Mein Blick
Holzbiene, Foto von Muhammad Mahdi Karim
Der Traum von den Bienenraupen
Traumerzählung
(geträumt am 14. August 2014, zwischen 4 und 5 Uhr früh)
Ein großer Marktplatz mit Arkaden an allen vier Seiten. Wie auf einem Bild von de Chirico, denke ich im Traum. Nur ich und ein Mann sind da. Das Aussehen des Mannes ist unbestimmt; ich weiß, dass er mein Onkel ist. Kein bestimmter meiner vielen Onkel, sondern einfach mein Onkel.
Mein Onkel arbeitet auf dem Platz, ich stehe unter einer Arkade. Aus sicherer Entfernung beobachte ich ihn.
Mein Onkel macht sich an einem großen Behälter zu schaffen, der auf dem Boden steht, eine Art Papierkorb, wie sie auf den S-Bahnhöfen stehen. Der Behälter ist voller Bienen. Sie sind schwarz. Sie sehen nicht wie Bienen aus, sondern wie kleine lebendige Heizkörperbürsten, wie stark behaarte schwarze Raupen. Die Bienen-Raupen liegen in einem großen Haufen übereinander und bewegen sich langsam, wie ein Stapel Würmer. Auf den schwarzen Bienen liegt ein einzelnes helles Wesen. Es ist ebenfalls wurmartig und bewegt sich ebenfalls langsam. Das helle Wesen ist ohne Borsten. Es ist stachelbeerfarben; ich meine nicht die grünen Stachelbeeren, sondern die rosa-braunen; hautfarben könnte man sagen (diese Erläuterung ist mir peinlich).
Mein Onkel steht vor dem Korb und macht sich an den Bienen zu schaffen, mit einem Gerät, das undeutlich ist, eine Stange vielleicht.
Er bewegt sich ruhig, vorsichtig, souverän. Er ist Imker. Er ist Insektenvernichter. Hat er die Aufgabe, die Bienen zu zerstören, ähnlich wie einen Wespenschwarm?
„Was ist das?“ rufe ich meinem Onkel zu. Ich meine den hellen Wurm.
„Brut“, ruft er zurück. Ich verstehe nicht sofort, was er meint. Dann begreife ich: das ist die Brut.
Ich beobachte die Augen der Bienen. Kleine schwarze Kugeln, darüber große verzweigte Antennen, die direkt von den Kugelaugen ausgehen. Die Antennen haben ebenfalls Borsten, sie erinnern mich an Nadelbäume, an Kiefern. Ich schaue sie intensiv an.
Dann sehe ich eines der Bienenaugen ganz groß. Es hat eine Iris und vielleicht auch eine Pupille, wie das Auge eines Menschen. Die Iris hat die Farbe von Stachelbeeren, blass-gelblich gestreift. Das Bienenauge wird immer größer. Schließlich füllt es den ganzen Bildschirm aus, das ganze Sehfeld. Das Wort „Bildschirm“ drängt sich mir im Traum auf.
Ich müsste jetzt weglaufen, aber ich bin gelähmt. Angst steigt auf. Das Auge ist riesig, alles, was ich im Traum noch sehe, ist eine Iris mit blassgelben und dunklen Streifen oder einen Ausschnitt daraus. Ich kann mich nicht bewegen.
In Panik wache ich auf. Es ist fünf Uhr früh. Ich brauche eine halbe Stunde, um mich halbwegs zu beruhigen. Mein Hauptgedanke ist: warum fünf Uhr? Wenn ich nachts aufwache, dann merkwürdigerweise fast immer um vier.
Es drängt mich, den Traum aufzuschreiben. Benommen stehe ich auf, hole mein Notebook und tippe. Danach schlafe ich wieder ein. Noch dreimal wache ich auf, jedesmal mit Angst, allerdings nicht in Panik, nur mit einem kleinen Schreck. Die Träume habe ich vergessen.
Noch am Abend dieses Tages steckt mir die Angst in den Knochen. Nie hatte ich eine so lange wirkende Angst.
Das Gefühl nach dem ersten Traum war wie das bei einem sich wiederholenden Angsttraum meiner Kindheit: ein Tiger, gelbblau gestreift (oder gefleckt?), springt auf mich zu. Als er mitten im Sprung ist, wache ich auf, in Panik. Schreiend laufe ich zum Schlafzimmer meiner Eltern.
Auge und Blick im manifesten Traum
Lacan zufolge ist für den Traum charakteristisch, dass der Träumer nicht die Position dessen einnimmt, der die Bilder sieht, sondern dass „es zeigt“.1 In meinem Traum ist das anders. Im ersten Teil beruht er auf der Struktur des Auges, im zweiten auf der des Blicks (zu Auge und Blick vgl. diesen Blogartikel).
Ich stehe unter einem Bogengang und beobachte jemanden auf einem Platz. Die Szene ist begrenzt, auf allen Seiten von Arkaden umgeben. Der Ort, an dem ich stehe und von dem aus ich sehe, fungiert als Geometralpunkt. Die Arkade ermöglicht mir einen Durchblick, wie ein Fenster. Mein Onkel ist in einer bestimmten Entfernung von mir: die räumliche Distanz wird im Traum akzentuiert, ich bin in sicherem Abstand; wenn wir miteinander sprechen, müssen wir rufen.Die Bienen-Raupen liegen auf einem Haufen in einem Behälter. Ich sehe nur ein Bild (image) von ihnen, nicht die unten liegenden Bienen, nicht die, die durch die Wand des Behälters verdeckt sind. Der Traum betont die Differenz zwischen dem Bild und dem Objekt.
Das Gerät, mit dem mein Onkel hantiert, ist unklar, darin unterscheidet sich das Traumbild von einem Bild, wie es das Organ Auge im Wachzustand wahrnimmt.
Der Traum wechselt von der Ordnung des Auges zu der des Blicks. Zunächst ist das Sehorgan der Biene eine kleine schwarze Kugel; ich sehe sie, sie ist für mich ein Bild (image), das zur Ordnung des Auges gehört, des geometralen Sehens. Dann verwandelt sich das Bienenauge in etwas, das mich anstarrt, zu einem Blick (im Schema: zum Lichtpunkt). Der Blick hat hier die Gestalt einer riesigen Iris sowie eines Bildschirms, der das Sehfeld vollständig ausfüllt. Ohne Schirm bin ich dem Blick ausgesetzt, ich habe nichts, was ich ihm zu sehen geben könnte. Ich erstarre zu einem Tableau. Der Blick ruft bei mir keine Scham hervor, sondern Angst, nicht nur ein Angstsignal, sondern panische Angst. Ich werde wach: vor dem Realen fliehe ich in die Realität.Einfälle zum Traum
– 5 statt 4: Ich bin eines von 5 Geschwistern: 4 + 1. Am fünften eines Monats wurde ich geboren – zu zweit, mit einer Zwillingsschwester. Eins dazu. Für meinen Vater war klar, dass meine Zwillingsschwester der Zusatz war, nicht etwa ich, er nannte sie „Gratistochter“.
– „Bürste“, Bezeichnung für die Schambehaarung der Frau; „bürsten“: Synonym für „Geschlechtsverkehr haben“.
– „Stachelbeerfarben“: Stachelbeeren haben an den Ästen harte Stacheln, an den Früchten einen weichen Flaum. Dieser dicht nebeneinander liegende Gegensatz von stechender Härte und zarter Weichheit hat mich als Kind fasziniert, ich habe mit dem Finger darüber gestreichelt.
– „Wurm“, „Würmchen“: Als ich klein war, sagten die Leute (unsere Putzfrau?) zu einem Baby „das Wurm“.
– Bienen in einer Art Papierkorb: in einem Bienen-Korb. Wespen verarbeiten Holz mithilfe ihres Speichels zu einer Art Papierbrei – daraus besteht ein Wespennest.
– „Brut“, das ist auch das französische Wort brut, „roh“. Ich erinnere mich, wie meine Mutter das Wort auf einer Getränkeflasche liest, in deutscher Aussprache, und es mir peinlich ist.
– „Imker“: wie der Vater von S, einer früheren Freundin, er war Imker und Volksschullehrer.
– „Insektenvernichter“: Das Wort „Kammerjäger“ will mir beim Aufschreiben des Traums nicht einfallen, obwohl ich danach suche. „Das Kämmerchen“: so hieß in meiner Familie die Speisekammer. Beim Versteckspiel musste man im Kämmerchen suchen, da versteckte sich meist jemand. Kammerjäger – Schürzenjäger.
Der Behälter ist offenbar ein Mutterleib: er enthält die Würmer, die rohe Brut.
Bienen und Wespen machen mir keine Angst, wohl aber Schmetterlinge. Wenn sie auf mich zufliegen, bricht in mir die Panik aus; sie dürfen mich nicht berühren. In einer Bewegung, die ich nicht kontrollieren kann, reiße ich dann die Hände auf und die Arme hoch; was ich in der Hand hielt, fällt auf den Boden. Ich weiß, dass die Schmetterlinge mich fressen könnten; diese Vorstellung ist unwiderlegbar, ich sehe ihr Gebiss vor mir, im Film „Alien“ ist es gut getroffen. Schmetterlingskinder heißen Raupen.
Mir fällt ein, wie mir unser Gärtner zum ersten Mal eine Made zeigte und mir erklärte, was das ist. Ich fand es grausig. Den Gärtner mochte ich; er hieß „Onkel Jerabek“ (nein, kein Verwandter, sein Nachname war Jerabek).
Eine Verbindung zu den gefräßigen Schmetterlingen sind im Traum die „Kiefern“, an die mich die Antennen erinnern, sowie die fleischfarbenen Stachelbeeren, die ich als Kind im Garten direkt vom Strauch gegessen habe. Stachelbeeren konnte man ohne weiteres essen: nie hatten sie Würmer. Bei den Himbeeren, die daneben wuchsen, war das anders, fast alle hatten Maden. Gefräßig ist auch die Raupe: die kleine Raupe Nimmersatt. „… aber satt war sie noch immer nicht.“ Das Bedürfnis übernimmt die Funktion des Begehrens.
Als ich klein war, habe ich einmal, zusammen mit meinen Geschwistern und Cousinen, in der Bäckerei meines Onkels Bienen mit dem Staubsauger aufgesaugt und den Beutel im Backofen verbrannt. Noch jetzt, wenn ich mich daran erinnere, spüre ich eine entspannte warme Lust, frei von Schuldgefühl. Der Backofen war so groß, dass man hineinklettern konnte, wie in den von der Hexe im Märchen von Hänsel und Gretel.
Als mein Bruder geboren wurde (das vierte Kind meiner Eltern), war ich fünf (wieder die Fünf); dass meine Mutter schwanger war, habe ich nie wahrgenommen. Diese Blindheit hat sich lange erhalten. Erst seit ich eine Tochter habe, kann ich es zur Kenntnis nehmen, wenn der Bauch einer Frau angeschwollen ist.
Der helle Wurm auf den schwarzen Bienen-Raupen: Der Penis von Harry S. fällt mir ein, einem Klassenkameraden. Nach dem Schwimmunterricht sah ich ihn einmal nackt unter der Dusche. Sein Penis war nicht pigmentiert und deswegen merkwürdig weiß mit blauen Äderchen – wie eine Made. Ist der helle Wurm der berühmte Penis des Vaters im Körper der Mutter, den Melanie Klein beschrieben hat? Oder die Bienenkönigin? Oder beides?
Der Mann auf dem Platz ist ein unbestimmter Onkel. „Onkel“: so nannte ich als Kind alle Männer, die nicht der Vater sind. „Sag dem Onkel guten Tag.“ Allerdings ist der Mann „mein“ Onkel, nicht „ein Onkel“. Wenn alle Männer „Onkel“ sind, ist dann mein Vater „mein Onkel“? Das Gefühl, dass der Mann im Traum nicht mein Vater ist, ist unabweisbar. In vielen Gesellschaften ist der Onkel, der den Vater ersetzt, der älteste Mutterbruder. Das wäre Onkel Karl, der Bäcker. Mein Bruder sieht ihm ähnlich. Als ich klein war, hieß der große Zeh „großer Onkel“, und zwar ganz selbstverständlich, so wie einer der fünf Finger „Daumen“ genannt wird. Aha, da ist wieder die Fünf.
Bei einem Mann mit Papierkorb muss ich an die Männer von der Müllabfuhr denken und an die witzige Reklame der Berliner Stadtreinigung. Ein Plakat von einem Müllmann mit Besen fällt mir ein. Ein Feger. In meiner Wohnung hängt ein Bild mit dem Titel „Die Salonkehrer“, auf ihm sieht man drei alte nackte Männer mit Besen, Gesicht und Geschlecht verhüllt. Der Blick als Symbol der Kastration. „Fegen“ ist ein Synonym für „Vögeln“. „Mein Onkel ist ein guter Feger.“
Die kleine schwarze Kugel mit den Antennen erinnert mich an kleine schwarze Plastikteile, die ich schon öfter in Händen hatte. Die Komponenten bestehen aus einem einzigen Guss oder aus einer einzigen Pressung und sind durch dünne Plastikstege miteinander verbunden. Man trennt die Teile voneinander und setzt sie neu zusammen. Zu was? Es will mir nicht einfallen. Imaginäre Darstellung der Rekombinierbarkeit von Signifikanten.
Die Streifen der Iris ähneln den Streifen des Tigers im Albtraum meiner Kindheit. Außerdem gibt es folgende Signifikantenkette: Iris – Schwertlilie – Tiger Lily – Tiger. Dass die Iris eine Schwertlilie ist, hat mir „Onkel Jerabek“ beigebracht. Das hat mich als Kind irritiert: wie kann eine Iris gleichzeitig eine Lilie sein? Zusammenstoß mit dem Funktionieren von Signifikanten. Die Lilie, verschwundene Vermittlerin, führt mich zu Lady de Winter, die schon einmal in einem Blogartikel aufgetreten ist.
Die Zählung von fünf Kindern (ich plus vier Geschwister) ist problematisch. Meine Mutter hat sechs Kinder geboren, danach wurde eins adoptiert, macht sieben. Das erstgeborene Kind starb kurz nach der Geburt, es war Krieg. Das sechste Kind starb mit anderhalb Jahren, als ich zehn oder elf war. Es gibt also vier leibliche Kinder, die bis heute leben, zwei früh gestorbene Kinder und ein adoptiertes Kind.
Der latente Traum
Der erste Teil des Traums ist vielleicht eine Art Urszene: die Beobachtung einer sexuellen Beziehung zwischen einem anonymen Mann – nicht mein Vater, sondern „mein Onkel“ – und einem anonymen Frauenleib. Ich als der Beobachtende bin Teil der Szene. Freud hätte sich gefragt, ob die vier Arkadengänge die vier Gitterwände eines Kinderbetts sind.
Die Beziehung wird als Mordversuch aufgefasst. Aber nicht die Mutter soll ermordet werden, sondern die ungeborenen Kinder in ihrem Leib.
Der Blick, der mich im zweiten Teil des Traums anblickt, erfasst mich in diesem Begehren. Die Bedrohung, die ich durch diesen Blick erfahre, beruht auf diesem Begehren.
Mein Blick
Also richtet sich mein mörderischer Hass gegen die ungeborenen Kinder im Mutterleib.
Mein Blick auf den Bauch einer schwangeren Frau ist ein hasserfüllter, vernichtender, gefräßiger Blick. Dieser Blick wird unterdrückt. Das hat zur Folge, dass ich den Schwangerschaftsbauch ausblende, dass er skotomisiert wird. Mein verdrängter Blick kehrt wieder: als ein von außen kommender gefräßiger Blick. Im Traum ist dies der Blick der Bienenraupe, im Wachzustand kehrt der Blick wieder in der Metamorphose eines Schmetterlings. Für mich sind alle Schmetterlinge Pfauenaugen oder besser: Pfauenblicke.
Nachtrag vom 16. Januar 2015
Heute nachmittag überfiel mich die Müdigkeit. Aus kurzem Traum riss mich diese Szene:
Auf den Boden steht mein Rucksack. Ein oder zwei Gestalten greifen hinein, sie versuchen, meinen Camcorder zu stehlen. Ihre Jacken haben Kapuzen, so dass ich ihre Gesichter nicht sehen kann („Hoodies“ drängt sich mir beim Schreiben auf). Alles ist anthrazitfarben: der Rucksack, die Kamera, die Gestalten. Ich springe auf, um die Kamera zu retten. Ein Schreck durchfährt mich. Ich werde wach.
Mein erster Gedanke beim Aufwachen: anthrazitfarben wie Lisbeth Salander in dem Film Verblendung, in der schwedischen Fassung von 2009, die ich vor ein paar Tagen gesehen habe. Lisbeth stellt einen Rucksack in eben dieser Farbe auf den Boden. Mit der Videokamera, die darin versteckt ist, filmt sie, wie sie vergewaltigt wird, so dass sie ihren Vergewaltiger später erpressen kann. Ihre finstere Entschlossenheit hatte mich fasziniert.
Das also ist in meinem Traum das Auge als Objekt a: ein Kamera-Auge, wie es aus einer Tasche herausgerissen wird. Bei „Hoodie“ denke ich an Vorhaut und an das Plakat „Haut/ab“, Werbung für eine Ausstellung über Beschneidung im Jüdischen Museum; das Wortspiel hatte mir gefallen.
Das Objekt a ist ein Phallus-Symbol, das Herausreißen des Kamera-Auges eine Metapher für die Kastration, der Schrägstrich zwischen „Haut“ und „ab“ ist der Schnitt. Der Schreck, der mich aufwachen ließ, schützte mich vor der Kastrationsangst.