nehmen oder er kann M laufen lassen und dessen Geld an sich nehmen.
Lacan spricht in seinen Erläuterungen zum Geld-oder-Leben-Beispiel nicht über die Möglichkeit, dass der Überfallene keine von beiden Möglichkeiten oder beide wählt. Wenn man, so wie Lacan, die Beziehung zum inklusiven Oder herstellen will, braucht man auch diese Wahlmöglichkeiten, da das inklusive Oder durch eine vierzeilige Wahrheitstabelle definiert ist. Lacan unterstellt stillschweigend, dass die Optionen beides oder keins für den Überfallenen nicht in Frage kommen und dass heißt indirekt, dass er dann erschossen wird.
Daraus ergibt sich die folgende Tabelle:
Anschließend muss man noch die beiden Antwortmöglichkeiten von M in die Wahrheitswerte „wahr“ (W) und „falsch“ (F) übersetzen; aus „Ja“ wird „W“ und aus „Nein“ wird „F“. Auch die Reaktion des Räubers muss umgewandelt werden: „Erschießen“ wird zu „F“, „Nicht erschießen wird zu „W“. Auf diese Weise erhält man:
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Bezieht man also das Vel der Entfremdung auf das Schema des sadistischen Phantasmas, ergibt sich: Der Wille zur Jouissance (V) eröffnet eine Wahlmöglichkeit zwischen den beiden Optionen „gespaltenes Subjekt“ ($) und „rohes Subjekt der Lust“ (S). Diese beiden Optionen sind durch ein Vel der Entfremdung verknüpft, d.h. eine der beiden Möglichkeiten geht auf jeden Fall verloren, und das ist in diesem Fall das „rohe Subjekt der Lust“. Wählt man „rohes Subjekt der Lust“, verliert man beides, sowohl das rohe Subjekt der Lust als auch das gespaltene Subjekt, wählt man „gespaltenes Subjekt“, bekommt man eben dieses und verliert das rohe Subjekt der Lust.
An der zuletzt aus Kant mit Sade zitierten Stelle heißt es: Durch den Willen zur Jouissance bzw. durch das Vel (zu ergänzen: der Entfremdung) wird das gewählt, was aus dem rohen Subjekt der Lust das versperrte Subjekt der praktischen Vernunft machen wird, wodurch also S zu $ wird. Wenn man sich an diese Formulierung hält, muss man den Pfeil zwischen S und $ anders orientieren als im Diagramm, er führt dann nicht von unten nach oben, von $ zu S, sondern von oben nach unten, von S zu $.
Das könnte man so deuten: Das Sade’sche bzw. sadistische Phantasma setzt eine Art Ursprungsmythos in Szene, den Vorgang, durch den das mythische rohe Subjekt der Lust (Freuds purifiziertes Lust-Ich) zu einem versperrten und damit gespaltenen Subjekt wird.
Tatsächlich aber führt der Pfeil von unten nach oben, von $ zu S. Damit muss gemeint sein: Ziel der gesamten phantasmatischen Bewegung ist das verlorene Paradies, das präsymbolische rohe Subjekt der Lust. Dieses Ziel liegt nicht auf der linken, sondern auf der rechten Seite des Schemas, also auf derjenigen der Opfer. Das könnte heißen: Der unbewusste utopische Zielpunkt des Sadisten ist die „Naturalisierung der Grausamkeit“, also die rätselhafte hartnäckige Unverletztheit der Opfer nachdem sie misshandelt worden sind.
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a → V → $ → S: Kalkül des Subjekts
Zum Diagramm insgesamt heißt es:
„Mit der Schlangenlinie wird die Kette verzeichnet, durch die ein Kalkül des Subjekts möglich wird.“ (775/301)
Die Schlangenlinie, das ist die von a über V und $ zu S führende N-förmige Pfeillinie. Mit dieser Linie wird eine „Kette“ notiert, ich nehme an, die geordnete Verknüpfung der Komponenten a, V, $ und S.
Durch diese Verkettung wird ein „Kalkül des Subjekts“ möglich. Was könnte damit gemeint sein? Genitivus subjectivus - das Subjekt kalkuliert, es rechnet? Genitivus objectivus - das Subjekt wird kalkuliert, es wird berechnet?
Einige Sätze zuvor hieß es, im Diagramm gehe es um eine vierteilige Struktur, die, was das Unbewusste angeht, für die Konstruktion einer subjektiven Ordnungsstruktur stets erforderlich sei (vgl. 774/300). Einer subjektiven Ordnungsstruktur (ordonnance subjective), man könnte wohl auch übersetzen mit „einer Ordnungsstruktur des Subjekts“. Ich vermute, dass dies mit dem „Kalkül des Subjekts“ gemeint ist: die Konstruktion einer Ordnungsstruktur des Subjekts.
Also Genitivus objectivus: Dadurch, dass man die Punkte a, V, $ und S nacheinander durchläuft, ist es möglich, die Ordnungsstruktur des Subjekts zu konstruieren (zu „berechnen“), und das heißt: die Struktur seines Phantasmas.
d → a ◊ $: Begehren und Phantasma
Die Terme a und $ des Schemas sind horizontal durch eine Raute verbunden, zusammen ergibt das die Zeichenfolge a ◊ $. Das ist Lacans Formel für das Phantasma, die er meist umgekehrt schreibt, also $ ◊ a39. Die Raute steht für „Begehren nach“ (774/300), in Satzform gebracht meint die Formel a ◊ $ also: „Das Objekt a begehrt das versperrte Subjekt.“ In dieser Beschreibung besteht das sadistische Phantasma darin, dass der Begehrende, sich mit dem Objekt a identifizierend, das versperrte Subjekt begehrt.
Noch vor der Formel a ◊ $ findet man in der unteren Zeile des Schemas den Buchstaben klein d, danach einen nach rechts zeigenden Pfeil, insgesamt also: d → a ◊ $. Das Begehren (d) stützt sich auf (→) ein Phantasma, worin der Begehrende sich mit einem Objekt a identifiziert (a), mit der Stimme, und von da aus etwas begehrt (◊), nämlich das versperrte Subjekt ($).
Das Phantasma ist eine bewusste oder unbewusste Szene der „Wunscherfüllung“, wie Freud sagt. Mit Lacan: das Phantasma ist die „Utopie des Begehrens“ (775/301). Das, was man in der Umgangssprache als „Objekt des Begehrens“ bezeichnet, ist in Wirklichkeit meist ein Phantasma (vgl. 11:194).
Das phantasierende Subjekt nimmt im sadistischen Phantasma also die Position des Objekts a ein, und das heißt: nicht die des durchgestrichenen Subjekts. Das macht den Unterschied zwischen Perversion und Neurose aus. Das perverse Subjekt identifiziert sich mit dem Objekt a, das neurotische mit dem ausgesperrten Subjekt. Die Perversion
„stellt eigentlich einen Umkehreffekt des Phantasmas dar, wobei das Subjekt sich selber als Objekt bestimmt in seiner Begegnung mit der Teilung der Subjektivität.“ (11:194)
Die Formel für das Phantasma, also a ◊ $, zeigt, dass der Sadismus
„die Qual des Existierens auf den Anderen abwälzt, ohne jedoch zu sehen, daß er selbst sich auf diese Weise in ein ‚ewiges Objekt‘ verwandelt, wobei uns Mr. Whitehead die Verwendung dieses Ausdrucks gestatten möge“ (778/305).
Lacan knüpft damit an Freud an, wonach die Neurose „das Negativ der Perversion“40 ist. Für Lacan ist das perverse Phantasma insofern das Negativ eines neurotischen Phantasmas, als die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt und zwischen Objekt a und versperrten Subjekt umgekehrt verläuft.
Das gespaltene Subjekt – das malträtierte Opfer — erscheint im sadistischen Phantasma unter dem Gesichtspunkt des Verschwindens, der Aphanisis (146).41 Für den Folterer besteht darin eines der Hauptprobleme: er hat es mit einem Opfer zu tun, das durch Tod oder Ohnmacht zu verschwinden droht („Ohnmacht“ oder „Bewusstlosigkeit“ heißt im Französischen évanouissement, wörtlich: „Verschwinden“). Die Sade’sche Lösung besteht darin, in der Phantasie das Verschwinden des Opfers endlos hinauszuschieben. Nachdem Juliette den grausamsten Quälereien unterworfen worden ist, erscheint sie am nächsten Tag immer wieder in strahlender Schönheit und dies wird, so vermute ich, durch das nicht-durchgestrichene große S symbolisiert.
Das kleine d steht für désir, Begehren. Das Begehren erscheint in der Formel (d → a ◊ $) also doppelt, in Gestalt von d und von ◊; das Begehren hat eine verschachtelte Struktur. Die Zeichenfolge (d → a ◊ $) besagt: Das sadistische Begehren stützt sich auf eine Phantasieszene, in der dargestellt wird, wie das Subjekt, das sich mit der Stimme als Objekt a identifiziert (das also beispielsweise Befehle brüllt), die Zerrissenheit des anderen begehrt, seine Angst.
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Die vier Bezüge zu Kant
Das Schema des sadistischen Begehrens dient letztlich dazu, Kant zu lesen, „Kant mit Sade“.42 Hier noch einmal die vier Gelenkstücke:
a: Objekt a als Stimme — verweist auf Kants „Stimme der Vernunft“.
V: Wille zur Jouissance, in einer generalisierten und bedingungslos geltenden Maxime artikuliert — tritt in Sades Phantasma an die Stelle des kategorischen Imperativs.
$: gespaltenes Subjekt — bezieht sich darauf, dass die Selbstbestimmung des Willens durch die Vernunft, Kant zufolge, Schmerz hervorruft.
S: das rohe Subjekt der Lust— korrespondiert Kants Begriff des pathologisch affizierten Selbsts.
Lacans Beschreibung von „Kant mit Sade“ in Seminar 11
In Seminar 11, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, kommentiert Lacan seinen Aufsatz Kant mit Sade. Das Datum ist der 24. Juni 1964, liegt also zwischen der ersten Version des Aufsatzes (1963) und der zweiten Version (1966). Er sagt dort:
„Die Erfahrung zeigt uns, daß Kant wahrer ist [als Spinoza], und ich habe gezeigt, daß Kants Theorie des Bewußtseins, wie er über die praktische Vernunft schreibt, nur möglich ist aufgrund einer Spezifizierung des Sittengesetzes, die sich bei näherem Zusehen als nichts anderes erweist als das Begehren im Reinzustand, jenes Begehren also, das auf das Opfer all dessen hinausläuft, was Gegenstand der Liebe in ihrer menschlichen Zärtlichkeit werden kann – ich sage ausdrücklich, daß es sich nicht nur um die Verstoßung des pathologischen Objekts, sondern um dessen Opfer und Tötung handelt. Aus diesem Grund schrieb ich Kant mit Sade.“ (11:290)
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Literatur
Allouch, Jean: Ça de Kant, cas de Sade. Érotologie analytique III. Sur „Kant avec Sade“ de Jacques Lacan. Cahiers de L’unebevue, Paris 2001.
Baas, Bernard: Das reine Begehren. Zu Lacans „Kant mit Sade“. In: Ders.: Das reine Begehren. Übersetzt von Gerhard Schmitz. Turia + Kant Wien 1995, S. 23–72.
Fink, Bruce: Eine klinische Einführung in die Lacansche Psychoanalyse. Theorie und Technik. Turia + Kant, Wien 2005, darin Kapitel 9, „Perversion“.
Fukuda, Daisuke: L’envers de l’éthique sadienne. Essai sur la lecture lacanienne du marquis de Sade. Thèse, Université Paris VIII, 2011, im Internet hier.
Marty, Eric: Pourquoi le XXe siècle a-t-il pris Sade au sérieux? Le Seuil, Paris 2011.
Miller, Jacques-Alain: A discussion of „Kant with Sade“. In: Richard Feldstein, Bruce Fink, Maire Jaanus (Hg.): Reading seminars I and II. Lacan’s return to Freud. State University of New York Press, Albany 1996, S. 212–237.
Mounier, Emmanuel: Introduction aux existentialismes. Gallimard, Paris 1962.
Nobus, Dany: The law of desire. On Lacan’s „Kant with Sade“. Palgrave Macmillan, Springer, Cham (Schweiz) 2017.
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Übersetzt von Hans Schöneberg und Traugott König. Rowohlt, Reinbek 1995.
Žižek, Slavoj: Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002 (Erläuterung des Schemas auf S. 200–202)
—: Kant and Sade: The ideal couple. In: lacanian ink 13,1998.
—: Radical Evil as a Freudian Category. In: Lacan.com, 2008.
—: Das perverse Subjekt der Politik: Lacan als Leser von Mohammad Bouyeri. In: Ders.: Lacan. Eine Einführung. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2008, S. 139–157.
Zupančič, Alenka: Die Ethik des Realen. Kant, Lacan. Turia + Kant, Wien 1995.
---: Ethics of the real. Kant, Lacan. Verso, London 2000
—: Das Reale einer Illusion. Kant und Lacan. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001.
Verwandte Beiträge
Anmerkungen
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J.Lacan: Kant avec Sade. In: Ders.: Ècrits. Seuil, Paris 1966, S. 765–790, Schema auf S. 775.
J. Lacan: Kant mit Sade. In: Ders.: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 289–321, Schema auf S. 301.
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Lacan erläutert das Diagramm auch in Seminar 10 von 1962/63, Die Angst, dort (Version Miller/Gondek) auf den Seiten 133–135, 189, 205–207, 221 f., 245 und 249.
Weitere Hinweise auf Kant mit Sade findet man in:
– Seminar 11 von 1964, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, in Version Miller/Haas auf den Seiten 194, 254, 290;
– Seminar 13 von 1965/66, Das Objekt der Psychoanalyse, Sitzung vom 22. Juni 1966;
– Seminar 14 von 1966/67, Die Logik des Phantasmas, Sitzungen vom 22. Februar (Version Miller S. 198 f.), vom 19. April (Version Miller S. 276) und vom 14. Juni 1967 (Version Miller S. 397 f.);
– Seminar 16 von 1968/69, Von einem Anderen zum anderen, Sitzung vom 13. November 1968 (Version Miller/Gondek S. 17 f.);
– Seminar 17 von 1969/70, Die Kehrseite der Psychoanalyse, Sitzung vom 26. November 1969 (Version Miller S. 13);
– Vortragsreihe Das Wissen des Psychoanalytikers von 1971/72, Sitzung vom 4. November 1971 (Ich spreche zu den Wänden, S. 30);
– Seminar 19 von 1971/72, … oder schlimmer, Sitzung vom 15. Dezember 1971 (Version Miller S. 28);
– Seminar 20 von 1972/73, Encore, Sitzung vom 13. März 1973 (Version Miller/Haas u.a. S. 94);
– Seminar 21, Les non-dupes errent (1973/74), Sitzung vom 19. März 1974. -
Das Objekt a wird in Seminar 10, Die Angst, eingeführt; die Stimme als Objekt a dort in der Sitzung vom 22. Mai 1963.
-
S. Freud: Triebe und Triebschicksale (1915). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 75–102, hier: S. 85–87.
-
Seminar 10, Die Angst, Sitzung vom 22. Mai 1963; Version Miller/Gondek S. 303–319.
-
Vgl. Theodor Reik: Das Schofar (Das Widderhorn). In: Ders.: Probleme der Religionspsychologie I. Erster Teil: Das Ritual. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig und Wien 1919, Kapitel 5, S. 178–311.
-
S. Freud: Das Ich und das Es (1923). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 319.
-
Anmerkung zum Bericht von Daniel Lagache: „Psychoanalyse und Struktur der Persönlichkeit“. In: Schriften, Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 190.
-
Seminar 10, Die Angst, Sitzung vom 5. Juni 1963, Version Miller/Gondek S. 346.
-
Vgl. S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), GW 13, S. 115 f.
-
Umfassend zur Funktion der Stimme bei Lacan: Mladen Dolar: His master’s voice. Eine Theorie der Stimme. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007.
-
Im fünften Dialog, nach dem Einschub Franzosen, noch eine Anstrengung … sagt Dolmancé zu Eugénie:
„Verwerfen Sie also die abgefeimten Ratschläge des Chevalier; wenn er Ihnen rät, Ihr Herz allem vorstellbaren Leid des Unglücks zu öffnen, sucht er Ihnen eine Menge von Qualen zu verschaffen, die Sie, da sie nicht die Ihren sind, bald völlig sinnlos peinigen werden. Ach! Glauben Sie mir, Eugenie, glauben Sie mir, die Freuden, die Ihnen die Gefühllosigkeit (apathie) verschafft, wiegen die, die die Empfindsamkeit (sensibilité) Ihnen bereitet, reichlich auf; diese kann das Herz nur in einem Punkte treffen, während jene es überall kitzelt und erschüttert.“
(D.A.F. de Sade: Die Philosophie im Boudoir. Übersetzt von Rolf Busch. Merlin Verlag, Gifkendorf 3. Auflage 1989, S. 280)
-
Lacan: Die Lenkung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht. In: Ders.: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 72–145, hier: S. 103.14
In Seminar 10 wird das Objekt a ausgehend vom Fetisch eingeführt (vgl. 10:132).
-
S. Freud: Fetischismus (1927). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, S. 379–388.
-
Baas schreibt, Lacan nehme eine Unterschiebung vor, wenn er behauptet, Kant spräche von der Stimme, tatsächlich aber finde die Metapher sich nicht bei Kant (Baas 1995, S. 40). Baas irrt sich, bei Kant heißt es:
„Dieser Widerstreit ist aber nicht bloß logisch, wie der zwischen empirisch-bedingten Regeln, die man doch zu notwendigen Erkenntnisprinzipien erheben wollte, sondern praktisch, und würde, wäre nicht die Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen so deutlich, so unüberschreibar, selbst für den gemeinsten Menschen so vernehmlich, die Sittlichkeit gänzlich zu Grunde richten; so aber kann sie sich nur noch in den kopfverwirrenden Spekulationen der Schulen erhalten, die dreist genug sein, sich gegen jene himmlische Stimme taub zu machen, um eine Theorie, die kein Kopfbrechen kostet, aufrecht zu erhalten.“
(Kritik der praktischen Vernunft, 1. Buch, 1. Hauptstück, § 8. Lehrsatz IV, Anmerkung II, Weischedel-Ausgabe Bd. 7, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974, S. 146 f.)
Von der Stimme der Vernunft spricht Kant in der Kritik der praktischen Vernunft ein weiteres Mal in: 1. Buch, 3. Hauptstück, Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft, Weischedel-Ausgabe S. 201.
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Abbildung aus: J. Lacan. Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud’schen Unbewussten. In: Des.: Schriften, Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 355.– Gelbe Markierung von mir, RN.
-
„l‘Être suprême en méchanceté“; die Formulierung findet sich in Die Geschichte von Juliette, erste Ausgabe von 1801, zweiter Teil; Monsieur de Saint-Fond verwendet sie in einem seiner Vorträge. Im Internet hier.
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Eine deutsche Übersetzung von Klossowskis Arbeit erschien 1996 im Wiener Passagen-Verlag.
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In Die Philosophie im Boudoir, Einschub im fünften Dialog.
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Zur Genealogie dieser Maxime siehe den Artikel zum „Genussrecht“ auf dieser Website.
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Žižek ist der Auffassung, dass die Position des Instruments vom Sadisten auch bewusst eingenommen werden kann; vgl. Žižek 2008.
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Den Begriff sujet barré verwendet Lacan zuerst in Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten, Version Miller/Gondek S. 559 f.; in den Schriften erscheint der Ausdruck zuerst in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten von 1960, veröffentlicht 1966 (Schriften II, S. 198).
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Kant schreibt:
„Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen Eintrag tut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann, und hier haben wir nun den ersten, vielleicht auch einzigen Fall, da wir aus Begriffen a priori das Verhältnis eines Erkenntnisses (hier ist es einer reinen praktischen Vernunft) zum Gefühl der Lust oder Unlust bestimmen konnten.“
(Kritik der praktischen Vernunft, darin: Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft, a.a.O., Weischedel-Ausgabe S. 192 f.)
-
Histoire de Juliette, Erste Ausgabe von 1801, Erster Teil:
„Et je sentis alors ses ongles crochus s’imprimer vivement dans mes fesses et m’arracher la peau en deux ou trois endroits. De nouveaux cris que je poussai ne firent qu’animer ce scélérat qui, portant alors deux de ses doigts dans l’intérieur du vagin, ne les retire qu’avec la peau qu’il déchire dans ce lieu sensible.
— Lubin, disait-il alors, en montrant ses doigts pleins de sang au valet, chèr Lubin, je triomphe ! j’ai de la peau du con.“Im Internet hier.
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Vgl. Sartre 1995, III.3.II, S. 664–719; Mounier 1962, S. 126.– Hinweis von Nobus hier: Nobus 2018, S. 70 Fn. 8.
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Blanchot schreibt:
„Der Mensch des Marquis de Sade negiert die Menschen, und diese Negation erfüllt sich über den Gottesbegriff.“
In: Ders.: Sade (1947). Übersetzt von Johannes Hübner. Henssel, Berlin 1986. Zuerst unter dem Titel À la rencontre de Sade. In: Les temps modernes, Heft 25, 3. Jg. (1947), S. 577-612; dann mit dem neuen Titel La raison de Sade in: Ders.: Lautréamont et Sade. Minuit, Paris 1949.
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Den Buchstaben S für das Subjekt und zugleich für das Es verwendet Lacan zuerst in Seminar 2 von 1954/55, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Version Miller/Metzger S. 310.
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Vgl. Seminar 10, Sitzung vom 13. März 1963, Version Miller/Gondek S. 217.
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S. Freud: Triebe und Triebschicksale. GW 10, S. 229.– Vgl. den Hinweis in Nobus 2017, S. 53.
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Die Formel für das Phantasma, $ ◊ a, wird von Lacan zuerst in Seminar 5 verwendet; vgl. Version Miller/Gondek S. 393 und 402.
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S. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, GW 5, S. 65.
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Das Verschwinden des Subjekts (von Lacan als „Aphanisis“ oder „Fading“ bezeichnet) als Merkmal des Phantasmas wird zuerst in Seminar 6 von 1958/59 dargestellt, Das Begehren und seine Deutung, in der Sitzung vom 4. Februar 1959. Das Verschwinden des Subjekts ist ein strukturelles Merkmal des Phantasmas; in Die Lenkung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht von 1958 (veröffentlicht 1961) wird die Formel des Phantasmas, $◊a, so gelesen: „S im fading vor dem Objekt des Begehrens“ (a.a.O., S. 132 Fn. 16).
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Zu Lacans Kant-Lektüre vgl., außer der Arbeit von Baas, Zupančič 1995 und 2001.